Die Horde im Gegenwind -  Alain Damasio

Die Horde im Gegenwind (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
715 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-0972-6 (ISBN)
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Eine leere Welt, in der tagein, tagaus der Sturm tost. Manchmal verebbt er zu einem sanften Slamino, selten rast er als verheerender Grimmwind übers Land, doch er weht ohne Unterlass, und stets in dieselbe Richtung: von Fernauf nach Fernab. Immer wieder werden speziell ausgebildete Gruppen - genannt »Horden« - losgeschickt, um stromaufwärts gegen den Wind zu gehen, zu »kontern«, immer weiter, bis zu seinem Ursprung, um die alles überschattende Frage zu beantworten: Woher weht der Wind? Und warum? Was ist da oben, in den unwegsamen Gebieten, die »Fernauf« genannt werden? Dreiunddreißig Horden sind bislang verschollen, umgekommen oder entmutigt am Wegesrand sesshaft geworden. Doch die vierunddreißigste Horde ist fest entschlossen, die letzte zu sein, die Geschichte vom Wind zu Ende zu schreiben. Ob der wahnhafte Furor ihres Anführers Golgoth ihnen dabei Antrieb oder Verhängnis sein wird, ist genauso ungewiss wie das Ergebnis der Berechnungen von Aeromeisterin Oroshi, die den Wind entschlüsseln will wie eine mathematische Formel. Sicher ist nur, dass Sov, der Schreiber, ihre Erlebnisse und Erkenntnisse in seinem Konterbuch festhält, alle Anfänge und Enden dieser Reise, die für fast alle Mitglieder der Horde ein Leben lang dauern wird. Die Gefahren, denen die Horde begegnet, sind physischer wie metaphysischer Natur, der Wind selbst zerrt an der Erzählung, die diesen einzigartigen Roman ausmacht. 

Alain Damasio, 1969 in Lyon geboren, ist Romancier, Musiker, Klangartist, Entwickler von Videospielen und noch vieles andere mehr. In seinen Romanen, von der Kritik gefeiert, vom Publikum verschlungen, erforscht Damasio die unerschöpflichen Möglichkeiten polyphoner Narrative in einer geradezu physiologischen Bearbeitung der Sprache, die zum Motor der Emanzipation im weitesten Sinne wird. Sein Roman Die Flüchtigen wurde 2019 mit dem Preis Meilleur Livre der Zeitschrift Lire ausgezeichnet. 2020 erhielt Damasio für seinen Roman den Grand Prix de l'Imaginaire.

I.


Äolot


) Bei der fünften Salve treibt die Schockwelle einen Riss in den Schanzenhals und der sandige Wind drang rau durch die klaffenden Granitfugen. Unter meinem Helm bohrt das schreckliche Geräusch zermalmten Gesteins; meine Zähne vibrieren – ich lehne mich gegen Pietro; Quarznadeln schleifen über seine Kontermaske. Auf dem Boden der uns umgebenden Gasse zwei alte Männer, die zu spät gekommen waren, sie hatten einen Fensterladen vernagelt und sind durchsiebt worden; ich halte vergebens Ausschau nach der Handvoll Kinder weiter vorn auf der Kreuzung, die barhaupt eine Schau abgezogen und Kampfansagen gemacht hatten, die niemand gegen eine solche Kraft, zumal bei dieser Zähigkeit der Luft, erheben darf, nicht einmal wir. Die gesamte Horde ist in diesem Moment gegen die Westseite eines Bauwerks gepresst, das uns im Vergleich zu anderen nicht ganz so erbärmlich verfugt schien, wir warten auf den Rückstrom, auf die kurze Pause in der Beschleunigung, die es uns erlauben wird, im Kontergang in das Straßenlabyrinth einzutauchen und bis zu den Befestigungen vorzudringen und von dort aus weiter, falls wir ausrücken wollen. Falls wir uns – letztendlich – dazu entscheiden sollten auszurücken. Von den höchsten Kuppeln hört man in den Windlöchern verbogenes Metall kreischen; ein Windrad quietscht, stottert – läuft wieder an … verklemmt sich. Die Blätter knistern unter dem Sandbeschuss. Eine weitere Bö – und das Geräusch wird von ihrem satten Gebrüll verschluckt. Zu meiner Linken zwängt sich eine längliche Katze mit zerzaustem Fell in einen Winkel, der für sie zu eng ist. Kaputte Spielzeuge und Kalebassen, über den Boden scharrende Bänke und Terrakottaziegel wie aus drei Metern Entfernung losgelassene Wurfgeschosse fliegen an uns vorbei. Jetzt gibt es keinen Zweifel mehr, für niemanden: Der Grimmwind kommt. In einer Stunde wird er da sein. Er kündigt sich wie immer mit einem Quintett an. Und er wird hier keinen Stein auf dem anderen lassen, in diesem Kaff, das in keinem Konterbuch zu finden ist, denn seine quadratischen Häuserblocks, die axialen Gassen und die Lehmbauten hätten schon eine achtjährige Oroshi zum Schreien gebracht.

»Wo ist Arval?«

»Kundschaftet das Gelände vor uns aus! Er sucht eine Öffnung im Festungswall.«

»Und Caracole?«

»Sie sind zusammen los.«

»Er soll verdammt nochmal beim Pack bleiben. Scheiße! Ruft sie zurück!«

»Ist das dein Ernst? Ich höre Sov ja auf vier Meter nicht!«

»Was? Was ist los?«

»Carac hat sich wie ein Kobold vom Diamanten entfernt. Coriolis wurde hinten von ihrem Schlitten umgehauen.«

»War sie in seinem Windschatten?«

»Sieht so aus.«

»Scheißdreck …«

»Pietro? Was machen wir jetzt?«

»Horst nimmt Coriolis’ Position ein. Wir platzieren sie geschützt im Herzen des Packs. Alma wird sich um sie kümmern.«

»Wer springt für Horst ein?«

»Léarch. Er hat sich freiwillig gemeldet.«

»Und dann? Spielen wir Katzenfliegen?«

»Wir warten auf den Rückstrom, Firost.«

¿´ Freunde der offenen See, auf ein Neues: Seid gegrüßt! Junge Sandglyphen, Chrone und Antechrone, die sich ohne Benimm ankündigen werden, ich erwarte euch auf flinkem Fuß: Lasst uns einander willkommen heißen! Ach, dieser Grimmwind, der alte Pfeifer, wie ich es liebe, seine geflügelte Ankunft zu spüren, chaotisch natürlich, aber dennoch!?

Habe ich mich nicht vorgestellt? Entschuldigt den Augenblick, der zum Lyrischen verleitet; wir sind, seid gegrüßt, und ihr seid? Caracole, wo bin ich? Ja, er selbst, Troubadour also – und Erzähler von Geschichten. In wessen Dienst? Dem der 34. Horde im Gegenwind, meine Herrschlachten, mit sicherer Hand geführt von ihrem Spurter, dem verbissenen Böenbrecher Golgoth, neunter seines Namens. An seiner Seite, es muss erwähnt sein, unser Schutzkämpfer, der Schnitter mit dem Rotorblatt, ich spreche von Erg Machaon; und zu seiner Rechten, der Pfeiler aller Pfeiler, ein Balken auf zwei Beinen, Firost von Torog, den vor euch zu haben ihr noch schätzen werdet, meine Damen, wenn euch in weniger als einer Stunde meine Väter und Mütter ihr Mehl aus vollen Bronchien entgegenspeien. Nun! Und wer folgt auf diese drei Bestien? Wer erheitert und erbaut? Fürst Pietro, ein della Rocca vornehmster Linie, und sein Gegenstück, Bettlersohn, aufrechte Klinge, stets zu seiner Linken: mein Freund Sov der Tiefgründige, Schreiber genannt, doch für mich ein »Philosov«. Im Nest zwischen ihnen regt sich felsenfest Geomeister Talweg, der die Steine liebt, und dahinter – bin ich zu schnell, soll ich mich bremsen? –, hinter diesen sechs Wundersamen, die unsere Speer genannte Spitze bilden, befindet sich, wie soll es anders sein, das Pack, in drei kompakten Rängen, durchlüftet von unversöhnlichen Voglern, von einer klugen Sammlerin und einer Zünderin, von einem rätselhaften Kundschafter und zwei Handwerksmännern, von Drückebergern – hallo Larco! – und außerdem … wer auch immer? Die drei Fänge im Schlepptau geruhen, sich, uns zu folgen und die Lasten zu ziehen! Wie viele insgesamt? Dreiundzwanzig. Ohne die Habichte und Falken, versteht sich. Alle ausgerichtet, aufrecht, im Lot? Das wohl, ja, aber noch lebendig? Ich weiß nicht recht …

»Caracole!«

»Derbidil?«

»Ich habe das Tor gefunden. Lass uns abströmen und den anderen Bescheid sagen!«

π Ich warte Golgoths Reaktion ab. Er hat noch keinen Ton gesagt. Alles an ihm drückt Abscheu für das Dorf aus. Er schüttelt den Kopf und rammt die Hacken in den Lehm. Am Ende dieser viel zu geraden Gasse ist der Wall zu sehen. Die Lascini-Kräfte wüten zwischen den Häusern. Innerhalb von Minuten hat sich eine Decke aus Laterit über den staubgrauen gestampften Boden gelegt. Der Himmel hat die Farbe meiner Wurfscheibe angenommen. Ist nur mehr ein langer, sich immer schneller abrollender Metallteppich. Die Dorfstraßen haben sich endlich geleert. Einige Familien hatten noch den Anstand, ihre Alten einzusammeln. Man konnte sehen, wie Türen und Fensterläden sich eine nach der anderen schlossen. Kein Blick, kein Wort in unsere Richtung. Die Klügsten krochen in die Brunnen und zogen sorgfältig die Abdeckung über den Schacht. Die Nestlinge verbarrikadieren sich. Und bestimmt beten sie schon zu irgendeinem Gott, oder gleich mehreren.

»Auf mein Zeichen formieren wir uns neu! Konterdiamant! Fänge, ihr bleibt mit eurem Schlitten am Arsch hinterm Pack, Hände fest an die Griffe, schließt die Lücken! Wir machen uns im Schnellschritt vom Acker, kontern direkt zum Festungswall und dringen bis zum Durchgang vor. Dort bleiben wir stehen und klären das Weitere!«

»Warum versuchen wir nicht, bei den Falltüren anzuklopfen? Wir könnten Schutz in einem Brunnen suchen und das Ende des Sturms abwarten!«

‹› Da hat dein süßer Mund wahr gesprochen, meine hübsche Coriolis, aber keiner der Männer aus dem Speer wird auf dich hören, weil du nur ein Fang bist, du konterst hinten in der Schleppe und hast keine Ahnung vom Frontwind, du bist erst seit viel zu kurzer Zeit Teil der Horde, wie lange doch gleich, kaum acht Monate. Selbst mir, obwohl sie mich als Sammlerin und Rutengängerin respektieren, würden sie mit einem Lächeln sagen: »Kleine Aoi, komm doch nach vorn, wenn du willst, und gib uns Deckung …« Und natürlich könnte ich das nicht.

Selbst wenn es bedeuten würde, von einem Holzstück durchbohrt zu werden, würden sie lieber hier draußen im Wind sterben, auf dem flachen Land, als vergraben in einem Brunnen, mit vom Gewicht eines Balkens gebrochenen Wirbeln. Das hat nichts Rationales. Die Bedrohung draußen wird extrem sein. Hier hat man noch eine gewisse Kontrolle, wir müssten bloß eine vernünftige Mauer finden und uns anseilen, ich habe schon ein oder zwei gesehen. Aber was soll’s. Das werden wir nicht tun. Wir werden uns anbrüllen, oh, nicht viel, nur kurz: ein paar Gegenstimmen, bestimmt Silamphre oder Larco, Alma natürlich, und Sveziest, der beim Anblick von Coriolis’ Verletzungen schon jetzt in blanke Panik verfällt. Dann wird Golgoth sagen: »Los geht’s!« Und wir werden losgehen, weil er der Spurter ist, und weil er sich in dreißig Jahren kein einziges Mal geirrt hat, was einen Grimmwind anbelangt. Heute aber habe ich wirklich Angst.

Ω Sobald ich den Blaast gewittert hatte, seinen Kältegeruch, wusste ich, dass es heftig werden würde. Ich zog meinen Lederhelm bis über die Stirn und schnallte mein Wams fest zu. Bis unter den Rüssel. Ich zog den Kopf ein und stürzte los. In den Snjór. In der Gasse...

Erscheint lt. Verlag 7.3.2024
Übersetzer Milena Adam
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
ISBN-10 3-7518-0972-4 / 3751809724
ISBN-13 978-3-7518-0972-6 / 9783751809726
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