Der gelbe Elefant (eBook)

Spiegel-Bestseller
'Die neuen Texte des Bestsellerautors sind der Hit.' Hamburger Abendblatt

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
208 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01643-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der gelbe Elefant -  Heinz Strunk
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Die Welt von Heinz Strunk ist der unseren in vielem ähnlich. Aber im Alltäglichen lauern hier immer Überraschung, Wunder, Grauen. Die Geschichten in diesem Buch erzählen von einer Seniorenorganisation namens «Freiwillig über die Klippe» und von einem Autoausflug in die Prähistorie. Ein Experte erlebt in der Sendung von Markus Lanz seinen Höllensturz, ein Bauer in der Großstadt und ein Tourist bei der Thai-Massage am Strand. Manche der Texte klingen wie Zeitungsreportagen, manche wie Schauergeschichten, manche sind in Briefform, eine hat gar Bulletpoints. Aber immer sind sie originell, komisch, drastisch und unverwechselbar Heinz Strunk.

Der Schriftsteller, Musiker und Schauspieler Heinz Strunk wurde 1962 in Bevensen geboren. Seit seinem ersten Roman Fleisch ist mein Gemüse hat er 14 weitere Bücher veröffentlicht. Der goldene Handschuh stand monatelang auf der Bestsellerliste; die Verfilmung durch Fatih Akin lief im Wettbewerb der Berlinale. 2016 wurde der Autor mit dem Wilhelm Raabe-Literaturpreis geehrt. Seine Romane Es ist immer so schön mit dir und Ein Sommer in Niendorf waren für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Der Schriftsteller, Musiker und Schauspieler Heinz Strunk wurde 1962 in Bevensen geboren. Seit seinem ersten Roman «Fleisch ist mein Gemüse» hat er 14 weitere Bücher veröffentlicht. «Der goldene Handschuh» stand monatelang auf der Bestsellerliste; die Verfilmung durch Fatih Akin lief im Wettbewerb der Berlinale. 2016 wurde der Autor mit dem Wilhelm Raabe-Literaturpreis geehrt. Seine Romane «Es ist immer so schön mit dir» und «Ein Sommer in Niendorf» waren für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Bombenexperten


Morgens hat es geregnet, dann sind die Temperaturen wieder unter null gefallen. Überfrierende Nässe. Da sich Sonja beharrlich weigert, Winterreifen aufzuziehen, müssen sie vorsichtig fahren.

«Wie viele Leute kommen eigentlich», fragt er beim Aussteigen.

«Keine Ahnung, schätze mal zwanzig, allerhöchstens.»

Sonjas Eltern leben in einer Villengegend bei Braunschweig. Genauer gesagt in der Schmalspurausgabe einer Villengegend. Viele der Gründerzeitgebäude sind akut renovierungsbedürftig, halb verfallen, mit verwahrlosten Gärten, Garagen ohne Tor, defekten Geräteschuppen. Es wird nichts mehr gemacht, weil es sich nicht mehr lohnt. Müde, matt, marode, krank. Die Bewohner sind alt und baufällig wie ihre Behausungen. Sollen sich die Erben bei Interesse später einmal kümmern. Allerdings ist schon seit vielen Jahren keiner unter dreißig zugezogen. Über dreißig auch keiner, es ist überhaupt niemand zugezogen. Das Viertel ist abgeriegelt, Pfropfen drauf, versiegelt, verkorkt, verschimmelt. Niemand kommt rein und raus nur mit den Beinen zuerst. In zehn, spätestens fünfzehn Jahren stehen die Häuser leer wie Plattenbauten im Osten. Es liegt was in der Luft, ein ganz besonderer Duft, nach Verbänden und Furunkeln, nach Salben, zerbröselten Tabletten, vergammelten Waschlappen und schmuddeliger Wäsche.

 

Das Innenleben der dreigeschossigen Wagner-Villa besteht aus Treppen, Treppen und nochmals Treppen. Dutzende, Hunderte, mit Tausenden von Stufen. Dreißig in den ersten Stock, fünfundzwanzig in den zweiten, fünfundfünfzig zurück ins Erdgeschoss und vierzehneinhalb in den Keller. Das Haus eine einzige Stolperfalle, das Sturzrisiko beträgt einhundert Prozent.

Die beiden Alten sind nach Herrn Wagners Oberschenkelhalsbruch ins Erdgeschoss gezogen, neben der Küche hat Frau Wagner ein zweites, behindertengerechtes Bad installieren lassen. Durch den Umbau hat das Parterre jetzt statt zweihundert nicht nutzbarer Winkel dreihundertfünfzig. Statt Treppen Winkel, Winkel statt Treppen. Herr Wagner schläft nun also im ehemaligen Esszimmer, Frau Wagner in einer Art Rumpel-/Speisekammer im Durchgang zum Keller. So ganz alleine in den oberen Stockwerken würde sie sich fürchten. Ganz oben, in der Endetage, war schon ewig keiner mehr. Wer weiß, ob es die überhaupt noch gibt, vielleicht wurde sie von emsigen Zwergen heimlich abgetragen, so ein großes Haus birgt viele Geheimnisse.

Als hätte sie sich ihrem immer stärker verbauten Schneckengehäuse angepasst, ist Frau Wagner seit dem letzten Besuch zu Weihnachten noch mal kleiner geworden, eine bis zur Winzigkeit geschrumpfte, schlumpfige Frau. Man kann sie nur ganz sachte umarmen, denn wenn man nur eine Spur zu fest drückt, zerspringt sie in tausend Teile.

Der Jubilar sitzt wie eingefroren in seinem Lieblingssessel, die acht Gäste im Halbkreis um ihn herum. Bei der goldenen Hochzeit vor zwölf Jahren waren es noch neunzig Gäste, die Villa platzte aus allen Nähten. Nur noch acht von neunzig, wie schnell das geht, der letzte Rest vom Schützenfest. Die acht Gäste sind Freunde, Wegbegleiter und Nachbarn. Die anderen Verwandten sind alle tot.

Herr Wagner sieht in seinem zu groß gewordenen Jackett aus wie ein Vogel der fluguntüchtigen Sorte. Seine Gesichtshaut ist vollkommen farblos, die dünn gewordene Nasenspitze wirkt wie die eines Toten. Er ist so dürr und ausgemergelt, dass überall Knochen seine Haut zu durchstoßen drohen. Seine arthritischen Hände sind eigenartig ineinander verklammert, die wenigen Haare stehen in wilden, verklebten Büscheln ab, Wasser im Knie und Salzlager in den Gelenken. Man hört schon von Weitem, wenn er sich nähert, alles knirscht. Sonja überreicht ihm, so ist es mit der Mutter abgesprochen, einen Topf mit einer Sonnenblume. Das Rasierset wurde aus Sicherheitsgründen verworfen, Herr Wagner rasiert sich nur noch elektrisch.

«Ach wie schön, danke, mein Schatz.»

«Bitte, Papa.»

«Na, mein Junge.» So nennt er den Schwiegersohn in spe. «Wie geht es dir? Was macht die Arbeit?»

Die Frage ist eine Art Höflichkeitsrest, der seine gesamte Energie verbraucht.

«Och, ganz gut so weit.»

«Wie war die Fahrt? Seid ihr gut durchgekommen?», setzt Frau Wagner nach.

«Einmal war kurz Stau aufgrund einer Lkw-Bergung, und wir mussten vorsichtig fahren wegen der Glätte, aber sonst ging’s.»

«Da bin ich ja beruhigt. Ihr habt doch immer so viel zu tun.»

Die Gäste starren unbeteiligt auf ihre Teller und warten darauf, dass die Neuankömmlinge ihre Plätze einnehmen. Wie das Männlein im Walde, ganz still und stumm, kein Husten, kein Rasseln, kein Rascheln, kein Nichts. So leise wie das Kratzen eines Ameisenfußes, das Raspeln von Schmetterlingszähnen, das Rieseln von Staub. Die Alten haben wirklich einen entscheidenden Vorteil: Sie machen keinen Lärm mehr.

Das Drei-Gänge-Menü, Suppe, Rinderbraten mit Saisongemüse und Kartoffelkroketten, zum Nachtisch Vanilleeis mit roter Grütze, wurde von einem Restaurant geliefert. Herr Wagner starrt hilflos auf seine XXL-Rinderbrühe, in der unendlich viele Markklößchen schwimmen.

«Nun iss doch, Rudolf.»

«Noch zu heiß.»

Er wird die Suppe nie schaffen, und die Suppe weiß es bereits.

Manchmal, sagt Frau Wagner, isst er den ganzen Tag nichts. Selbst die geliebte Vollmilchnussschokolade verschmäht er.

«Das mit den Lkws wird immer schlimmer, die fahren jetzt durch die Weusthoffstraße, seitdem die B4 gesperrt ist.»

Sagt Waltraud Pingel, Tante Trautchen, genannt Tanti. Tanti ist eine Schulfreundin von Frau Wagner und wohnt ein paar Häuser weiter. Sie sieht mit beinahe achtzig aus wie höchstens Ende sechzig, eine richtige Lady, mit der kerzengeraden Haltung einer ehemaligen Ballerina, im weizenblonden Haar keine einzige graue Strähne.

«Ja, furchtbar ist das. Dabei dürfen die im Wohngebiet gar nicht fahren.»

Meint Roswitha, ebenfalls zum Kreis der Schulfreundinnen zählend. Roswitha hat sich im Unterschied zu Tanti schlecht gehalten, sehr schlecht sogar, «Tanti» würde viel besser zu ihr passen. Roswitha ist viereckig und zerzaust, sie sieht aus wie ein geplatzter Schwamm. Sie hatte sehr früh geheiratet, war dann fünfzig Jahre in der Gruft ihrer Familie verschwunden, aus der sie erst vor Kurzem, nach dem Tod ihres Mannes, wieder aufgetaucht ist.

Tanti erzählt, dass sie, obwohl siebenundvierzig Jahre unfallfrei unterwegs gewesen, freiwillig ihren Führerschein abgegeben habe. Man müsse schließlich mit gutem Beispiel vorangehen, außerdem sollte man wissen, wann Schluss sei. Eben genau jetzt, bevor wirklich etwas passiert. Wäre doch jammerschade, die makellose Bilanz eines erfolgreichen Autofahrerlebens durch eine Konzentrationsschwäche zu beflecken.

Und was ist mit dir, fragt sie Roswitha. Die gibt an, ihren Führerschein zwar noch zu besitzen, aber nur noch selten zu benutzen. Nur noch zum Einkaufen oder wenn sie etwas zur Post bringt. In der Stadt fährt sie nicht mehr, auf Autobahnen sowieso nicht. Zur Post gehen/fahren ist eine Lieblingsbeschäftigung alter Menschen, ein Überbleibsel vergangener Tage, als man wöchentlich Pakete in die DDR schickte. Rein in die Schluppenbluse, ab zur Post.

«Und was ist mit deinem Auto, Helmut?»

«Wie?»

Helmut aus dem fünfzehn Kilometer entfernten Wolfenbüttel, der einzige auswärtige Gast, ist dick. Richtig dick. Seine Körpermasse verteilt sich im Sessel wie in einer Badewanne. Vielleicht ist das aber auch eine optische Täuschung, vielleicht sitzt er in gar keinem Sessel, sondern ist in der Hocke und hat den Ellenbogen auf dem Tisch.

«Dein Auto!»

«Was soll mit meinem Auto sein?»

Die Worte scheinen sich zu verlangsamen, kaum haben sie seinen großen Mund verlassen. Seine Zähne, unregelmäßig verfärbt wie Ziermais, passen zu den gelbstichigen Haaren.

«Steht das noch da?»

«In der Garage?»

«Ja, in der Garage.»

«Sicher steht das noch da.»

«Und fährst du auch noch?»

Helmut guckt entsetzt.

«Nein, nein. Ich bin mit dem Taxi gekommen.» Schwer atmend lehnt er sich zurück und zupft am Revers seines güllefarbenen Anzugs. In den siebziger Jahren war diese Farbe modern. Wie Russischgrün, Rostrot, Senfgelb, Cognac.

Das Gespräch rumpelt und hoppelt und wackelt und brockelt und prokelt vor sich hin. Die Sätze hängen träge in der Luft, bevor sie in ihre einzelnen Worte zerfallen. Es geht viel um Straßenverkehr. Der Gestank, die vielen Geisterbaustellen, die Raser, der drohende Verkehrsinfarkt, die immer stärker motorisierten modernen Autos. Und: Wer noch wann aus welchen Gründen seinen Führerschein abzugeben gedenkt. Roswitha verstrickt sich in Verschwörungstheorien zum Thema Elektroautos. Ihr leicht geröteter, faltiger Hals bläht sich auf, der kleine Körper gerät in Schwingung, sie bebt. Roswitha bringt den Energiehaushalt der Runde durcheinander.

«Lass mal, das können wir doch alle nicht beurteilen.»

Tanti schaut Roswitha streng an, Roswitha verstummt. Zum einen hat Tanti die Hosen an, zum anderen hat Roswitha sich sichtlich verausgabt. Auf ihrer Stirn stehen dicke Schweißperlen, und bei jedem Ein- und Ausatmen dringt ein Pfeifen aus ihren Lungen, ein Fiepen wie von einem Welpen. So, Ruhe jetzt, Schicht im Schacht. Herr Wagner interessiert sich sowieso nur noch für Helmuts Hund Lilly, eine putzige kleine Promenadenmischung. Lilly legt den Kopf schief und bettelt.

«Nein, das ist nicht für dich, Lilly», sagt Herr...

Erscheint lt. Verlag 13.6.2023
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bestseller-Autor • Das Teemännchen • Der goldene Handschuh • Deutsche Gegenwartsliteratur • Deutsche Literatur • Ein Sommer in Niendorf • Erzählband • Erzählungen • Es ist immer so schön mit dir • Fleisch ist mein Gemüse • Hamburg • Hamburger Schriftsteller • Horror • Humor • humorvolle Bücher • kurzer Roman • Kurzgeschichten • Longlist Deutscher Buchpreis 2022 • Neuerscheinung 2023 • Rocko Schamoni • Satire • Short Stories • Studio Braun
ISBN-10 3-644-01643-7 / 3644016437
ISBN-13 978-3-644-01643-9 / 9783644016439
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