MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken - 1/2023 (eBook)

Nr. 884, Heft 1, Januar 2023
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
104 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12168-1 (ISBN)

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MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken - 1/2023 -
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Im Januar-Heft des Merkur gibt Till Breyer den immer akuten Fragen des Asyls ihre (theorie)historische Tiefendimension und sucht dabei nach 'Figuren der Schwelle zwischen Territorium und Asyl, zwischen dem Eigenen und dem Gemeinsamen'. Den vierten Teil seiner 'Homestorys', die nach dem Wohnen und den Bildern vom Wohnen fragen, hat Christian Demand mit 'Behaglichkeit' überschrieben: Es geht vor allem um Bücher in Zimmern. In 'Testfall Thüringen' lässt Patrick Bahners noch einmal die Causa Kemmerich Revue passieren. In seiner Philosophiekolumne verfolgt Gunnar Hindrichs die Frage nach dem 'Sozialneid' mit Abstechern unter anderem zu Marxismus und Ernst Bloch bis zu Thomas von Aquin zurück. Andreas Eckert liest Bücher zu Bernhard Grzimek und dem von ihm vermittelten Afrikabild sowie zur bundesdeutschen Entwicklungspolitik. Wie sehr die Vorstellungen von 'Komfort' (was ihn ausmacht, was sich scheinbar von selbst versteht) historischen Wandlungen unterworfen sind, führt Angelika Schwarz vor Augen. Felix Ackermann schreibt über das Grenzgebiet bei der polnischen Stadt Suwa?ki, in dem Polen, Litauen und Russland aneinanderstoßen. In seinem Buch Der Kapitalismus in der Gelehrtenwelt hat Adolf Mayer schon 1882 auf Probleme der Universitätsorganisation hingewiesen, die bis heute, wie Jens Soentgen feststellt, sehr aktuell wirken. Günter Hack begegnet einem lädierten Flusskrebs, und Sibylle Severus erinnert sich an Begegnungen mit dem Fußball. In seiner Schlusskolumne beschäftigt sich David Gugerli mit der Frage, wie die Menschheit den Überblick über das Gedränge in erdnahen Umlaufbahnen behält.

Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.

Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.

Beiträge

DOI 10.21706/mr-77-1-5

Till Breyer

Asyl als Schwelle


Historische Skizze zu einem politischen Begriff

Im Lauf der letzten Jahre ist den multiplen Krisenbefunden der Gegenwart der Begriff »Asylkrise« beigefügt worden, der dem Blick auf vermeintliche »Flüchtlingswellen« die Frage nach der Leistungsfähigkeit und der Fairness staatlicher Institutionen zur Seite stellt. Dem Begriff der Asylkrise könnte aber auch eine allgemeinere historische Triftigkeit zukommen: Wäre es möglich, dass das Asylrecht selbst, so wie es nach dem Zweiten Weltkrieg konzipiert und institutionalisiert wurde, in eine Krise gerät und letztlich nicht mehr zeitgemäß ist? Diese Frage wurde etwa von dem marxistischen Historiker Simon Behrman aufgeworfen. Ihm zufolge sei das Problem vieler Asylsuchender nicht ein Zuwenig, sondern ein Zuviel an Recht, ein Zuwenig aber an gesellschaftlich-politischen, wenn nötig subversiven Praktiken der Gastfreundschaft. »[T]he reach of law«, so Behrman, »has been extended over ever larger groups of those fleeing persecution, allowing the law the final say on whether their claim for asylum is legitimate or not.«1 Diese Frage gewinnt noch an Relevanz, führt man sich vor Augen, dass das moderne, auf der Genfer Flüchtlingskonvention basierende Asylrecht auf die individuelle Zuschreibung des Flüchtlingsstatus und das Verfahren der Einzelfallprüfung ausgelegt ist, während die gegenwärtigen Krisen zunehmend mit regionalen Destabilisierungen einhergehen, in denen politische, wirtschaftliche und in Zukunft wohl auch klimatische Fluchtursachen kaum noch unterscheidbar sind.2

Die Kritik am Asylsystem, die sich gegen die in den Asylbegriff eingeschriebene Asymmetrie (der Souverän »gibt« Asyl) und gegen die Verrechtlichung eines ursprünglich politischen Prinzips richtet, rührt an ein Spektrum offener Fragen, die in den institutionellen und bürokratischen Formen des Asylrechts gleichsam verknöchert sind. Dass sie heute neu gestellt werden müssen, folgt nicht nur und nicht in erster Linie aus akademischen Debattenbeiträgen, sondern schon aus den jüngsten Zäsuren der Asylpraxis selbst: Beispiele wie die als »Sommer der Migration« bekanntgewordene Situation des Jahres 2015, als knapp eine Million Geflüchtete (unter Umgehung der Dublin-Regelung) in Deutschland einreisen durften, oder die Aktivierung der EU-Massenzustrom-Richtlinie im Februar 2022, die Einreisende aus der Ukraine kollektiv als Kriegsflüchtlinge einzustufen erlaubte, zeigen, dass das Asyl heute vermehrt als politisches Verhältnis hervortritt und faktisch kaum noch auf eine behördliche Alltagspraxis reduziert werden kann. Dasselbe gilt freilich für die neuen kontrollstaatlichen Verknöcherungen der Festung Europa, die sich im krassen Kontrast zu den politischen Gesten des Aufnehmens in Hochsicherheitstrakten, Stacheldrahtzäunen und menschenrechtlich hochproblematischen internationalen Kooperationen manifestieren. Darin also bestünde das dialektische Symptom der Asylkrise: Das Rechtliche am Asylrecht driftet auseinander in einen exekutiven Entscheidungsraum auf der einen, in polizeiliche und sicherheitstechnische Kontrollräume auf der anderen Seite.

In dieser doppelten Drift taucht ein älterer Problembezug wieder auf, der lange vor der Formulierung der Genfer Flüchtlingskonvention bereits eng mit dem Asylbegriff verbunden war. Er betrifft das Verhältnis des Asyls zum Raum, das heißt zur Frage, wo genau – an welchem Ort, in welchem Territorium – die Beziehung zwischen den Ankommenden und den Aufnehmenden sich manifestieren kann. Derzeit lässt sich beobachten, wie diese Raumdimension des Asyls in den Vordergrund der Asyldebatten und der entsprechenden politischen Entscheidungen tritt. Bereits in der Krisensituation von 2015 war es weniger eine Rechtsfrage als die Frage des konkreten Aufenthaltsorts Hunderttausender bereits in Ungarn angelangter Geflüchteter, die zu der politischen Entscheidung führte, »das Gebiet der Bundesrepublik als Raum zum Gewinn von Zeit zu nutzen«.3

Noch enger ist das ukrainische Exil mit der Dimension des Raums verbunden: Es hat sich gezeigt, dass Putins Angriffskrieg – anders als etwa die maßgeblich von den USA geführten Kriege im Nahen Osten – auf eine territoriale Ausdehnung zielt, die das Staatsterritorium der Ukraine als solches bedroht. Die Fluchtbewegungen aus der Ukraine vollziehen sich deshalb nicht einfach zwischen zwei gegebenen, stabilen Räumen, sondern führen von einem Raum, dessen Integrität insgesamt angegriffen wird, zu anderen Räumen, die dem ersten benachbart sind und gleichsam als Ausweichräume fungieren können. Auf der anderen, repressiven Seite der europäischen Migrationspolitik tritt die Dimension des Raums ebenfalls in neuer Weise hervor. Hotspot-Lager wie das neue, mit EU-Mitteln errichtete Internierungslager auf Samos, hochgerüstete Grenzübergänge wie in Melilla und rechtsfreie Niemandsländer wie jenes an der polnisch-belarussischen Grenze bilden eine gespenstische Topografie, deren Funktion es ist, die Bewegung im Raum für bestimmte Menschen zu unterbinden.

Historisch ist die Frage, welche Räume Flüchtlingen, Verfolgten oder Vertriebenen zu öffnen oder zu verschließen sind und an welchen Orten sich die Praxis des Asyls entfalten soll, eng mit dem Asylbegriff verbunden. Die folgende Skizze dieses Zusammenhangs setzt im 17. Jahrhundert an. Bestimmte sozial- und ideengeschichtliche Elemente des frühneuzeitlichen Asylrechts können zu einer politischen Perspektive beitragen, die dem sich intensivierenden Zusammenspiel von hyper-territorialization und remote border control eine Konzeption zugänglicher und gemeinsamer Räume entgegensetzt.4

Denn historisch ist der Asylbegriff eng mit dem Anspruch verbunden, politisch-rechtliche Ordnungen mit einer Schwelle zu versehen, die sie auch jenseits der Entscheidungsmacht eines Souveräns für Fremde oder Notleidende zugänglich hält. Wenn das moderne Asylrecht seit dem 19. Jahrhundert, wie der Historiker Karl Härter schreibt,5 »im Vergleich zur Vielfalt der frühneuzeitlichen Asyle eine deutliche Einschränkung« darstellt, so lassen sich aus dem historischen Blick auf diese vormodernen Formen zwar für die Gegenwart keine Lösungen ableiten, wohl aber lässt sich eine Geschichte vergangener Manifestationen und Deutungsansprüche des Asyls rekonstruieren, die eine kritische Perspektive auf das Verhältnis von Asyl und Raum schärfen kann.

Das aus dem Frühmittelalter stammende Asylrecht, das jus asyli, war kein subjektives Recht eines Flüchtlings oder Verfolgten. Vielmehr handelte es sich um ein strafrechtsbezogenes Privileg, über das bestimmte Orte wie Kirchen, Friedhöfe, Klöster, aber auch bestimmte Gutshöfe, Dörfer oder ganze Reichsstädte verfügten.6 Diese Orte waren von der territorialen Rechtsprechung, von der sie umgeben waren, ein Stück weit ausgenommen. Sie beanspruchten das Recht, Flüchtlinge oder Verfolgte, derer die Obrigkeit habhaft werden wollte, bei sich aufzunehmen und zumindest eine Zeitlang vor einem gewaltsamen Zugriff zu schützen. Die Motivation dieser oftmals konfliktreichen und mitunter kostspieligen Aufnahmepraxis, auf die meist vehement gepocht wurde, ist komplex und lässt sich nicht an einem eindeutigen, etwa ökonomischen Nutzen für die Asylgeber festmachen. Zentral scheint aber gewesen zu sein, dass eine Verletzung des Asylrechts als Missachtung des eigenen Machtbereichs oder des eigenen, altehrwürdigen Privilegs empfunden wurde. Wie der Rechtshistoriker Bas Schotel schreibt, lautete das Prinzip des jus asyli üblicherweise: »Don’t touch my refugee.«7

Ursprünglich scheint das sakrale Recht des Asyls dabei mit der Entstehung des Rechts selbst zusammenzuhängen. Bereits in den Chroniken und Geschichtsbüchern der Frühen Neuzeit wird auf die alttestamentarische Darstellung verwiesen, der zufolge die sechs Levitenstädte der Hebräer »Asyle« beziehungsweise »Freyungen« waren, in die sich Totschläger, die ihre Missetat ohne bewusste Absicht verübt hatten, flüchten konnten, um der Rache zu entgehen, die von den Anverwandten des Erschlagenen zu befürchten war.8 Als Ort einer Vermittlung, die in Verkettungen von Gewalt und Rache interveniert, repräsentieren diese Städte letztlich das Prinzip des Rechts selbst.

Seit dem Mittelalter hat sich diese intervenierende Funktion des Asyls, die mehr und ...

Erscheint lt. Verlag 22.12.2022
Reihe/Serie MERKUR
MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Debatte • Essay • Geschichte • Gesellschaft • Kultur • Kunst • Politik
ISBN-10 3-608-12168-4 / 3608121684
ISBN-13 978-3-608-12168-1 / 9783608121681
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