Demokratie -  Hedwig Richter

Demokratie (eBook)

Eine deutsche Affäre
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2023 | 1. Auflage
416 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-80216-4 (ISBN)
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Dass alle Menschen - wirklich alle! - gleich sein sollen, galt die längste Zeit als absurd. Die Historikerin Hedwig Richter erzählt, wie diese revolutionäre Idee aufkam, allmählich Wurzeln schlug, auch in Deutschland, und gerade hier so radikal verworfen und so selbstverständlich wieder zur Norm wurde wie nirgends sonst. Politikverdrossenheit und geringe Wahlbeteiligungen lassen die Alarmglocken schrillen. Demokratie in der Krise! Doch von Anfang an bedurfte es besonderer Anstrengungen - von Alkohol über Geld bis zum staatlichen Zwang -, um Menschen zur Wahl zu bewegen. Ein besserer Gradmesser für die Demokratisierung ist daher der Umgang mit dem menschlichen Körper: die Abschaffung von Leibeigenschaft und Prügelstrafen, der steigende Wohlstand, die Humanisierung der Arbeit, die gleiche Behandlung der Geschlechter. Hedwig Richter erzählt die Geschichte der Demokratie als eine Chronologie von Fehlern, Zufällen und Lernprozessen, in deren Zentrum der Zivilisationsbruch des Holocaust steckt. Ihr anschauliches Buch konzentriert sich auf Deutschland, weil gerade an der deutschen Affäre mit der Demokratie deutlich wird, wie international verflochten die Wege zu Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit sind.

Hedwig Richter lehrt als Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. Für ihre Forschungen wurde sie vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Preis der Demokratie-Stiftung und dem Anna-Krüger-Preis des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Durch ihre Bücher und regelmäßigen Beiträge für verschiedene Zeitungen ist sie einer großen Leserschaft bekannt.

EINLEITUNG


«Die Bauern sind Sklaven», so berichtete am Ende des 18. Jahrhunderts ein Zeitgenosse, und wer ein Dorf besuchte, dem liefen halb nackte Kinder nach Almosen schreiend entgegen. Die Erwachsenen hätten selbst «kaum noch einige Lumpen auf dem Leib, ihre Blöße zu decken». «Der Bauer wird wie das dumme Vieh in aller Unwissenheit erzogen», schrieb der Autor weiter. «Er muss vom Morgen bis zum Abend die Äcker durchwühlen.»[1] Die Charakterisierungen glichen sich: Das Gesinde auf dem Land werde «kaum als Menschen» angesehen, die Herrschaften traktierten die Menschen mit Grausamkeit, schlechter als das Vieh.[2] Die Beobachtenden allerdings waren die Städter, die Gebildeten, die Auswärtigen. Wie beurteilten die ländlichen Bewohnerinnen und Bewohner selbst ihre Lage? Was bedeutete Armut für sie? Was empfanden sie an ihrem Alltag als selbstverständlich, was als kritisch? Was war Glück?

Es ist nicht einfach, ihre Stimmen zu hören. Doch weisen sozialgeschichtliche Forschungen auf die Allgegenwart von Hunger in den ländlichen Räumen hin, auf den ungenügenden Wohnraum und die dürftige Kleidung. Harte physische Not prägte das Leben einer Mehrheit in ganz Europa, auch wenn es regionale Unterschiede gab und die Situation stark schwankte, je nachdem, wie die Ernte ausfiel, ob die Herren gütig waren oder das Land von Krieg überzogen wurde. Über Jahrhunderte, teilweise bis weit ins 19. Jahrhundert, glich sich die Lebenslage in ländlichen Räumen mit ihrer Ökonomie der Armut.[3]

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aber verbreitete sich eine explosive, ungeheure Idee, und immer mehr Denker wie Rousseau, Hugo Kołłątaj oder Friedrich Schiller, aber auch eine Frau wie Mary Wollstonecraft propagierten sie: die Idee von der Gleichheit und von der Würde der Menschen. «All men are created equal», hieß es 1776 in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Wenig später, im Jahr 1789, verkündigten die Männer der französischen Nationalversammlung die «Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte», die schnell in alle Sprachen Europas und darüber hinaus übersetzt wurde. Den Kern der Deklaration bildete neben der Freiheit erneut die Gleichheit: «Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren.»

Das war neu und unerhört: Naturrechtlich begründet war die Vision von Gleichheit «universal». Gleichheit für die wenigen hatte es schon in der Antike gegeben, nun sollte Gleichheit für alle Menschen gelten. Die Französische Revolution stieß diesen Stachel der Gleichheit in die Politik. Dort blieb er stecken, quälte, ließ keine Ruhe und führte zu Konsequenzen, die weitab dessen lagen, was Aufklärer und Revolutionäre gewollt hatten: Gleichheit der Menschen, unabhängig von Geschlecht und ethnischer Herkunft. Die Idee ließ sich nicht mehr aus der Welt schaffen. Nach und nach wurde sie überall zur Staatsaffäre. Dabei entfaltete «Universalismus» toxische Qualitäten, wirkte exklusiv, weil er lange Zeit nur für den weißen Mann galt und alle anderen umso schärfer ausschloss – denn es waren scheinbar schon «alle» gemeint. Dipesh Chakrabarty spricht von den «privilegierten Erzählungen der Staatsbürgerschaft», ohne die Moderne nicht zu denken sei und die der Konstruktion der anderen bedürfen, die außen vor bleiben.[4] Bis heute wird immer wieder neu um die Ausmaße von «Universalität» gerungen, doch bleibt sie als prinzipieller Anspruch unverzichtbar für die Entwicklung moderner Demokratie.

«Die Ideen von Freiheit und Gleichheit stehen wie zwei Sterne über den Völkern seit einem halben Jahrhundert», schrieb der Schweizer Jeremias Gotthelf 1841 über die Ausbreitung der neuen Gedankenwelten und fürchtete, die unteren Schichten würden die Versprechen beim Wort nehmen, aber wer wolle «es dem Armen verargen, wenn er ihre Bedeutung, ihre Verheißungen missverstund und immer mehr missversteht?»[5] Noch lange und immer wieder neu hofften Männer wie Gotthelf, den umstürzenden Gehalt von universeller Gleichheit aufhalten oder einschränken zu können. Oft genug gelang es ihnen.

Wie revolutionär die Verbindung von Gleichheit und Universalität war, wird erst angesichts der omnipräsenten Ungleichheit im 18. Jahrhundert deutlich: angesichts der Not der großen Mehrheit von Männern, Frauen und Kindern und der Selbstverständlichkeit ihres Elends gegenüber einer relativen Sicherheit im Leben weniger Privilegierter.[6] Wahrscheinlich widersprachen wenige Ideen mehr der Alltagserfahrung als die Idee der Gleichheit. Ungleichheit bildete die Grundlage des Lebens und trotz aller Aufklärung immer auch noch des Denkens. Sie war das Prinzip von Herrschaft, sie bildete den Boden des dörflichen und des ständischen Lebens, der Erziehung, der Kleiderordnungen und des Geschlechterverhältnisses. Exekutionen variierten je nach Stand. Den Kelch im Abendmahl erhielten oft nur die Geistlichen. Armut herrschte nicht als ein relatives Phänomen, sondern war eine Frage des nackten Überlebens: Wer am unteren Ende stand, der hatte oft nicht genug, um sein Leben zu erhalten.[7]

Gleichheit aber bildet das Herzstück von Demokratie – gemeinsam mit Freiheit und Gerechtigkeit, die ihre radikale Wirkung erst im Verbund mit Gleichheit entfalten. Wie bei der Gleichheit gilt auch hier: Freiheit und Gerechtigkeit für wenige, das war nichts Neues, nun aber ging es um die ganze Menschheit. Die Umbrüche mit dem Beginn der Moderne in den Jahrzehnten um 1800 sind ohne diese Radikalität kaum verständlich. Der Soziologe Rudolph Stichweh spricht von «Inklusionsrevolutionen», die seit dieser Zeit stattfanden: Die Gesellschaften bezogen immer mehr Gruppen ein, immer mehr Menschen nahmen an wesentlichen sozialen und politischen Prozessen teil.[8] Gewiss ist die Einteilung in Moderne und Vormoderne eine idealtypische Zuspitzung. Doch die Menschen selbst empfanden den tiefen Bruch im Übergang zur Moderne, und es ist kein Zufall, dass das Ideal der universellen Gleichheit in dieser Zeit auf den Plan trat und begann, das politische Leben auf den Kopf zu stellen. Fand in der Vormoderne die Kommunikation innerhalb der Ständeordnung statt, so ging sie nun darüber hinaus, die Inklusionsprozesse rückten die Menschen näher aneinander heran – was wesentlich zur Sichtbarkeit der Ungleichheit beitrug, ja, sie in gewisser Weise überhaupt erst produzierte und damit die Voraussetzungen schuf, sie zu skandalisieren und zu bekämpfen. Reinhart Koselleck nennt die Entstehung der Moderne um 1800 die Sattelzeit, in der gleichsam ein Bergsattel überschritten wurde und sich eine gänzlich neue Welt eröffnete.

Demokratie fasse ich also weit als ein Projekt von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit. Definitionen sind Konventionen, Übereinkommen, damit klar ist, wovon die Rede ist. Es wäre genauso legitim, nach dem Begriff «Demokratie» zu fragen und zu klären, wann und wie er verwendet wurde, von Anarchisten im 19. Jahrhundert etwa oder von Theoretikern des Nationalsozialismus. Das vorliegende Buch interessiert sich jedoch nicht für die Begriffsgeschichte, sondern für das normative Projekt der liberalen Demokratie, das sich mit der Moderne und in enger Verbindung mit Vorstellungen von Menschenwürde herausgebildet hat. Der Begriff des Projekts verweist auf den Erwartungshorizont, die Fortschrittshoffnung, die mit Demokratie verbunden wird.[9] Die beiden Begriffe «Demokratie» und «Republik» sollen – wie zumeist seit der Moderne im 18. Jahrhundert – synonym verwendet werden. Ihre strenge Trennung ist vor allem eine nachträgliche ideenhistorische Konstruktion, zuletzt ins Feld geführt von Skeptikern gegenüber einer liberalen Demokratie, die die Republik als die bessere, weil elitärere Regierungsform verstehen.[10]

Es geht bei der Demokratie um das Glück der Menschen, um «pursuit of happiness», wie es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung heißt. Glück und die Ideale von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit bedeuteten zu allen Zeiten etwas anderes. Diese Geschichte der Demokratie will den Veränderungen nachgehen und schauen, welche Geltung die Menschenwürde, in der die demokratischen Ideale komprimiert sind, in den sich wandelnden Zeiten hatte. In historischen Demokratiestudien können enge normative Definitionen von Demokratie, die sie als eine bestimmte Staatsform mit bestimmten verfassungsrechtlichen Garantien verstehen, den Blick auf die oft widersprüchlichen Anfänge und die zuweilen divergierenden Entwicklungen von Demokratie verstellen. Das heißt, die Genese des normativen Projekts der Demokratie sollte nicht normativ analysiert werden. Sonst würde Demokratiegeschichte die dunklen Seiten der Demokratie ignorieren und die...

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