Empusion -  Olga Tokarczuk

Empusion (eBook)

Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
384 Seiten
Kampa Verlag
978-3-311-70405-8 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
18,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
September 1913, Görbersdorf in Niederschlesien. Inmitten von Bergen steht seit einem halben Jahrhundert das erste Sanatorium für Lungenkrankheiten. Mieczys?aw Wojnicz, Ingenieurstudent aus Lemberg, hofft, dass eine neuartige Behandlung und die kristallklare Luft des Kurorts seine Krankheit aufhalten, wenn nicht gar heilen werden. Die Diagnose allerdings gibt nur wenig Anlass zur Hoffnung: Schwindsucht. Mieczys?aw steigt in einem Gästehaus für Männer ab. Kranke aus ganz Europa versammeln sich dort, und wie auf Thomas Manns Zauberberg diskutieren und philosophieren sie unermüdlich miteinander - mit Vorliebe bei einem Gläschen Likör mit dem klingenden Namen »Schwärmerei«. Drängende Fragen treiben die Herren um: Wird es Krieg geben in Europa? Welche Staatsform ist die beste? Aber auch vermeintlich weniger drängende: Ob Dämonen existieren zum Beispiel oder ob man einem Text anmerkt, wer ihn verfasst hat - eine Frau oder ein Mann? Und mit der »Frauenfrage« befasst sich diese Herrenriege besonders gern. Auch bietet die kleine Welt von Görbersdorf reichlich Gesprächsstoff: Am Tag nach Mieczys?aws Ankunft hat die Frau des Pensionswirts Selbstmord begangen. Überhaupt komme es häufig zu mysteriösen Todesfällen in den Bergen ringsum, heißt es. Was Mieczys?aw nicht weiß: Dunkle Mächte haben es auch auf ihn abgesehen.

Olga Tokarczuk, 1962 im polnischen Sulechów geboren, studierte Psychologie in Warschau und lebt heute in Breslau. Ihr Werk (bislang neun Romane und drei Erzählbände) wurde in 37 Sprachen übersetzt. 2019 wurde sie mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Für Die Jakobsbücher, in Polen ein Bestseller, wurde sie 2015 (zum zweiten Mal in ihrer Laufbahn) mit dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, dem Nike-Preis, geehrt und 2018 mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis. Im selben Jahr gewann sie außerdem den Man Booker International Prize für Unrast. Zum Schreiben zieht Olga Tokarczuk sich in ein abgeschiedenes Berghäuschen an der polnisch-tschechischen Grenze zurück.

Olga Tokarczuk, 1962 im polnischen Sulechów geboren, studierte Psychologie in Warschau und lebt heute in Breslau. Ihr Werk (bislang neun Romane und drei Erzählbände) wurde in 37 Sprachen übersetzt. 2019 wurde sie mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Für Die Jakobsbücher, in Polen ein Bestseller, wurde sie 2015 (zum zweiten Mal in ihrer Laufbahn) mit dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, dem Nike-Preis, geehrt und 2018 mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis. Im selben Jahr gewann sie außerdem den Man Booker International Prize für Unrast. Zum Schreiben zieht Olga Tokarczuk sich in ein abgeschiedenes Berghäuschen an der polnisch-tschechischen Grenze zurück.

1 Das Gästehaus für Herren


Die Rauchwolken der Dampflokomotive, die über den Bahnsteig quellen, verdecken die Sicht. Man muss durch sie hindurchschauen, sich einen Moment lang von dem grauen Dunst blenden lassen, bis der Blick nach dieser Prüfung sich geschärft hat, durchdringend geworden ist, allsehend.

Jetzt erkennen wir die Bahnsteigplatten, Quadrate, zwischen denen die Halme kärglicher Pflänzchen wachsen – eine Fläche, die um jeden Preis ihre Ordnung und Symmetrie bewahren möchte.

Und sogleich erscheint ein linker Schuh, aus braunem Leder, nicht mehr ganz neu, der rechte gesellt sich dazu; er scheint noch etwas ärger mitgenommen – die Spitze abgewetzt, an einigen Stellen sind helle Flecken zu sehen. Einen Augenblick stehen die Schuhe reglos, dann bewegt sich der linke nach vorn. Unter dem Hosenbein wird ein schwarzer Baumwollstrumpf sichtbar. Und schwarz sind auch die Schöße des offenen Mantels aus Wollstoff; es ist ein warmer Tag. Eine zierliche Hand, blass und blutleer, hält einen braunen Lederkoffer, die Anstrengung lässt die Adern hervortreten, die auf ihre Quellen verweisen, tief im Innern der Ärmel. Unter dem Mantel blitzt ein Flanelljackett auf, nicht eben der besten Sorte, zudem zerknittert von der langen Reise. Helle Punkte einer nicht näher zu bestimmenden Verschmutzung sind zu erkennen – Spelzen der Welt. Der weiße, abknöpfbare Kragen wurde offenbar vor Kurzem erst gewechselt, sein Weiß wirkt frischer als das Weiß des Hemdes, es kontrastiert auch mit dem erdigen Teint der Gestalt. Die hellen Augen, Brauen und Wimpern lassen das Gesicht ungesund erscheinen. Vor dem kräftigen Rot des Himmels im Westen macht die ganze Erscheinung einen beunruhigenden Eindruck. Als wäre sie aus dem Jenseits in diese melancholischen Berge gekommen.

 

Zusammen mit den anderen, die hier ausgestiegen sind, begibt sich die Gestalt in Richtung der Halle, die erstaunliche Ausmaße aufweist für eine Bahnstation in dieser Berggegend; im Unterschied zu den übrigen Reisenden aber geht die Person langsam, ja mit geradezu trägen Schritten, auch ist sie die Einzige, die von niemandem begrüßt wird. Niemand ist gekommen, diesen Menschen zu empfangen. Er stellt den Koffer auf den lädierten Fliesenboden und zieht gefütterte Handschuhe an. Die eine Hand, zum Trichter geschlossen, bewegt sich an den Mund, um eine Serie kurzer, trockener Hustenstöße entgegenzunehmen.

Der junge Mann beugt sich vor, sucht in der Hosentasche ein Schnupftuch. Für einen Moment berühren die Finger die Stelle, wo sich unter dem Mantelstoff der Reisepass verbirgt. Wenn wir uns für einen Augenblick konzentrieren, erkennen wir die phantasievoll geschwungene Handschrift eines galizischen Beamten, der die Rubriken des Dokuments ausgefüllt hat: Mieczysław Wojnicz, Katholik, Student des Lemberger Polytechnikums, geboren 1889, Augen: blau, Größe: mittelgroß, Gesicht: länglich, Haare: blond.

Jener Wojnicz nun durchquert die Halle des Bahnhofs in Dittersbach, das unweit von Waldenburg gelegen ist. Und während er unsicher durch das hohe, düstere Gebäude geht, auf dessen höchsten Gesimsen gewiss ein Echo wohnt, spürt er, wie ihn aufmerksame Augen aus den Kassenschaltern im Warteraum mustern. Er wirft einen Blick auf die große Uhr – es ist schon spät, dies war der letzte Zug aus Breslau. Einen Moment noch zögert er, dann tritt er vor das Bahnhofsgebäude, wo ihn die mächtige Umarmung des unregelmäßigen Gebirgshorizonts erwartet.

Mitte September – der Ankömmling bemerkt es mit Erstaunen – ist hier der Sommer längst vorbei. Die ersten welken Blätter liegen auf der Erde. Auch müssen die letzten Tage regnerisch gewesen sein, ein leichter Nebeldunst schmiegt sich noch an die Landschaft, nur die dunklen Linien der Bäche bleiben ausgespart. Der Reisende spürt in den Lungen, dass er in der Höhe ist, seinem von der Krankheit ausgezehrten Körper wird es guttun. Wojnicz steht auf den Stufen vor dem Bahnhof, betrachtet zweifelnd seine Schuhe mit den dünnen Ledersohlen – er wird sich um Winterschuhe kümmern müssen. In Lemberg blühen noch die Astern und Zinnien, niemand denkt dort an den Herbst. Hier aber lässt die hohe Linie des Horizonts alles dunkler erscheinen, und die Farben wirken greller, ja fast vulgär. Eine wohlbekannte Melancholie erfasst ihn, die Schwermut der Menschen, die um ihr baldiges Lebensende wissen. Die Welt, die ihn umgibt, er spürt es, ist Dekoration, bemaltes Papier, den Finger könnte er hineinbohren in diese monumentale Landschaft, ein Loch reißen, das ins Nichts führt. Und dieses Nichts würde herauszuströmen beginnen, gleich einer Flut, die am Ende auch ihm bis an die Kehle stiege. Er muss den Kopf schütteln, um die Vorstellung loszuwerden. Das Bild zerspringt in kleine Tropfen, die auf die Blätter fallen. Zum Glück holpert ihm jetzt über den Weg ein Gefährt entgegen, das an eine Britschka erinnert. Auf dem Bock sitzt ein schlanker, sommersprossiger Bursche, seltsam ausstaffiert. Er trägt eine Art Uniformjacke schwer bestimmbarer Herkunft. Nichts Preußisches, was in dieser Gegend verständlich wäre, aber auch nicht so recht von einer anderen Armee. Dazu ein Schiffchen, das er sich verwegen schief auf den Kopf gestülpt hat. Wortlos zügelt er vor Wojnicz die Pferde, steigt ab, nimmt wortlos Wojniczens Gepäck.

»Wie geht es denn, guter Mann?«, fragt Wojnicz höflich in korrektem Schuldeutsch. Doch auf eine Antwort wartet er vergeblich. Der Bursche zieht sich nur das Schiffchen fast über die Augen, deutet ungeduldig auf die Britschka.

Und sogleich geht es los. Zuerst über das Kopfsteinpflaster des Städtchens, dann über einen Weg, der sich in der hereinbrechenden Dunkelheit zwischen steilen Hängen durch einen Wald windet. Unablässig begleitet sie das Rauschen eines nahen Baches. Und der Geruch. Ein Arom, das Wojnicz immer beunruhigt hat: feuchter Humus, verwesende Blätter, ewig nasse Steine, Wasser. Er versucht, den Fuhrmann etwas zu fragen, mit ihm in ein Gespräch zu kommen – wie lange sie fahren werden, wie er ihn erkannt hat auf dem Bahnhof, wie er heißt. Doch der Bursche schaut sich nicht einmal um und schweigt. Die Kutschenlaterne zu seiner Rechten bescheint die Hälfte seines Gesichts, das im Profil an einen Nager der Berge erinnert, ja an ein Murmeltier, und Wojnicz denkt sich, dass der Bursche entweder taub sein müsse oder schlicht ungehobelt bis zur Unverschämtheit.

Nach drei Viertelstunden endlich tauchen sie wieder aus den Schatten des Waldes und fahren in ein unerwartet flaches Tal, eine solche Hochebene, hier, zwischen den Bergen, setzt in Erstaunen. Der Himmel erlischt, doch der hohe Horizont ist noch zu sehen, die unruhige Linie der Berge, die jedem, der aus dem Flachland hierherkommt, an die Kehle zu greifen scheint.

»Görbersdorf«, lässt sich mit einem Mal der Fuhrmann vernehmen, mit überraschend hoher Knabenstimme.

Wojnicz aber kann nichts erkennen außer der dicht geflochtenen Wand aus Dunkelheit, die sich in großen Flächen von den Berghängen löst. Erst als die Augen sich ein wenig an die hereinbrechende Nacht gewöhnt haben, tritt ein Viadukt hervor, unter dem sie in ein Dorf gelangen, dann ist ein mächtiges Gebäude aus rotem Backstein zu erkennen, daneben weitere kleinere Bauten, eine Zufahrtsstraße, zwei Gaslaternen. Das Backsteingebäude entpuppt sich als Koloss, wird immer größer, und während das Gefährt näher rollt, sind Reihen erleuchteter Fenster zu sehen. Das Licht ist schmutzig gelb. Wojnicz kann den Blick nicht lösen von diesem überraschend triumphalen Anblick, und noch als das Gebäude bereits gleich einem gigantischen Dampfer in der Dunkelheit versinkt, blickt er sich immer wieder um.

Jetzt biegt die Britschka auf einen schmalen Seitenweg ab, der an einem Bach entlangläuft, passiert eine kleine Brücke. Das Geräusch der Räder erinnert an das Echo von Schüssen. Vor einem stattlichen Holzbau, dessen Architektur an ein Haus aus Streichhölzern denken lässt mit seinen unzähligen Veranden, Balkonen und Terrassen, kommt das Gefährt schließlich zum Stehen. Aus den Fenstern schimmert angenehmes Licht. An der Fassade, unter dem ersten Stockwerk, ist eine aus dickem Blech geschnittene schöne Frakturschrift zu sehen:

Gästehaus für Herren

Erleichtert steigt Wojnicz aus der Britschka, atmet tief die neue Luft ein, von der es heißt, sie heile noch die schwersten Zustände. Doch vielleicht ist es zu früh dafür, denn ein Hustenanfall packt ihn, dass er sich am Geländer des Brückchens festhalten muss. Und während er hustet, spürt er das modernde Holz, kühl und unangenehm schlüpfrig, und der erste gute Eindruck zerplatzt. Er kann nichts tun gegen die Krämpfe seines Zwerchfells, und eine gewaltige Angst ergreift ihn – dass er ersticken werde, dass dies der letzte Anfall sei. Er versucht, der Panik Herr zu werden, versucht, an eine Blumenwiese im warmen Sonnenschein zu denken, wie Professor Sokołowski es ihm geraten hat. Und alle Mühe gibt er sich mit dieser Vorstellung, auch wenn ihm die Augen tränen und das Blut ihm ins Gesicht steigt. Er hat das Gefühl, seine Seele aushusten zu müssen.

Da spürt er einen Druck an der Schulter. Und ein großer, gut gebauter Herr mit grau meliertem Haar reicht ihm die Hand. Durch die Tränen sieht Wojnicz ein rosig gesundes Gesicht.

»Na, na, mein Herr. Jetzt nehmen wir uns aber mal zusammen«, sagt der andere und gibt seiner Selbstsicherheit ein breites Lächeln mit, dass der um sein Leben hustende Ankömmling sich an ihn schmiegen möchte, auf dass dieser Mensch ihn zu Bett bringe wie ein Kind. Ja, genau das: Kind. Bett. Etwas...

Erscheint lt. Verlag 20.4.2023
Übersetzer Lothar Quinkenstein, Lisa Palmes
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Feminismus • Kurort • Literaturnobelpreis • Ökologie • Sanatorium • Schlesien • Schwindsucht • Thomas Mann • Zauberberg
ISBN-10 3-311-70405-3 / 3311704053
ISBN-13 978-3-311-70405-8 / 9783311704058
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,5 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99