Christoph Martin Wieland -  Jan Philipp Reemtsma

Christoph Martin Wieland (eBook)

Die Erfindung der modernen deutschen Literatur
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2023 | 1. Auflage
704 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-80071-9 (ISBN)
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Mit Christoph Martin Wieland beginnt die moderne deutsche Literatur. Er eröffnet sie nicht nur selbst mit seinen Werken, sondern er ist auch der «Erfinder» dessen, was wir heute die «Weimarer Klassik» nennen. Mit seiner langerwarteten Biografie - der ersten seit siebzig Jahren - befreit Jan Philipp Reemtsma Wieland endlich aus dem langen Schatten, in den ihn Goethe und Schiller gestellt haben. Sein «Wieland» ist aufregend und fulminant, ein germanistischer Glücksfall, denn er gibt uns einen Klassiker zurück, ohne den die Verwandlung der deutschen Literatur in eine vor und eine nach Weimar gar nicht angemessen verstanden werden kann. Innovator, Aufklärer, Schriftsteller, Journalist, political animal, Menschenkenner, all das war der geistige Pate Weimars, Christoph Martin Wieland. Neben Lessing ist er die Zentralgestalt der deutschen Aufklärung. Durch ihn wird der Roman in Deutschland zu einer anerkannten Literaturgattung, er schreibt die erste moderne deutsche Oper und bringt mit seinen erotischen Verserzählungen einen neuenTon in die deutsche Poesie. «Der Teutsche Merkur», damals eine der wichtigsten literarisch-politischen Zeitschriften Europas, wird von ihm herausgegeben, und gleichsam nebenbei prägt er das Genre des politischen Journalismus mit seinenTexten über die Französische Revolution und Napoleon, dessen Alleinherrschaft er frühzeitig vorhersah und den er 1808 in Weimar auch persönlich traf. Gründe genug, Wieland neu zur Kenntnis zu nehmen. Jan Philipp Reemtsmas grandiose Biografie, die Summe einer jahrzehntelangen Forschung, bietet die Gelegenheit dazu.

Jan Philipp Reemtsma war Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Hamburg und wurde u. a. mit dem Lessing-Preis und zuletzt dem Moses-Mendelssohn-Preis und dem Weimar-Preis ausgezeichnet. <br>

Wer Christoph Martin Wieland war –


– diese Frage kann eine einfache Erzählung seines Lebens nicht beantworten. Das ist natürlich immer so. Die Nacherzählung eines Lebens kann im Falle von Schriftstellern (und anderen Künstlerinnen) nicht beantworten, was ihre Bedeutung für uns ausmacht und weshalb man sich vielleicht auch für ihr Leben interessiert. Wenn man filmische TV-Nacherzählungen eines Schriftstellerlebens gesehen hat, bleibt man auf dem Sofa doch meist ratlos zurück. Was dieses Leben für uns wichtig macht, bleibt unerzählt: die abertausend Stunden am Schreibtisch. Diese Grenze ist hinzunehmen und zu respektieren, der Autor einer Biographie kann nicht so tun, als wäre aus dem Hin und Her eines Lebens eine Art Notwendigkeit des literarischen Werks herauszufabulieren, das sein Ertrag war.

Christoph Martin Wieland wurde am 5. September 1733 in Oberholzheim bei Biberach geboren, er starb am 20. Januar 1813 in Weimar. Die wichtigen Lebensstationen waren, nach der Kindheit und Jugend in Biberach, Zürich und Bern, wo er sein Brot als Hauslehrer verdiente, dann wieder Biberach, wo er eine Stelle als Kanzleiverwalter innehatte. Dann war er Professor der Philosophie in Erfurt, von wo er nach Weimar gerufen wurde, um den künftigen Herzog Carl August auf seine Regierung vorzubereiten. In Weimar lebte er, mit einer Unterbrechung von wenigen Jahren im nahen Oßmannstedt, bis zu seinem Tode. Ein undramatisches Leben, vor allem eines ohne Kavalierstour nach Paris oder Italien. In diesen beinahe 80 Jahren wurde Wieland zum bedeutendsten und bekanntesten deutschen Schriftsteller, mit ihm begann, was das 19. Jahrhundert die «Weimarer Klassik» nennen sollte. Und gegen Ende seines Lebens sah er, wie diese einzigartige Bedeutung wieder vergessen wurde.

Zwei Karten würden deutlich machen, was Wieland zu Lebzeiten war und worum sich eine Biographie zu kümmern hat: eine, die den Radius seines Lebens zeigt, die Vaterstadt Biberach, dann die Wohnorte Zürich und Bern, Erfurt und Weimar und Oßmannstedt bei Weimar, schließlich die Orte seiner wenigen und kurzen Reisen – sein biographischer Lebensraum wird im Norden durch Magdeburg, im Westen durch Düsseldorf, im Süden durch das schweizerische Kehrsatz (bei Bern), im Osten durch Seilersdorf bei Dresden begrenzt. Auf der anderen Karte wäre zu sehen, wo und von wem die Ausgabe seiner Werke letzter Hand, die «Sämmtlichen Werke», subskribiert wurde. Es standen drei verschiedene Formate zu unterschiedlichen Preisen zur Auswahl (und zusätzlich eine nicht subskribierbare «wohlfeile» Ausgabe auf billigem Papier), die Listen weisen über 600 Förderer auf. Für die Ausgabe in Quart, die aufwendigste und teuerste Variante, unterzeichneten unter anderem der Herzog vom Weimar und seine Mutter, die verwitwete Herzogin von Weimar (versteht sich), die Königin von Dänemark, der König von England und die Königin von Neapel, Prinz Ferdinand von Preußen, die regierende Herzogin von Curland, Fürst Aloys Lichtenstein und Fürst Carl Lichnowsky in Wien, der Fürstbischof von Lübeck, der Bürgermeister von Biberach, fürstliche Bibliotheken und bürgerliche Lesegesellschaften, Privatleute und Buchhändler unter anderem aus Augsburg, Berlin, Dresden, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg, Leipzig, München, Stuttgart, aus Riga, Breslau, Danzig, Warschau, Königsberg, St. Petersburg, Zürich, Basel, Wien, Graz, Salzburg, Amsterdam, Haarlem, London, Kopenhagen, Triest, Prag und Budapest, ein «Herr Oberster Freyre» in Lissabon und ein «Herr Thompson aus Amerika».

Die meisten Subskribenten hatte die Ausgabe in Großoktav, auch für sie kamen Bestellungen aus weiten Teilen Europas, von Reval (Tallinn) im Norden bis Neapel im Süden. Erwähnt sei die Familie Gontard aus Frankfurt am Main, die ebenfalls zu den Förderern zählt – sie ließen ihre Ausgabe in rotes Maroquin binden und versahen sie mit ihren Exlibris. Mag sein, Hölderlin hat seine Diotima nahe dieser Ausgabe in der Bibliothek geküsst.

Man zeichne also auf einer Landkarte die deutschen, österreichischen, Schweizer, englischen, ungarischen, baltischen, russischen, niederländischen, skandinavischen Orte ein – einer Karte, die noch von Lissabon über den Atlantik blickt –, und man hat die Bedeutung seines Werkes am Ende des 18. Jahrhunderts vor Augen. Und in diesem Augenblick der höchsten Anerkennung beginnt der sich im 19. Jahrhundert fortsetzende Prozess der Umbildung der Idee von «Dichtung» und dem, was «ein Dichter» sei, der dazu führt, dass Walter Benjamin in Wielands Jubiläumsjahr 1933 schreiben konnte: «Wieland wird nicht mehr gelesen.» Und Arno Schmidt konnte in seinem 1957 in Gesprächsform verfassten Funkessay über Wieland einen der Sprecher sagen lassen: «Ein berühmter Name, gewiß, aber mir nur eine Schattengestalt – die Literaturgeschichte hat ihn längst so endgültig abgetan …»

Auch mit dieser Umwertung des Autors hat sich der Biograph zu beschäftigen. Nicht, wie dies seine Vorgänger Johann Gottfried Gruber (1827) und Friedrich Sengle (1949) getan haben, um ihr Unternehmen gegen den Geist der Zeit zu rechtfertigen, sondern weil er, um Wielands Bedeutung für die deutsche Literatur darzustellen, beides verstehen muss, die große Bedeutung zeit seines Lebens und ihren Verfall, in seinen letzten Lebensjahren beginnend. Wieland selbst hat zweimal versucht, die eigene historische Rolle zu bestimmen; einmal 1794 im «Vorbericht» zu den erwähnten «Sämmtlichen Werken», später in einem Brief. – So heißt es in den «Sämmtlichen Werken»: «Es sind nun vier und vierzig Jahre seit der Verfasser der poetischen und prosaischen Werke, die in gegenwärtiger vollständiger Ausgabe von der letzten Hand gesammelt erscheinen, zum ersten Mahl im Kor der Dichter und Schriftsteller Deutschlands auftrat. Seine Laufbahn umfaßt also beinahe ein halbes Jahrhundert. Er begann sie, da eben die Morgenröthe unsrer Litteratur vor der aufgehenden Sonne zu schwinden anfing; und er beschließt sie – wie es scheint, mit ihrem Untergang.»

Man muss das nicht falsch lesen, er hat sich darin nicht als die «Sonne» bezeichnet, sondern als einer, der unter der Sonne der Zeit, als sie hoch stand zwischen Morgen und Abend, gewachsen sei. Gleichwohl ist die Aussage vermessen: Es will schon etwas wie «und nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes» sagen. Jedenfalls ist es eine säkulare Verkennung gewesen – welcher Art?

Er meinte wohl, dass das, was durch ihn (und vielleicht Klopstock vor ihm) und Goethe und Schiller nach ihm «die deutsche Literatur» geworden war, in der nächsten Generation nicht fortgesetzt werde. «Er hatte das herzerhebende Glück, der Zeitgenosse aller Deutschen Dichter und Schriftsteller, in deren Werken der Geist der Unvergänglichkeit athmet, und der Nebenbuhler von keinem zu seyn; die meisten von ihnen waren seine Freunde, keiner sein Feind.»[1] Aus dieser freundlichen Bemerkung kann man den Blick rekonstruieren, den er auf die Literatur seiner Zeit warf: Sie war überschaubar. Man war einander nah, konnte einander kennen. Man korrespondierte, es hatte hier und da Besuche gegeben. Nur so hat die Hervorhebung von Freundschaft und mangelnder Rivalität einen Sinn. Es hatte zwar Generationenkämpfe gegeben (die jungen Klopstock-Verehrer hatten Wielands «Idris» verbrannt, der junge Goethe hatte gegen den gerade nach Weimar übersiedelten Wieland polemisiert), aber das hatte sich gegeben wie ein Familienstreit, der sich wieder legt. An der Schwelle zum 19. Jahrhundert dagegen findet eine Umbildung der literarischen Szene statt, die den «Vorbericht» im Moment seiner Niederschrift obsolet und anachronistisch werden lässt.

Als die Brüder August und Friedrich Schlegel 1798 in ihrer Zeitschrift «Athenäum» ihren Angriff auf Wieland starteten, war das nicht nur ein Streit, den eine jüngere gegen eine ältere Generation führte, was es natürlich auch war, sondern es war eine marktstrategische Aktion. Es ging darum, Terrain zu besetzen, nicht einfach Aufmerksamkeit zu heischen, sondern Gegenaufmerksamkeit zu errichten. Das war weniger ellenbogenhaft als marketingmäßig. Wieland nahm einen neuen Ton wahr, den er auch aus den Goethe/Schillerschen «Xenien» heraushörte, und empfand ihn als rüpelhaftes und niveauloses Benehmen. Aber ein solcher Tadel trifft nicht mehr, wenn sich das Ambiente ändert. Für den Wieland des «Vorberichts» war das literarische Deutschland keine Umwelt mehr, in der Literatur, wie er sie sich dachte, gedeihen konnte, weil es die Literaten nicht mehr zu geben schien, die dazu gehörten. Es war in der deutschen Literatur etwas vor sich gegangen, das noch nicht ganz überschaubar war.

Am 13. August 1808 schreibt Christoph Martin Wieland an Volrath Friedrich Karl Ludwig zu Solms-Rödelheim, den...

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