Die Moskau-Connection -  Reinhard Bingener,  Markus Wehner

Die Moskau-Connection (eBook)

Spiegel-Bestseller
Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
304 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-79943-3 (ISBN)
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Deutschland hat über viele Jahre die Gefahr ignoriert, die von Putins Regime ausging. Es hat die Warnungen seiner europäischen Nachbarn in den Wind geschlagen und sich von Gas und Öl aus Russland immer abhängiger gemacht. Die Folge ist eine schwere Wirtschaftskrise, die den Wohlstand der Bundesrepublik langfristig schmälern wird. Wie konnte es dazu kommen? Welche Rolle spielte dabei Gerhard Schröder als SPD-Bundeskanzler und späterer Gas-Lobbyist mit seinem weitverzweigten Netz in Politik und Wirtschaft? Warum schlug CDU-Kanzlerin Angela Merkel keinen weitsichtigeren Kurs ein? Welche geschäftlichen und politischen Verbindungen, aber auch welche wirtschaftlichen und strategischen Interessen führten dazu, dass Deutschland auf Putin setzte, obwohl er schon vor seinem Überfall auf die Ukraine Kriege geführt, die Opposition ausgeschaltet und Freiheits- und Menschenrechte missachtet hatte? Die FAZ-Korrespondenten Reinhard Bingener und Markus Wehner decken die Moskau-Connection der deutschen Politik auf und zeigen, wie eine der größten Fehleinschätzungen deutscher Außenpolitik seit 1945 möglich wurde.

Reinhard Bingener berichtet seit August 2014 als politischer Korrespondent mit Sitz in Hannover für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" über Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Bremen sowie über die evangelischen Kirchen in Deutschland.<div> <br> <div> Markus Wehner ist seit 2017 Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in Berlin und berichtet über Bundespolitik, Berlin und Brandenburg. Vom Oktober 1999 an war er fünf Jahre lang Korrespondent der Zeitung in Moskau, von Ende 2004 bis Mitte 2017 Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" in Berlin. </div></div>

1 Hannover


Gerhard Schröder und die Entstehung seines Netzwerks

Der SPD-Bezirk Hannover wird von manchen Sozialdemokraten aufgrund seiner Geschichte, seiner Größe und seines Einflusses als die «Erzdiözese» der Partei bezeichnet. Am Ende des Zweiten Weltkriegs hat Kurt Schumacher dort das «Büro Dr. Schumacher» eröffnet, die Keimzelle der Parteiarbeit in den westlichen Besatzungszonen. Nahe des Hannoveraner Hauptbahnhofs wird die SPD einige Zeit später auch ihre erste Bundeszentrale haben. Dort, in der Odeonstraße 15/16, sitzt bis heute der niedersächsische SPD-Landesverband. Auch der SPD-Bezirk Hannover, der SPD-Unterbezirk Hannover sowie der SPD-Stadtverband haben dort ihren Sitz. Der Stadtverband verfügt über das feinverästelte Netz der Sozialdemokraten in der niedersächsischen Landeshauptstadt, die nach dem Krieg mehr als 70 Jahre lang bis 2019 durchgehend von ihnen regiert wird. Das eigentliche Machtzentrum in der niedersächsischen Sozialdemokratie bildet aber der SPD-Bezirk Hannover. Er erstreckt sich vom südlichen Rand Hamburgs bis zur Landesgrenze zu Hessen im Süden und hat auf Parteitagen der niedersächsischen Sozialdemokraten eine beinahe erdrückende Macht.

An der Spitze des SPD-Bezirks Hannover steht fast zwei Jahrzehnte lang Egon Franke, ein traditioneller und volkstümlicher Sozialdemokrat, der zugleich die SPD auf Landesebene führt. Als Abgeordneter im Bundestag führt Franke die «Kanalarbeiter» an, einen rund 100 Abgeordnete zählenden Zusammenschluss des rechten SPD-Flügels, vergleichbar mit dem heutigen «Seeheimer Kreis». Anfang der 1970er Jahre verschiebt sich die Stimmung in der hannoverschen SPD jedoch. Der Parteilinke Peter von Oertzen löst Franke an der Spitze der Bezirks- und Landesebene ab. Auch in der Landeshauptstadt bricht eine neue Ära an: 1972 wird der 28 Jahre alte Herbert Schmalstieg zum Oberbürgermeister gewählt, der sich innerparteilich zuvor mit Unterstützung der Jusos durchgesetzt hat und 34 Jahre lang an der Spitze der 500.000-Einwohner-Stadt stehen wird.

Der Aufsteiger


In dieser Zeit des Umbruchs zieht ein junger Sozialdemokrat namens Gerhard Schröder nach Hannover, der damals vom niedersächsischen SPD-Chef Peter von Oertzen gefördert wird. Der angehende Jurist kommt aus schwierigen, heute würde man sagen: prekären Verhältnissen. Über Schröders Vater Fritz weiß man, dass er vor dem Krieg zweifach wegen schweren Diebstahls verurteilt und in den damaligen Gerichtsakten als wohnungsloser Landarbeiter geführt wurde. Da der Vater am 4. Oktober 1944 an der Ostfront fällt, ist der im selben Jahr geborene Sohn Gerd in der harten Zeit nach dem Krieg vornehmlich auf seine Mutter angewiesen. Sie bringt die Familie mit Hilfsarbeiten und Putzen durch. «Seine Jugend ist rauer, wilder, aber auch unbeschwerter als die vieler Gleichaltriger», wird der SPIEGEL-Journalist Jürgen Leinemann später über Schröder schreiben.

Die beiden Werkzeuge, mit denen Gerhard Schröder seinen Aufstieg bewerkstelligt, sind Bildung und ein SPD-Parteibuch. Im Alter von 17 Jahren verlässt Schröder nach abgeschlossener Lehre seine lippische Heimat und zieht ins niedersächsische Göttingen, wo er in die SPD eintritt. Schröder holt die Mittlere Reife nach, macht das Abitur und beginnt 1966 ein Studium der Rechtswissenschaft in Göttingen, das als südlicher Zipfel noch zum SPD-Bezirk Hannover zählt. In der Stadt rumort es zu dieser Zeit; die gediegene Universitätsstadt wandelt sich zu einer Hochburg der linksgerichteten Studentenschaft.

Damals etabliert sich der typische Karriereweg niedersächsischer Sozialdemokraten: zuerst in Göttingen entweder Jura oder Politikwissenschaften studieren und dann Karriere in der Landeshauptstadt Hannover machen. Nicht nur Gerhard Schröder hat diesen Weg beschritten, auch Sigmar Gabriel, Stephan Weil, Thomas Oppermann und viele andere, die später wichtige Ämter in der Landes- oder Bundespolitik bekleiden sollten.

Gerhard Schröder knüpft in Göttingen die erforderlichen Kontakte für seinen späteren Aufstieg und lernt das Handwerk des innerparteilichen Machterwerbs. 1969 wird Schröder zunächst zum Vorsitzenden der Göttinger Jusos gewählt. Die dortigen Jusos befinden sich zu diesem Zeitpunkt auf einem strammen marxistischen Kurs mit wenig Scheu vor linksautoritären Politikmodellen. Der junge Gerhard Schröder macht dabei keine Ausnahme. «Der Fidel und der Che», wird Schröder später erzählen, «die waren doch die Traumfiguren für uns Linke in der Zeit um 1968, als ich Politik zu lernen begann.»

Von den quälenden marxistischen Theoriedebatten hält sich Schröder allerdings instinktsicher fern, er konzentriert sich auf sein persönliches Fortkommen. Im Ringen der drei Juso-Hauptströmungen «Reformsozialisten», «Antirevisionisten» und «Stamokap» zählt er zur Mittelgruppe der «Antirevisionisten». In wechselnden ideologischen und personellen Bündnissen arbeitet Schröder sich Ebene um Ebene nach oben. 1971 folgt er Herbert Schmalstieg als Juso-Vorsitzender im Bezirk Hannover nach; 1978 lässt sich Schröder, gestützt auf ein Bündnis mit dem extrem linken «Stamokap»-Flügel, zum Bundesvorsitzenden der Jusos wählen. Sein Vorgänger Klaus Uwe Benneter war zuvor aus der Partei geworfen worden, weil er eine Zusammenarbeit mit Kommunisten nicht ausschloss.

Die Wahl zum Juso-Bundesvorsitzenden markiert in Schröders Karriere eine Zäsur. Er verfügt nun über die notwendigen Kontakte wie über die bundesweite Sichtbarkeit, um Politik zu seinem Beruf zu machen. Schröder bekennt zwar pflichtschuldig, dass er kein Mandat anstrebe. Gleichwohl nutzt er sogleich die nächste Gelegenheit im Jahr 1980, um eben dies zu tun. Er bewirbt sich mit Erfolg im Wahlkreis Hannover-Land 1 um ein Direktmandat im Bundestag. Vor seinem Wechsel ins Profi-Lager lässt Schröder ziemlich abrupt die umstürzlerischen Ideen der Jusos fallen. Er verortet sich innerhalb der SPD neu und spricht nun wohlwollender über Bundeskanzler Helmut Schmidt. Dieser Kurswechsel Schröders wird von manchen seiner vormaligen Unterstützer als Verrat empfunden. «Gewählt als Vertreter der marxistischen Kräfte bei den Jusos, hast Du Dich von diesen unseren Positionen gelöst und eine bis zur Ununterscheidbarkeit gehende Politik der Zusammenarbeit mit reformistischen Kräften» begonnen, rechnen die Göttinger Jusos mit Schröder in der FRANKFURTER RUNDSCHAU ab.

Die Wandlung Schröders sticht seinen Weggefährten vermutlich auch deshalb so scharf ins Auge, weil sie vorrangig die Wirtschafts- und Sozialpolitik betrifft, um die sich ihre eigenen, im Schatten des marxistischen Denkens geführten Debatten vornehmlich drehen. In den Zeitungsartikeln und Büchern über Schröder wird auf der Basis dieser zunächst beklagten Wandlung später das eingängige Image eines elastischen Pragmatikers entwickelt, der zwar wenig Rücksicht auf die eigenen Leute nimmt, aber dafür einen klaren Blick für die Realität besitzt und sich von ideologischen Scheuklappen frei gemacht hat.

Dieses Bild muss an einer, für dieses Buch allerdings entscheidenden, Stelle korrigiert werden: Im Bereich der Außenpolitik sind bei Schröder keine tiefgreifenden Wendungen zu erkennen. Stattdessen gibt es eine erstaunliche Kontinuität seiner Denkmuster: Schröders Sympathie und Interesse richten sich seit Anbeginn eher auf Moskau als auf Washington. Und Schröder weiß stets virtuos auf der Klaviatur des latenten Antiamerikanismus innerhalb seiner Partei sowie in der deutschen Gesellschaft zu spielen.

In die Sowjetunion reist Schröder erstmals Mitte der 1970er Jahre. 1978 vertritt er die Jusos auf dem Großkongress der sowjetischen Staatsjugend im Großen Kremlpalast. In einem Gastbeitrag für die KOMSOMOLSKAJA PRAWDA unterstützt er damals die sowjetische Kritik an den amerikanischen Rüstungsplänen in Westeuropa. Im März 1980 und im Januar 1982 unternimmt Schröder weitere Reisen nach Moskau und fällt dort ebenfalls mit einer unkritischen Nähe zu sowjetischen Positionen auf. Schröder kritisiert in dieser Zeit auch die deutsche Entscheidung, als Reaktion auf den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan gemeinsam mit den Vereinigten Staaten die Olympischen Spiele in Moskau zu boykottieren. Als Bundestagsabgeordneter gehört er zu den Gegnern des Nato-Doppelbeschlusses, bei dessen Durchsetzung sich der damalige Kanzler Helmut Schmidt zusehends innerhalb der SPD aufreibt. Schröder rät angesichts des amerikanischen Führungsanspruchs im westlichen Militärbündnis 1981 sogar zu einer Distanzierung der Bundesrepublik von...

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