Die schwarze Lilie (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
608 Seiten
Paul Zsolnay Verlag
978-3-552-07380-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die schwarze Lilie - Dirk Schümer
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Nach 'Die schwarze Rose' die Fortsetzung von Dirk Schümer - dem 'großartigen Geschichtenerzähler' (Donna Leon)
1348: In der Finanzmetropole Florenz wütet die Pest, während die Söhne des mächtigen Bankiers Pacino Peruzzi nacheinander ermordet werden. Wittekind Tentronk, den es als Agent des Patriarchen aus Avignon an den Arno verschlagen hat, erkennt zu spät einen blutigen Wettlauf um Geld und Rache, den er nur verlieren kann.
Wie in seinem vielbeachteten Roman 'Die schwarze Rose' spannt Dirk Schümer einen Bogen in die Gegenwart. Er erzählt von der größten Bankenpleite vor 2008, von der schlimmsten Pandemie aller Zeiten, vom Krieg auf der Krim, aber auch von Wittekinds Liebe zu der schönen Marktfrau Cioccia und einem illustren Freundeskreis um den erfolglosen Poeten Boccaccio und Dantes versoffenen Sohn Jacopo.

Dirk Schümer wurde 1962 in Soest geboren und studierte Germanistik, Philosophie und mittelalterliche Geschichte in Hamburg und Paris. Er arbeitet seit Anfang der 1990er Jahre als Redakteur und Kulturkorrespondent der F. A. Z. in Venedig und Wien und seit November 2014 in gleicher Funktion für die Welt-Gruppe. 2022 erschien bei Zsolnay sein erster Roman Die schwarze Rose.

Florenz, September 1348


Schweißgebadet wachte ich auf. Angst krampfte mir das Herz zusammen, bis ich merkte: Es war alles nur ein böser Traum. Cioccia war fort, und wie so oft in den vergangenen Monaten hatten mich die Totengräber mit ihrem Geschrei geweckt:

Leichen! Schafft eure Leichen auf die Straße!

War es ein Wunder, wenn mich im allgemeinen Sterben und Verwesen Albträume plagten? Die Schmerzen des Heilands am Kreuz. Die machtlose Ohnmacht der Gottesmutter. Märtyrer, denen die Folterknechte Nägel durch Arme und Beine trieben. Todesqualen, Pein, Hölle. Welche Bedeutung hatten die grausamsten Visionen der Bibel und der Bußpredigten noch gegen das Verrecken der Menschen, in dem wir uns eingerichtet hatten?

Ich schob die Läden auf und blickte nach rechts auf die Straße. Die Totengräber schoben ihren Karren auf die Piazza Santa Croce; drei leblose Körper lagen darauf, nackt, übereinandergeworfen mit Gliedmaßen, die seitlich herabbaumelten. Es war ein vertrauter Anblick. Vor wenigen Wochen erst hatte es noch schlimmer ausgesehen. Da karrten die Totengräber unserer Nachbarschaft jeden Morgen dutzende von Leichen zum Arno, wo sie Massengräber ausgehoben hatten. Als ich einmal vorbeikam, beförderten sie die Körper mit Schwung in die Grube, immer mit etwas Erde und ein paar Händen Kalk dazwischen, genauso wie die Köche Lasagne schichten, nur dass sie statt Käse Erde nahmen. Immer wieder Fleisch und Erde, Fleisch und Erde.

Seit Monaten herrschte der Tod in den Straßen von Florenz, und leer war es geworden in den Buden und Werkstätten, in den Kirchen und auf den Märkten. Gedränge gab es nur mehr in den Massengräbern, wo sich die raren Lebenden der zahllosen Toten entledigten. Dies war die fürchterlichste Pest, die das Menschengeschlecht seit Anbeginn der Welt mitgemacht hatte.

War es das Ende der Welt? In jedem Land begann das große Sterben, niemand konnte fliehen. Hier in Florenz war inzwischen beinahe jeder Zweite tot, und es war noch nicht vorbei. Unter entsetzlichen Qualen wurden die Kranken dahingerafft, mit Beulen in der Leiste und unter den Armen, mit offenen Wunden und blutigem Husten, schreiend vor Pein und fluchend auf den Schöpfer, der ihnen solche Schmerzen bereitet hatte. Nach spätestens zwei Tagen, wenn die Beulen mit einem Gurgeln aufplatzten, konnten die Todgeweihten nur noch winseln. Und schweißiger Gestank drang ihnen aus Mund und Nase, als hätte das Aas, das sie bald sein würden, bereits seit Tagen in der Sonne gefault.

Ich schüttete aus einem Krug Wasser in die Schüssel und wusch mir den bösen Traum aus den Augen. In wachem Zustand wollte ich keine Sterbenden mehr sehen. Ich wollte leben. Denn noch niemals war ich so glücklich gewesen wie zur Zeit der Pest. Was ich jetzt brauchte, war ein Frühstück. Zum Purgatorio waren es nur ein paar Schritte. Meo, der Wirt, hatte die Schankräume auch während der schlimmsten Tage der Pest nicht dichtgemacht. Er allein wusste, wo er frisches Bier und sauberes Fleisch auftrieb, selbst als die Priori im Sommer die Stadttore verrammeln ließen und allen Wirtsleuten befahlen, die Türen zu schließen. Meo hatte sich nicht daran gehalten und ließ Stammkunden wie mich durch die Hintertür herein. So hatte er die Pest auf seine Weise besiegt: indem er so tat, als sei sie nicht da.

Lästermäuler behaupteten, Meo beziehe seinen Lampredotto aus den Speisekammern der Toten und plündere nachts die verlassenen Weinkeller. Aber auch solche Lästerer kamen ins Purgatorio, weil sie wussten, dass es nirgendwo in Santa Croce günstigeres Essen gab. Und die Gespräche mit Meo gab es umsonst dazu. Ich ging jeden Tag hin, um zu essen, zu trinken, um mir die Zeit zu vertreiben. Vor allem jedoch weil ich an der Piazza hoffen konnte, Cioccia bei der Arbeit zu sehen. Sie hatte es mir verboten, doch an diesem Morgen konnte ich nicht anders, als zu ihrem Gemüsestand an der Ecke zu gehen. Sie war nicht da. Wahrscheinlich kaufte sie gerade frische Ware bei den Booten unten am Arno, während der Junge, der ihr seit ein paar Wochen beim Verkauf half, auf den Stand aufpasste.

Ein Rundblick durchs Halbdunkel der Schankstube genügte, um festzustellen, dass an diesem Morgen die Stammgäste versammelt waren. Nie war ich freudiger begrüßt worden als zu Pestzeiten, nie hatte ich mich meinerseits mehr gefreut, meine Trinkkumpane gesund und munter anzutreffen. Wobei munter vielleicht nicht das richtige Wort war, denn jeder, der mich mit kurzem Wink gegrüßt hatte, saß an diesem Morgen auf seiner Bank schweigend vor einem Becher gewürztem Wein, nahm ab und zu mit heiligem Ernst einen Schluck, um sich Kraft anzutrinken für einen weiteren Tag. Wir hatten wieder eine Nacht überlebt.

Die Ärzte mit ihrer Medizin können dir nicht helfen, hatte Meo schon zu Ostern gesagt, als die Seuche über die Stadt herfiel. Die Pfaffen mit ihren Gebeten können dir auch nicht helfen. Die Priori mit ihren Verboten können es ebenso wenig. Kein Mensch weiß, was die Pest ist und woher sie kommt. Darum trink, Wittekind! Trink viel! Mein Wein ist der einzige Schutz. Und wenn du doch sterben musst, dann stirbst du wenigstens im Rausch.

Den ganzen Sommer über hatte ich mich an Meos Rat gehalten. Arbeiten musste ich nur dann und wann, Geld war kein Problem, und allein zu Hause wäre ich verrückt geworden. Wenn man in diesen Zeiten nicht wenigstens mit anderen Menschen zusammensaß und sich gegenseitig etwas erzählte, dann konnte man sich gleich auf den Karren der Totengräber legen. Wer redet, ist nicht tot, sagte Meo immer. Und wer mit einem Becher in der Hand dem Tod zuprostet, der liebt das Leben. Der Teufel säuft Blut, aber keinen Wein, so sagen wir bei uns in Siena.

Seit ich Cioccia kennengelernt hatte, trank ich weniger. Sie wollte, sagte sie, sich nicht zu einem Säufer ins Bett legen. Du riechst nach Wein aus dem Mund, genau wie früher mein Mann, hatte sie nachts geflüstert, wenn sie heimlich zu mir herüberkam. Das ist widerlich. Würdest du abends mit uns singen und beten, dann wärst du erfüllt von der Gnade der Jungfrau, und du müsstest nicht saufen wie ein Deutscher.

Mein Hinweis, dass ich ein Deutscher war und deswegen gerne trank, machte auf sie keinen Eindruck. Und über die Gnade einer Jungfrau, die ich um keinen Preis mit der wenig jungfräulichen Gnade Cioccias vertauscht hätte, machte ich ihr gegenüber besser keine Witze. Sie war dann imstande, aus meinem Bett aufzustehen und wieder in ihre Kammer hinüberzusteigen. Ich hatte es erlebt.

Cioccias Heilmittel gegen die Pest bestand in ihrer Gemüsesuppe mit viel Knoblauch und Rosmarin, die sie alle zwei Tage in einem großen Topf kochte und an ihre Schützlinge verteilte. Diese Brühe schmeckte wirklich gut. Brav kam dann auch ich, um meine Ration von ihr in Empfang zu nehmen; das gab kein Gerede. Ich war Cioccias Nachbar, ich konnte getrost mit den Kindern und den Armen von Santa Croce aus ihrem Topf essen, solange es tagsüber geschah und in aller Öffentlichkeit. Nachts konnte ich Cioccia für ihre Kochkünste loben und sie mich für meine Enthaltsamkeit beim Trinken. Denn nun roch ich, vor allem wenn ich mir den Mund gespült und meine Zähne mit einem Riechholz geputzt hatte, nur noch nach Cioccias Knoblauch. Mein Morgengebet gegen die Pest, das tägliche Frühstück bei Meo mit Würzwein und Lampredotto, hatte ich mir trotzdem nicht nehmen lassen.

Ins Inferno mit allen Ärzten und Studierten! Merkt ihr denn nicht, wie sie uns betrügen mit ihrer Klugschwätzerei? Brennen sollen sie!

Der Mann, der das rief, gehörte zu den Stammkunden im Purgatorio. Wir alle kannten die Ausbrüche von Jacopo. Lang und mager, steckte der Mann stundenlang seine Adlernase in den Becher und fing dann plötzlich an zu schreien. Trotz der frühen Stunde wirkte er betrunken. Meo brachte mir gerade meinen Napf mit Lampredotto und zog die Brauen hoch. Dann ging er zu Jacopos Bank und legte ihm beschwichtigend den Arm auf die Schulter. Jacopo stieß ihn weg und schrie:

Es sind die Ratten! Merkt ihr es nicht? Die Ratten bringen die Pest, mit ihren spitzen Zähnen, mit ihren roten Augen! Sie sind schuld am großen Sterben. Erst wenn wir alle Ratten töten, wird die Pest verschwinden. Warum glaubt mir denn keiner?

Meo hatte solche Ausbrüche von Wahn schon oft erlebt. Er kannte Jacopo seit ihrer gemeinsamen Jugend in Ravenna, wo ihre Väter einst im Exil...

Erscheint lt. Verlag 24.7.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 14. Jahrhundert • Avignon • Bankenkrise • Boccaccio • Dante • Der Name der Rose • Donna Leon • Florenz • Frankreich • Geschichte • Italien • Liebesgeschichte • Mittelalter • Pandemie • Pest • Umberto Eco
ISBN-10 3-552-07380-9 / 3552073809
ISBN-13 978-3-552-07380-7 / 9783552073807
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