Der Fluch des Imperiums (eBook)
352 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-80050-4 (ISBN)
Martin Schulze Wessel ist Professor für die Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Von 2012 bis 2016 war er Vorsitzender des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands.
Kapitel 1
Russlands Imperium, das Hetmanat und die Republik Polen (1700–1795)
Moskaus Weg nach Europa
Etwa 100 Tage nach dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine, am 9. Juni 2022, lud Vladimir Putin junge Unternehmerinnen, Ingenieure und Wissenschaftler zu einem Gespräch, das den Eindruck moderner politischer Kommunikation erwecken sollte. In betont ungezwungener Atmosphäre legte der Präsident die Grundzüge seiner Politik dar und versprach, Anregungen aus dem Gespräch an seinen Premierminister weiterzugeben. Er saß den Vertretern einer Leistungselite gegenüber, deren berufliche Zukunft sich nach der Verhängung der Sanktionen verfinstert hatte. Viele qualifizierte junge Russinnen und Russen kehrten ihrem Land den Rücken und ließen sich in der Türkei, in Armenien oder Georgien nieder. Nicht von ungefähr wählte Putin für sein Gespräch den Ort der «Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft» (VDNCh) in Moskau, einst von Nikita Chruščev gegründet, um die sowjetische Überlegenheit gegenüber westlicher Technologie zu demonstrieren. Berühmt wurde die Ausstellung des Sputnik-Satelliten in der VDNCh. So transportiert das Ausstellungsareal die nostalgische Erinnerung an einen Wettlauf, den die Sowjetunion einst gegen den Westen gewann, als sie mit dem ersten Satelliten und mit Jurij Gagarin als erstem Kosmonauten in den Weltraum vorstieß. Putin spielte also auf die vergangene Zukunftsfähigkeit der Sowjetunion an und leitete daraus unbestimmte Verheißungen für die Entwicklung Russlands ab.
Viel wichtiger war für ihn aber eine andere Vergangenheit, nämlich die Geschichte Peters I., dessen 350. Geburtstag die aktuelle Ausstellung der VDNCh gewidmet war und der als Peter der Große in die Geschichtsbücher einging. Was Putin am 9. Juni über die aktuelle Bedeutung der Zarenzeit sagte, bildete den archaischen Kontrapunkt zu seinem vagen Zukunftsdiskurs. Es gehe heute wieder um das «Erobern und Befestigen» von Territorien. Putin offenbarte damit, dass er sich von ausgefeilteren Mitteln der Machtausübung abgewandt hatte: Nachdem vor dem Krieg sein Versuch gescheitert war, die Ukraine durch wirtschaftlichen Druck in den russischen Orbit zurückzuzwingen, und der Überfall auf die Ukraine nicht zur Installation eines russischen Marionettenregimes in Kyiv geführt hatte, bekannte sich der russische Präsident jetzt zu einem vormodernen Politikmuster, zur Anwendung harter militärischer Macht nach Zarenart.
Abb. 1 · Betont ungezwungene Atmosphäre: Vladimir Putin vor Jungunternehmern in Sankt Petersburg am 9. Juni 2022.
Peter I. ist für Putin usable past, eine Vergangenheit, mit der er seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine rechtfertigt. Auch Peter I. habe im Nordischen Krieg «russisches Land» zurückgeholt. Damit meinte Putin die Region, in der Peter die neue Hauptstadt Russlands, Sankt Petersburg, gegründet hatte. Tatsächlich war das Küstenland vor Peter nur vorübergehend vom Moskauer Zarentum beherrscht worden. Mit dem Rückgriff auf Peter I. gab Putin das «Erobern und Befestigen» von Territorien als die epochenübergreifende Essenz russischer Geschichte aus. Bei aller Bedeutung von wissenschaftlicher und technologischer Innovation ist dies, so muss man Putin verstehen, die harte Währung der russischen Politik. Diese Botschaft sollte der jungen Elite mitgegeben werden.
Dass Putin seine Politik mit dem historischen Rückgriff auf Peter I. rechtfertigte und sich selbst in die Rolle eines Fortsetzers des großen Zaren stellte, ist übliche Geschichtspolitik. Besonders sind daran allenfalls die Aggressivität der Botschaft und die Vermessenheit, mit der ein lebender Politiker sich persönlich, mit seinen eigenen Worten, in die Nachfolge eines großen Herrschers stellt. Doch reichen die Bezüge zwischen Peter und Putin tiefer, als es diese Instrumentalisierung von Geschichte erkennen lässt. Mit der Herrschaft Peters I. entstanden eine imperiale Politik und eine politische Identität Russlands, deren Wirkungen bis in die Gegenwart reichen. Es bildeten sich Konstellationen in der internationalen Politik, die grundsätzlich bis heute wirksam sind. Der Anspruch, die Ukraine zu beherrschen, verbunden mit einer Hegemonialpolitik gegenüber Ostmitteleuropa, dem Baltikum und dem Balkan, spezielle russisch-deutsche Beziehungen, die auch eine Rohstoffkomponente haben, der Ost-West-Gegensatz, das alles sind Kennzeichen der russischen Politik, die unter Peter I. erstmals hervortraten. Doch ist Putin nicht der Fortsetzer, sondern der Verderber des petrinischen Erbes. Was mit Peter begann, endet voraussichtlich mit der von Putin verursachten «Zeitenwende».
Es entspricht dem allgemeinen Geschichtsbild, Peter I. (1672–1725) vor allem mit der Europäisierung des Zarenreichs zu verbinden. Peter bahnte, so die weitverbreitete Einsicht, Russlands Weg nach Europa. Als Modernisierer habe er «das Fenster nach Europa» geöffnet. In der Tat unternahm der Herrscher höchstpersönlich unter einem Pseudonym eine Europareise, brachte Neuerungen aus dem Bereich der Militärtechnik und des Schiffsbaus nach Russland und reformierte russische Institutionen und Sitten nach europäischen Vorbildern. Bärte wurden geschoren und europäische Kleidung angelegt. Dies alles hatte gravierende Schattenseiten, aber gerade von außen gesehen waren Öffnung und Entwicklung das Signum der Epoche. Ausländer, vor allem Deutsche, machten fabelhafte Karrieren am Zarenhof, wie z.B. der aus Bochum stammende Pastorensohn Heinrich Ostermann (1687–1747), der unter Peter zum Außenminister und Vizekanzler aufstieg. Der Zar reformierte den Adel nach meritokratischen Gesichtspunkten, was zur Folge hatte, dass es in der russischen Elite mehr Aufsteiger und Absteiger als in den traditionsverhafteten europäischen Adelskulturen gab. Russland war in Bewegung und offen für Einflüsse von außen.
Mächtepolitik kommt in dieser Erzählung der von Peter betriebenen Europäisierung Russlands nur am Rande vor. Doch hat «Moskaus Weg nach Europa» eine doppelte Bedeutung. Die Formel verweist nämlich nicht nur auf die innere Transformation des Zarenreichs nach europäischen Vorbildern, sondern auch auf das Vordringen Russlands nach Europa als neue Großmacht. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts revolutionierte Russland durch Krieg und Diplomatie die mächtepolitischen Verhältnisse in drei europäischen Regionen: an der Ostsee, in Polen und am Schwarzen Meer. Indem Russland unter Peter I. und Katharina II. seinen Einfluss in diesen Regionen erheblich erweiterte, forderte es das europäische Staatensystem fundamental heraus. Vor Peter I. hatte im östlichen Europa ein von Frankreich gelenktes Bündnissystem dominiert, das für Paris die Funktion besaß, den Erzrivalen Habsburg mächtepolitisch in Schach zu halten. Dazu schloss Paris im 16. und 17. Jahrhundert Verträge mit Schweden, Polen und dem Osmanischen Reich, die gemeinsam eine «barrière de l’Est» im Rücken der Habsburgermonarchie bildeten. Das Zarenreich spielte in diesem Bündnissystem noch keine Rolle. Im 18. Jahrhundert wurden die Karten jedoch neu gemischt, und es war Russland, das mit seinem Vordringen nach Europa die Revolution im Staatensystem auslöste. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts entstand daraus als neues europäisches Mächtesystem, die Pentarchie mit England, Frankreich, Habsburg, Preußen und Russland. Das Zarenreich, um 1700 noch ein Randstaat an der östlichen Peripherie des Kontinents, dominierte hundert Jahre später die Ostsee und das Schwarze Meer und hatte zusammen mit Preußen und Österreich Polen geteilt. Schon im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts, in der Zeit Peters I., hatte Russland, wie Leopold von Ranke schrieb, begonnen, «im Norden Gesetze zu geben»,[1] in der Zeit Katharinas II. war Russland im östlichen Teil des Kontinents übermächtig.
Die Beherrschung der Ukraine bildete teilweise die Voraussetzung, teilweise das Ziel von «Moskaus Weg nach Europa». Am Anfang dieses Weges stand die Teilung der Ukraine, die rund hundert Jahre vor den Teilungen Polens geschah. Die Ukraine bildete allerdings kein geschlossenes Herrschaftsgebiet, und ihre Bewohner bekannten sich nicht zu einer ukrainischen Nation. Von ethnischen Ukrainern besiedelt waren die Sloboda-Ukraine mit Charkiv als Zentrum, die...
Erscheint lt. Verlag | 16.3.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Reisen ► Reiseführer ► Europa | |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
ISBN-10 | 3-406-80050-5 / 3406800505 |
ISBN-13 | 978-3-406-80050-4 / 9783406800504 |
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