Melody (eBook)

Spiegel-Bestseller

(Autor)

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2023 | 2. Auflage
336 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61351-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Melody -  Martin Suter
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In einer Villa am Zürichberg wohnt Alt-Nationalrat Dr. Stotz, umgeben von Porträts einer jungen Frau. Melody war einst seine Verlobte, doch kurz vor der Hochzeit - vor über 40 Jahren - ist sie verschwunden. Bis heute kommt Stotz nicht darüber hinweg. Davon erzählt er dem jungen Tom Elmer, der seinen Nachlass ordnen soll. Nach und nach stellt sich Tom die Frage, ob sein Chef wirklich ist, wer er vorgibt zu sein. Zusammen mit Stotz' Großnichte Laura beginnt er, Nachforschungen zu betreiben, die an ferne Orte führen - und in eine Vergangenheit, wo Wahrheit und Fiktion gefährlich nahe beieinanderliegen.

Martin Suter wurde 1948 in Zürich geboren. Seine Romane (darunter ?Melody? und ?Der letzte Weynfeldt?) und die ?Business-Class?-Geschichten sind auch international große Erfolge. Seit 2011 löst außerdem der Gentleman-Gauner Allmen in einer eigenen Krimiserie seine Fälle, derzeit liegen sieben Bände vor. 2022 feierte der Kinofilm von André Schäfer ?Alles über Martin Suter. Außer die Wahrheit? am Locarno Film Festival Premiere. Seit einigen Jahren betreibt der Autor die Website martin-suter.com. Er lebt mit seiner Tochter in Zürich.
Spiegel-Bestseller

Martin Suter wurde 1948 in Zürich geboren. Seine Romane und ›Business-Class‹-Geschichten sind auch international große Erfolge. Seit 2011 löst außerdem der Gentleman-Gauner Allmen in einer eigenen Krimiserie seine Fälle, derzeit liegen sechs Bände vor. 2022 feierte der Kinofilm von André Schäfer ›Alles über Martin Suter. Außer die Wahrheit‹ am Locarno Film Festival Premiere. Seit einigen Jahren betreibt der Autor die Website martin-suter.com. Er lebt mit seiner Tochter in Zürich.

Tom betrat den Salon gleichzeitig mit Dr. Stotz. Der hellblaue Anzug, den dieser jetzt trug, saß ihm etwas schlabberig, und die Weite des Hemdkragens kaschierte er mit einem bunten Foulard.

»Ich pflege mir vor dem Lunch einen kleinen Sherry zu genehmigen. Machen Sie mit?«

»Ich trinke zum Mittagessen nur Alkohol, wenn ich am Nachmittag nicht arbeite«, erwiderte Tom.

»Das habe ich früher auch so gehalten. Aber mit Ausnahmen. Heute machen wir eine.«

Tom zögerte, aber Roberto nahm ihm die Entscheidung ab. Er betrat den Raum mit einem Silbertablett, darauf zwei kleine Gläser mit Sherry.

Dr. Stotz nahm eines und Tom das andere.

»Sherry ist ein Stehgetränk, fand ich immer. Und halte mich bis heute daran, auch wenn ich nicht mehr so gut stehe. Es ist kein Plauderdrink, man kippt ihn en passant. Ein beiläufiger Magenöffner, wie ich ihn früher nannte.« Und lächelnd fügte er hinzu: »Als ich noch einen hatte. Cheers.«

Der Sherry war kalt und mild. Sie stellten die leeren Gläser zurück auf das Tablett, mit dem Roberto gewartet hatte, er kannte das Prozedere.

Dr. Stotz spannte die Bremsen des Rollators und bat um Toms Arm. Sie gingen ins Esszimmer und setzten sich an den Tisch.

»Darf ich Sie bitten, den Wein einzuschenken?«

Tom stand auf und schenkte aus der Karaffe ein. Sich nur wenig.

»Ein Grande Cerzito zweitausendfünfzehn aus Kampanien. Ich komme nicht mehr so viel an die Sonne, ich muss sie über sonnige Weine genießen.«

Mariella brachte die Vorspeise. Ravioli aus hauchdünnem Teig, gefüllt mit Sellerie, übergossen mit Olivenöl und großzügig bestreut mit Parmesan. Für Tom vier, für Dr. Stotz zwei.

»Und?«, fragte Toms neuer Chef, als er die erste gekostet hatte.

»Wunderbar«, antwortete Tom. Und meinte es auch so.

»Mariella kann auch ganz raffinierte Sachen zubereiten, aber je älter wir beide wurden, desto mehr wandten wir uns der einfachen Raffinesse zu. Sie serviert jetzt fast nur noch die Gerichte, die sie schon als ganz junge Frau gekocht hat. Sie kam nämlich zu mir, als sie gerade zwanzig war.«

»Und sie hat nie geheiratet?«

»Doch. Sie kam damals mit ihrem Mann, einem sizilianischen Saisonnier. Als sich herausstellte, dass sie keine Kinder bekommen konnte, verließ er sie. Danach wollte sie nichts mehr mit Männern zu tun haben. Sie zog in dieses Haus, und seither ist sie hier. Sie hat sich über all diese Jahre in Sizilien ein Haus gebaut und wird, das hat sie immer gesagt, am Tag nach ihrer Pensionierung dorthin ziehen. Also in ziemlich genau einem Jahr. Gutes Timing.«

Dr. Stotz hatte erst eine der Ravioli gegessen, aber Roberto kam herein und räumte ab. Es musste auch unter dem Esstisch eine Fußklingel geben.

Der zweite Gang war ein Linsengericht mit kleinen Karottenstücken, Stangensellerie und Zucchini. Darauf angebratene Jakobsmuscheln. Wieder vier für Tom und zwei für Dr. Stotz.

»Auch wunderbar?«, fragte er.

Tom legte Daumen- und Zeigefingerspitzen zusammen und hob die Hand anerkennend auf Gesichtshöhe wie ein Koch auf der Werbetafel vor einem Landgasthof.

Nach dem Essen begleitete Tom den gebrechlichen Mann zurück in den Salon. Im Kamin brannte jetzt ein Feuer, sie setzten sich davor, und Mariella brachte den Espresso und schenkte ungefragt zwei Cognacs ein.

Tom versuchte sich die stämmige Mariella als junge Frau vorzustellen. Ihr schneeweißes Haar besaß noch immer den Glanz, den es schon gehabt haben musste, als es noch schwarz gewesen war. Unter den Fältchen ihrer Gesichtshaut waren die Spuren klassischer Züge gut zu erkennen. Ihre prominente Nase war wohlgeformt, und sie hielt den Kopf stets aufrecht.

Dr. Stotz musste Tom bei seiner Betrachtung beobachtet haben. Als Mariella gegangen war, bemerkte er: »Ja. Sie war eine Schönheit. Aber eine unnahbare.« Er stieß mit Tom an.

»Schon meine dritte Ausnahme«, sagte der.

»Es wird noch viele geben, hoffe ich. Wir haben Zeit. Ein Jahr ist lang. Jedenfalls, wenn man so jung ist wie Sie.«

»Ach, ich fühle mich manchmal auch schon alt. Je länger ich studierte, desto größer wurde der Altersunterschied zwischen mir und den andern.«

»Aber der Körper fühlt sich später anders an, glauben Sie mir.«

Dr. Stotz hob den Schwenker, den er in beiden Händen gehätschelt hatte, an die Nase, verharrte dort kurz und trank dann einen kleinen Schluck. »Nun zu der Frau auf dem Bild.«

Und ohne weitere Einführung fing er an zu erzählen:

 

AN DER STADTTOR-STRASSE gab es eine Buchhandlung – gibt es sie heute noch, nur heißt sie anders. Damals nannte sie sich Bücher am Stadttor, jetzt trägt sie den Namen der internationalen Buchhandelskette, von der sie aufgekauft wurde. Aglaia, kennen Sie bestimmt. Es war eine große Buchhandlung mit einer sehr guten Fachbuchabteilung. Ich habe mir dort als Student und auch später unter dem Deckmantel der Suche nach Fachliteratur viel Belletristik besorgt. Ich war Stammkunde.

An einem heißen Sommertag – es war der 16. August 1980, ich hatte Urlaub und trug meine für dieses Wetter viel zu warme Uniform eines Majors – wollte ich dort ein paar Bücher kaufen. Eine junge Buchhändlerin, die ich noch nie gesehen hatte, bediente mich.

Als sie auf mich zukam und fragte: »Kann ich Ihnen behilf‌lich sein?«, fiel mir keine Antwort ein. Ich war ein gestandener, zweiundvierzigjähriger Mann, dem es beim Anblick einer schönen Frau noch nie die Sprache verschlagen hatte. Aber diesmal brachte ich kein Wort heraus. Ich war – ich kann es nicht anders sagen – gebannt.

Nach einem Moment – keine Ahnung, wie lang er dauerte – stammelte ich: »Ich suche ein Buch.«

Sie lächelte nicht über die blöde Antwort. Sie fragte höf‌lich: »Was für eines?« Ich war drauf und dran zu antworten: »Irgendeins.« Doch ich besann mich und schaffte es, mich an den Namen des Romans zu erinnern, den ich gerade zum zweiten Mal las: Der große Gatsby. Sie holte ihn, und ich sah ihr nach. Ihr offenes schwarzes Haar reichte ihr bis zur Taille, ihr anmutiger Gang ließ es sanft schwingen.

Sie verschwand hinter den Regalen, und bis sie wieder zum Vorschein kam, wusste ich wieder, welche Bücher ich tatsächlich hatte kaufen wollen. Sie brachte mir alle, eines nach dem anderen.

Und nicht nur sie war wunderschön. Auf dem Namensschild über der Brust, auf die ich nicht zu sehen wagte, stand Melody.

Melody! So war sie auch: eine Musik, die durch den Raum schwebt und alle zum Träumen bringt. Mich zuallererst.

Von da an ging ich, sooft es mir möglich war, in die Buchhandlung und versuchte mich von ihr bedienen zu lassen.

Ich musste mir eingestehen: Ich bin verliebt.

Das war ein vollkommen neues Gefühl. Ich hatte bis zu dem Moment einige Affären gehabt – ein Junggeselle war das seinem Ruf schuldig, sonst stand er plötzlich in einem falschen Licht, wenn Sie wissen, was ich meine. Aber Beruf, Karriere, Militär, gesellschaftliche Stellung hatten stets erste Priorität. Trotzdem hatte ich natürlich auch körperliche Bedürfnisse, Sie verstehen schon. Verzeihen Sie. In Ihrem Alter fand ich es immer widerlich, wenn alte Männer von Sex redeten. Geht es Ihnen auch so? Ich hoffe nicht. Ich habe nämlich die Absicht, offen mit Ihnen zu sein. In Ihrer Funktion werden Sie alles über mich erfahren müssen. Ich darf keine Geheimnisse vor Ihnen haben. Sie werden Dinge erfahren, die Sie nicht wissen wollen. Persönliche, private, sogar intime. Und Sie werden sie für sich behalten müssen. Denn Sie sind an das Anwaltsgeheimnis gebunden.

Es gab schon Damen, die ich sehr gerne mochte, oder auch sehr, sehr. Aber verliebt? Verliebt, dass man zu schweben glaubt, verliebt, dass man mit dem ersten Gedanken an sie aufwacht und mit dem letzten an sie einschläft, das hatte ich nie erlebt. Ich hatte auch nie damit gerechnet. Die Liebe hatte mich völlig überrumpelt. Kennen Sie das?

 

Dr. Stotz erwartete keine Antwort auf seine Zwischenfragen. Sie dienten nur dem Zweck, sich die Aufmerksamkeit seines Zuhörers immer wieder zu sichern. Toms Rolle war eine stumme. Lächeln, Nicken, ungläubiges Kopfschütteln, voilà.

 

Ich begann, Melody den Hof zu machen. Auch etwas Neues für mich. Mein Liebesleben war bis dahin unkompliziert gewesen. Direkt und ohne »saying something stupid like I love you«, kennen Sie den Sinatra-Song? Aber jetzt lagen mir die drei Wörter ständig auf der Zunge.

Von nun an kauf‌te ich Liebesromane bei ihr. Anna Karenina, Stolz und Vorurteil, Die Dornenvögel, Die Leiden des jungen Werther, solche Sachen. Viele davon besaß ich schon, ohne sie je gelesen zu haben. Jetzt las ich sie sogar.

Eines Abends fasste ich mir ein Herz und passte sie nach Arbeitsschluss ab. Es dauerte lange, bis sie den Laden verließ. Sie trug ein Sommerkleid. Über den Arm mit der Handtasche hatte sie die leichte Strickjacke geworfen, die sie in der Buchhandlung getragen hatte. Mit zügigen Schritten überquerte sie die Straße, und ihre Haare wippten dabei leicht. Zwei Männer, die plaudernd und rauchend...

Erscheint lt. Verlag 22.3.2023
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Älter werden • Arrangierte Ehe • Bestsellerautor • Buchhändlerin • Buchhandlung • Geheimnis • Griechische Insel • Gutes Leben • Liebesgeschichte • Liebesroman • Marokko • Nachlass • Politiker • Schein und Sein • Schweiz • Schweizer Literatur • Verlorene Liebe • Verlust • Zürich
ISBN-10 3-257-61351-2 / 3257613512
ISBN-13 978-3-257-61351-3 / 9783257613513
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