Der König von Lindewitz -  Kathrin Aehnlich

Der König von Lindewitz (eBook)

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2024
400 Seiten
Kunstmann (Verlag)
978-3-95614-593-3 (ISBN)
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Lindewitz ist nichts Besonderes, für seine Bewohner aber der Nabel der Welt. Man trifft sich vor der Bude auf dem Marktplatz und kommentiert das Zeitgeschehen. Den Überblick hat Bruno Henker, der örtliche Totengräber. Er ist der König von Lindewitz.

Bruno Henker weiß mehr als andere. Er kennt die Lebensläufe und Familiengeschichten, auch die Geheimnisse der Lindewitzer. Er weiß, warum der eine trinkt, wer wen verraten hat, wer Zugang zu den begehrten Westwaren hatte, und warum, wenn alles verfügbar, auch alles egal ist. Warum Claudia, die sich nach der weiten Welt gesehnt hat, als Touristenführerin in Lindewitz hängen blieb. Warum sich im Leben der 1923 geborenen Zwillinge Anne und Marie die Geschichte des ganzen Jahrhunderts spiegelt. Warum Tante Mausi, die mit 93 Jahren in einem Pflegeheim lebt, sich von ihrem Großneffen täglich eine Flasche Rotwein bringen lässt. Warum Claudius immer noch mit seiner fast hundertjährigen Mutter zusammenwohnt. Warum Benedikt es zum Entsetzen der Familie vorzog, nach einem mit Bravour absolvierten Jurastudium einen Späti in Tante Huldas ehemaligem Gemischtwarenladen zu eröffnen.

Bruno weiß auch, wie sich das Viertel durch die »Vorkommnisse« verändert hat. Diesen Überfall der Rechten auf das Viertel, die Nacht, in der sie die Scheiben eingeschmissen und brennende Fackeln auf die Dächer geworfen haben. Und warum darüber geschwiegen wird. Aber hat Schweigen je geholfen?

Kathrin Aehnlich wurde 1957 in Leipzig geboren. Nach dem Studium an der Ingenieurschule für Bauwesen studierte sie 1985–1988 am Literaturinstitut Leipzig. Sie schrieb Hörspiele, Erzählungen und ein Kinderbuch. Nach dem Fall der Mauer arbeitete sie als Journalistin, zunächst für die unabhängige Wochenzeitung Die andere Zeitung. Seit 1992 ist sie feste freie Mitarbeiterin in der Feature-Redaktion von mdr Figaro. Sie lebt in Markkleeberg und hat eine Tochter. Zuletzt erschien der Roman „Wie Frau Krause die DDR erfand“ (2019).

Der Roman eines ostdeutschen Jahrhunderts, in dem sich Zeitgeschehen und Zeitgeschichte spiegeln.

1 | DER KÖNIG VON LINDEWITZ


Das Schicksal trug eine rote Mütze. Er sah es deutlich vor sich, ein gebeugtes Wesen, eher Frau als Mann mit zerfurchtem Gesicht. Das Schicksal ging regelmäßig durch seine Träume. Die Haut war wettergegerbt, nur die schmalen Lippen wirkten fahl. Auf einen Stock gestützt bewegte es sich mühsam voran, Schritt für Schritt und doch unaufhaltsam. Bei der Kleidung fiel ihm der Begriff »in Lumpen gehüllt« ein, aber vielleicht war es nur die Arbeitskleidung des Schicksals. Die rote Wollmütze saß wie ein halber Ball fest auf dem kleinen Kopf. Als es ihm das erste Mal erschienen war, hatte eine Stimme gesagt: »Das ist das Schicksal.« Aber vielleicht war es auch seine eigene Stimme gewesen?

Wie an jedem Morgen lief Bruno nach dem Aufstehen zum Fenster und blickte auf den Lindewitzer Markt. Es war kein Marktplatz im herkömmlichen Sinne, sondern ein breiter Mittelstreifen zwischen den Häuserzeilen. Die Straßenbahn durfte direkt über den Platz fahren, während die Fahrzeuge den Umweg außen herum nehmen mussten.

Das Klingeln der Straßenbahnen gehörte zu den ersten Geräuschen, an die er sich bewusst erinnern konnte. Und er hörte es bis heute, Tag für Tag, bis in die Nacht hinein, das schrille Klingeln, mit dem die Bahnen ihr Kommen ankündigten. Erst kam das Quietschen in der Kurve, dann das Klingeln, das Abbremsen und am Ende der hörbare Ruck, mit dem die Bahn stehen blieb. Eine immer wiederkehrende Tonfolge.

Zwar wechselte im Laufe der Jahrzehnte der Klang, denn die neuen Bahnen ratterten nicht mehr, sondern schlichen über die Schienen, das Türknallen ersetzte ein mildes Summen, doch die Reihenfolge blieb, wie auch die Lautstärke der Klingeln, der schrille Ton, der unachtsame Fußgänger, die das Schicksal herausforderten und ohne nach rechts oder nach links zu sehen über die Gleise liefen, warnen sollte, was nicht immer gelang. Manchmal siegte das Schicksal.

Das Schicksal war in gewisser Weise sein Arbeitgeber, denn er, Bruno Henker, war der Totengräber dieses Viertels. Am Ende landeten sie alle auf seinem Friedhof, die Unachtsamen, die Kranken, die Alten, die Selbstmörder, alle, denen im Leben nicht mehr zu helfen gewesen war. Sie hinterließen eine Lücke, so empfanden es jedenfalls die Familien und Freunde.

Für Bruno war das Verschwinden umfassender, denn nicht nur die Menschen verschwanden, auch die Dinge, die Telefonzelle an der Ecke oder die Normaluhr und vielleicht würden irgendwann auch die Straßenbahnen verschwinden und mit ihnen das Klingeln. Aber für sie gab es keinen Friedhof, kein Grab mit einem Gedenkstein. Hier ruht in Frieden der Kassettenrecorder »Annett«, die Schreibmaschine »Erika«, der Plattenspieler »Belcanto«.

War das Nachdenken über das Verschwinden eine Berufskrankheit? Immerhin war der Friedhof ein Ort, an dem Menschen zu Erinnerungen wurden und Bruno begleitete sie bei ihrem Verschwinden. Er hatte lange überlegt, wie er sie nennen sollte. Gäste? Kunden? Nein, sie kamen nicht selbst und baten um Aufnahme, sie wurden gebracht und ihm in Urnen oder Särgen anvertraut und so nannte er sie im Stillen die »Anvertrauten«.

Der Friedhof lag hinter der gegenüberliegenden Häuserzeile, war nah und doch selbst von dem Fenster in der vierten Etage nicht zu sehen.

Bruno blickte nach unten auf den Lindewitzer Markt. Der Inhaber des Mobilfunkladens platzierte seine Werbeaufsteller auf dem Gehweg, die Blumenfrau, die jetzt alle Floristin nannten, goss die beiden Blumenkübel neben ihrem Eingang, und vor dem Reisebüro, das mit besonders günstigen Ausflügen lockte, sammelten sich die ersten Rentner.

Der Markt war für ihn vertraut und fremd zu gleich. Zwar registrierte er jede Veränderung, aber so wie man bei einem Kind, das man jeden Tag sah, kaum merkte, wie es wuchs, und erst bei dem Ausruf eines Fremden »Bist du aber groß geworden« stutzig wurde, waren auch die Veränderungen am Lindewitzer Markt während der vergangenen Jahrzehnte schleichend gewesen.

Zuerst wich die Kohlenhandlung einem Gebrauchtwagenhandel, dann das Wannenbad einem Bistro und vor Kurzem war aus dem Uhrengeschäft ein Hörgeräteladen geworden. Uhren waren kein Gebrauchsgegenstand mehr. Bruno empfand es als Ironie, dass der Uhrenladen, in dem es früher auf die unterschiedlichste Weise getickt hatte, einem Geschäft weichen musste, das den Menschen ein neues Gehör verschaffen sollte. Er selbst besaß noch eine Armbanduhr mit Gliederarmband, die einmal sehr modern gewesen war, aber die jetzt aus einer Zeit stammte, an die sich kaum noch einer erinnern wollte. Tag für Tag zog er sie mit einem Rädchen auf. Er genoss dieses Geräusch, hatte aber gleichzeitig Angst, dass die Feder eines Tages springen könnte und er niemanden mehr fand, der die Uhr reparieren würde. Noch gab es den Uhrmacher, wenn auch ohne Werkstatt. Bruno sah ihn oft an der Bude.

Die Bude war das Herz des Lindewitzer Marktes und es erschien ihm wie ein Wunder, dass sie noch immer stand. Es war ein flacher Bau mit einem Vordach, ein winziger Laden, in dem es Getränke, Süßigkeiten, Zeitungen und lebenswichtige Dinge wie Kaffee, Rührkuchen, Schnaps und Zigaretten gab. In einem durchsichtigen Thermobehälter schwammen Bockwürste, die heller waren als das gelblich gefärbte Wasser in dem sie lagen.

Die Bude war eingeklemmt zwischen zwei Linden und wahrscheinlich war das der Grund, weshalb sie noch stand, denn würde man sie abreißen, würden auch die Bäume Schaden nehmen. Und wer würde es wagen, sich an Bäumen zu vergreifen, die einst dem Stadtteil den Namen gaben. Als Kind konnte Bruno noch zwischen den Budenwänden und den Baumstämmen hindurchgehen, was er nicht gern machte, weil viele Männer die Lücke nutzten, um das getrunkene Bier wieder loszuwerden. Der Uringeruch mischte sich mit den säuerlichen Bierfahnen, dem Zigarettenrauch und den Ausdünstungen der Budenbesucher, ein Parfüm, das die Bude bis heute umweht. Denn auch wenn es jetzt ein städtisches Pissoir in Sichtweite gab, war der Weg zum Baumstamm kürzer. Allerdings war das Pinkeln in die Zwischenräume Jahr für Jahr beschwerlicher geworden, denn die Baumstämme wuchsen, Ring um Ring, bis sie an die Budenwände stießen. Und wenn die hin und wieder geweißt wurden, zogen sich die Farbspuren auch über die Baumrinde. Am Anfang hatte Bruno befürchtet, dass die Bäume die Bude zwischen sich zerdrücken könnten, aber anscheinend lebten die Linden und die Bude in friedlicher Koexistenz und es sah aus, als wäre die Bude in den Platz eingewachsen. Bei der Bude war alles beim Alten geblieben. Na ja, fast alles. Vor dem Schalterfenster war ein schmales Podest. Wer an der Reihe war, musste nach oben steigen, um seinen Wunsch zu äußern. Man erhob sich dadurch aus der Menge der Drängelnden und wer den Olymp erklommen hatte, war mit dem Budenbesitzer auf Augenhöhe. Jahrzehntelang war es der »Abgebrochene« gewesen, auch er stand auf einem Podest, einer Obststiege, mit der er seine fehlende Körpergröße ausglich. Wobei sein Name von seinem abgebrochenen Studium herrührte und nichts mit seinem kleinen Wuchs zu tun hatte. Er gehörte zur Nachkriegsgeneration und hatte das Fach politische Ökonomie gewählt, weil er die Welt im aufstrebenden Sozialismus mitgestalten wollte. Aber seine Tatkraft war nicht gefragt und seine Fragen erst recht nicht. Und so hatte er vor Jahrzehnten seine hehren Ziele korrigiert, das Studium abgebrochen, sich an seinen ursprünglichen Beruf als Verkäufer erinnert und in der Kaderabteilung der »HO« vorgesprochen, der sozialistischen Handelsorganisation, der die Bude gehörte. Auf diese Weise war er zwar nur Pächter geworden, aber die Bude war mitten im Sozialismus ein kapitalistischer Kleinbetrieb und der Abgebrochene konnte all die schönen sozialistischen Merksätze, die er im Studium gelernt hatte, außer Kraft setzen. Von nun an war er Größte auf dem Platz. Er bestimmte, wer die beliebten F6 rauchen durfte und wer mit der verhassten Schweinejuwel aus Bulgarien vorliebnehmen musste. Er bestimmte wer eine Fernsehzeitung bekam, wer den »Eulenspiegel« und welches Kind das »Mosaik« lesen durfte. Und ob es nach der offiziellen Öffnungszeit noch ein Bier gab oder nicht.

Jetzt stand ein junger großgewachsener Mann aus Anatolien hinter der Theke, der so groß war, dass er den Kopf beugen musste, damit er nicht an die Decke stieß. Der Abgebrochene war auf die andere Seite gewechselt. Der Grund war nicht das Erreichen des Rentenalters gewesen, freiwillig hätte er seine »Bude« niemals verlassen, sondern ein Bandscheibenvorfall. Das Heben der Bierkästen hatte seinen Tribut gefordert. Der Abgebrochene war der Einzige, der vor der Bude auf einem Stuhl saß. Der klappbare Campingstuhl mit Fußstütze und Bierflaschenhalter stand immer für ihn bereit und niemand hätte gewagt, ihm diesen Stuhl streitig zu machen. In leichter Liegestellung versorgte der Abgebrochene weiterhin alle Besucher mit seinen Lebensweisheiten....

Erscheint lt. Verlag 14.3.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-95614-593-3 / 3956145933
ISBN-13 978-3-95614-593-3 / 9783956145933
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