Mütter Europas (eBook)

Die letzten 43 000 Jahre

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
271 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-81388-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mütter Europas -  Karin Bojs
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Wie lebten Frauen in der Stein- und Bronzezeit? Wie waren die Geschlechterverhältnisse in der Zeit vor Erfindung der Schrift? Bis vor Kurzem beruhten alle Antworten auf diese Fragen mehr oder weniger auf Spekulation. Doch seit DNA-Analysen für die prähistorische Forschung zur Verfügung stehen, hat sich dies geändert. Dieses Buch trägt die neuesten Ergebnisse zusammen und fragt, wann und warum in Europa das Patriarchat entstand. Die Prähistorikerin Marija Gimbutas entwickelte in den 1950er Jahren eine Theorie, nach der in «Alteuropa» eher friedliche, matrilineare Gesellschaften existiert hätten, die einem Kult der Muttergöttin huldigten und eher gleiche Geschlechterverhältnisse produzierten. Diese Gesellschaften seien durch patriarchalisch orientierte Reitervölker aus dem Osten verdrängt worden. Gimbutas Thesen wurden lange Zeit weitgehend abgelehnt, doch die neuesten DNA-Analysen stützen sie teilweise. Sie weisen die von ihr beschriebenen Wanderungsbewegungen nach und auch einen Wandel in den Geschlechterbeziehungen. Karin Bojs führt an die Ausgrabungsorte, analysiert die Funde und sucht nach den Faktoren, die patriarchalische Strukturen begünstigten. Eine spannend geschriebene Entdeckungsreise in die Welt der Archäologie.

Karin Bojs war bis 2013 Leiterin der Wissenschaftsredaktion der auflagenstärksten schwedischen Tageszeitung "Dagens Nyheter" und schreibt immer noch Kolumnen für die Zeitung. Sie hat die Ehrendoktorwürde der Universität Stockholm und wurde für ihre Arbeit mit einer Reihe bedeutender Preise ausgezeichnet. 2015 erschien ihr Bestseller "Meine europäische Familie. Die letzten 54000 Jahre".

3. Lucy, Ardi und die Affen


«Das ist die Evolution», sagt man. «Unsere Biologie hat uns so gemacht.»

Dabei kann es um unsere Ernährung gehen, zum Beispiel um Gluten, Milch, Fleisch oder Kohlenhydrate. Oder darum, welche Geschlechterrollen die «natürlichsten» für uns Menschen sind. Ich glaube, es ist keine gute Idee, die Evolution und die Biologie des Menschen heranzuziehen, wenn man tagesaktuelle Fragen diskutiert. Wenn man dennoch auf solche Argumente zugreifen will, kann es vorteilhaft sein, ein wenig Ahnung davon zu haben, was die heutige Wissenschaft tatsächlich über unseren evolutionären Ursprung sagt.

Es gibt inzwischen fast acht Milliarden Menschen unserer Art. Wir haben uns auf allen Kontinenten der Erde ausgebreitet, wir unterhalten selbst in der Antarktis Forschungsstationen. Wir unterscheiden uns sehr von unseren nächsten Verwandten, die noch am Leben sind, nämlich den Schimpansen und Bonobos. Schwer bedrängt und vom Aussterben bedroht leben sie in einem begrenzten Gebiet am Äquator auf unserem gemeinsamen Ursprungskontinent Afrika. Den Schimpansen und Bonobos fehlen offenbar einige Eigenschaften, die uns moderne Menschen auf der Erde so zahlreich werden ließen.

Dazu gehört die Fähigkeit, weite Strecken zurückzulegen.

Bei Schimpansen und Bonobos sind die Gesäßmuskeln kleiner und schwächer als unser in der Tierwelt unübertroffener Gluteus. Ihre Becken sind anders konstruiert – gut für die Weibchen beim Gebären, aber schlecht für alle, die lange Strecken gehen oder rennen wollen. Ihre Achillessehnen sind kurz und hart, unsere dagegen lang und geschmeidig. Das Verhältnis von Hals, Brustmuskulatur und Schultern ist ein anderes, was es uns leichter macht zu gehen, zu rennen oder etwas zu werfen. Vielleicht sind Schimpansen und Bonobos auch weniger neugierig und abenteuerlustig als wir – das aber ist wissenschaftlich schwerer zu belegen.

Wie sieht es mit ihren Geschlechterrollen aus? Oder mit dem Machtverhältnis der Geschlechter, wenn wir es einmal so ausdrücken wollen? Sehr unterschiedlich, wie sich zeigt.

Schimpansen und Bonobos sind gleich eng mit uns Menschen verwandt. Unsere genetische Linie trennte sich vor ungefähr sieben Millionen Jahren von den ihren. Vor ein paar Millionen Jahren entwickelten sie sich dann auseinander. Zu jener Zeit hatten sie bereits fundamental unterschiedliche Rollen für Männchen und Weibchen ausgeprägt.

Schätzungsweise sind noch ein paar hunderttausend Schimpansen übrig. Sie werden seit mehr als einem halben Jahrhundert intensiv studiert, unter anderem von der Pionierin Jane Goodall im Gombe-Nationalpark. Die Ausbreitungsgebiete der verschiedenen Untergruppen befinden sich alle nördlich des Kongo-Flusses – von Senegal im Westen bis Uganda und Tansania im Osten. Das Geschlechtsleben der Schimpansen läuft meistens so ab, dass sich ein Männchen einem Weibchen zur Zeit des Eisprungs von hinten nähert – wie es bei den meisten Säugetieren üblich ist.

Die Männchen unterhalten starke Netzwerke mit Hierarchien, Allianzen und Machtspielen, die so verzwickt sind, dass schon Bücher über «Schimpansenpolitik» geschrieben wurden.

Im Gegensatz zu den Cliquen der Männchen leben die Schimpansenweibchen eher allein, ohne näheren Kontakt zu den anderen Weibchen in der Horde. Dadurch werden sie leichter zu Opfern der aggressiven und physisch stärkeren Männchen. Gewalt ist an der Tagesordnung, sowohl innerhalb der Gruppe als auch gegen Schimpansen in anderen Gruppen. Oft werden Weibchen und Nachkommen misshandelt, manchmal Junge sogar getötet. Es ist ganz und gar nicht ungewöhnlich, dass Weibchen gegen ihren Willen zum Sex gezwungen werden.

Die Weibchen nehmen so gut wie immer einen niederen Rang ein und dürfen erst nach den Männchen essen. Forscher beschreiben die Gesellschaftsordnung der Art als «male-centric» und «male-dominant». Auf gut deutsch könnten wir sagen: Schimpansen leben in einem lupenreinen Patriarchat.

Die weniger bekannte der beiden Arten sind die Bonobos. Lange gab es nur Daten von Tieren, die in zoologischen Gärten in Gefangenschaft lebten – ein unnatürlicher Lebensstil, der zu speziellen Verhaltensweisen führen kann. Erst im letzten Jahrzehnt begannen Forscher, über systematische Observationen in den unzugänglichen Regenwäldern südlich des Kongoflusses zu publizieren, wo schätzungsweise 10.000 bis 50.000 Bonobos in kleinen Gruppen leben.

In der Regel leben Bonobos sehr friedlich. Die Männchen neigen weit weniger zur Gewalt als Schimpansen, sowohl innerhalb der eigenen Gruppe als auch gegenüber anderen Gruppen von Bonobos. Die Art wird wegen ihrer Toleranz, ihrer Friedfertigkeit und ihres facettenreichen Sexuallebens manchmal «Hippieaffe» genannt. Eine Bonobogruppe besteht sowohl aus erwachsenen Männchen als auch aus erwachsenen Weibchen. Sie haben oft Sex miteinander, in allen denkbaren Konstellationen: Männchen mit Weibchen, Weibchen mit Weibchen, Männchen untereinander, Erwachsene mit Jungtieren … Oft kopulieren sie einander zugewandt, zum Beispiel in der Missionarsstellung, was in der Tierwelt sehr ungewöhnlich ist. Die Weibchen sind auch außerhalb der Periode, in der sie schwanger werden können, zugänglich, und genau wie bei Menschen gibt es mehr Sex als zur Produktion von Nachkommen nötig wäre. Bonobos verwenden Sex zum Beispiel, wenn sie Fremde begrüßen, Konflikte lösen und Spannungen zwischen Individuen vermeiden wollen, und im Allgemeinen, um den Zusammenhalt zu stärken.

Die Weibchen sind kleiner als die Männchen. Trotzdem gelingt es ihnen, einen hohen Status in der Gruppe aufrechtzuerhalten. Ein Weibchen in mittleren Jahren oder älter hat oft einen höheren Rang als sämtliche Männchen. Jüngere Weibchen sind den Männchen gleichgestellt, dürfen aber für gewöhnlich vor ihnen fressen. Ein Bonobomännchen ist seiner Mutter lebenslang eng verbunden; sein Status in der Gruppe ist von ihrem Rang abhängig. Die Mutter pflegt ihren Sohn anzufeuern, wenn ein Männchen ein anderes herausfordert und Radau macht. Eine Mutter mit hohem Status bedeutet für das Männchen größeren sexuellen Erfolg und mehr Nachwuchs.

Im Unterschied zu Schimpansen und Menschen sind die Bonobomännchen nicht besonders gut darin, mit ihresgleichen Netzwerke zu bilden. Die Weibchen dagegen bilden Cliquen, verbringen viel Zeit miteinander und arbeiten eng zusammen. Das trägt dazu bei, dass sie die Oberhand behalten, obwohl sie kleiner und physisch schwächer sind als die Männchen. Wenn ein Bonobo versucht, Gewalt gegen ein Weibchen oder ein Junges auszuüben, fällt eine Clique Weibchen über ihn her, verprügelt ihn und verhindert so die Tat. Wir könnten die Gesellschaftsordnung der Bonobos Matriarchat nennen. Wissenschaftler verwenden jedoch eher die englischen Begriffe «female-centric» und «female-dominant».

Eine mögliche Erklärung für den großen Unterschied im Verhalten der beiden Arten ist, dass die Bonobos in größerem Maße einen Mechanismus durchlaufen haben, den Forscher Selbstdomestizierung nennen. Domestizierung heißt der evolutionäre Prozess, der stattfindet, wenn Menschen wilde Tiere zu Haustieren zähmen und züchten, zum Beispiel, wenn Wölfe zu Hunden oder Dschungelhühner zu zahmen Hühnern entwickelt wurden.

Im Fall der Bonobos fand diese Zucht innerhalb der Gruppe statt. Die Weibchen haben die wildesten, stärksten und aggressivsten Männchen in die Schranken gewiesen und andere Qualitäten bestimmen lassen, welche Männchen beim Sex den Vorrang bekommen.

Typische Konsequenzen der Domestizierung sind verminderte Aggressivität, eine gewisse Verspieltheit und größere Toleranz. Der Effekt zeigt sich nicht nur im Verhalten, sondern auch an einigen äußeren Merkmalen. Dazu gehört eine geringere Körpergröße und einige kindliche Züge im Erwachsenenalter. Das passt genau zu den Bonobos. Sie sind etwas kleiner als gewöhnliche Schimpansen und werden deshalb manchmal Zwergschimpansen genannt. Sie haben auch kleinere Zähne und behalten die für Jungtiere typische Schwanzquaste und rosafarbenen Lippen auch im Erwachsenenalter.

Manche Forscher glauben, dass auch wir modernen Menschen eine Selbstdomestizierung durchlaufen haben, und dass solche Prozesse über lange Zeit stattfanden. Sie hat vermutlich einen Teil des aggressiven und asozialen Verhaltens von Männern beseitigt.

Das Problem ist, dass wir so wenig zum Vergleichen haben. Alle sind tot. Nach sieben Millionen Jahren Evolution sind nur noch Schimpansen und Bonobos übrig (mit knapper Not). Und wir, die modernen Menschen. Homo sapiens, wie wir manchmal genannt werden. Es sollte uns aber bewusst sein, dass diese Artenbezeichnung problematisch ist, wenn wir uns mit Studien vom Menschen...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2024
Übersetzer Erik Gloßmann
Zusatzinfo mit 19 Abbildungen und 2 Karten
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Vor- und Frühgeschichte / Antike
Schlagworte Archäologie • Ausgrabungen • Bronzezeit • DNA-Analyse • Frauen • Frühgeschichte • Geschichte • Geschlechterverhältnisse • Muttergöttin • Patriarchat • Sozialgeschichte • Steinzeit • Wanderungsbewegungen
ISBN-10 3-406-81388-7 / 3406813887
ISBN-13 978-3-406-81388-7 / 9783406813887
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