Vom Leben und Tod Gottes - J.G. Ballard

Vom Leben und Tod Gottes

(Autor)

Buch | Softcover
1136 Seiten
2007
Heyne, W (Verlag)
978-3-453-52277-0 (ISBN)
11,95 inkl. MwSt
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Die Reihe „Meisterwerke der Science Fiction“ präsentiert einen der bedeutendsten Autoren unserer Zeit: „Vom Leben und Tod Gottes“ ist der zweite Band der gesammelten Erzählungen von J. G. Ballard, mit denen er nicht nur in der Science Fiction, sondern in der Literatur überhaupt eine Revolution auslöste. Seine Texte spiegeln wie keine anderen den Wandel unserer Zivilisation in den letzten Jahrzehnten wider.

James Graham Ballard wurde 1930 in Shanghai geboren. Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor verbrachte er den Rest des Krieges mit seiner Familie in einem Kriegsgefangenenlager. 1946 nach England zurückgekehrt, studierte Ballard einige Semester Medizin, bevor er sich zum Dienst in der britischen Luftwaffe meldete und nach Kanada ging. Dort entdeckte er seine Leidenschaft für das Schreiben. Mitte der fünfziger Jahre erschienen seine ersten Kurzgeschichten, gefolgt von Romanen wie „Karneval der Alligatoren“, „Kristallwelt“, „Die Betoninsel“, „Der Block“, „Crash“, „Das Reich der Sonne“, „Stürmt das Paradies“ und „Weißes Feuer“. Die literarische Verarbeitung seiner Jugend "Das Reich der Sonne" wurde von Steven Spielberg verfilmt. Heute zählt Ballard zu den bedeutendsten britischen Autoren der Gegenwart. Er lebt in Shepperton in der Nähe von London.

Durchgangszeit Sonnenlicht ergoss sich über die Blumen und Gräber und verwandelte den Friedhof in einen Garten leuchtender Skulpturen. Wie zwei große hagere Krähen sahen die Totengräber aus, die sich zwischen den Marmorengeln auf ihre Spaten stützten. Ihre Schatten lagen quer über den glatten weißen Einfassungen eines der neueren Gräber. Die vergoldeten Buchstaben waren noch frisch und glänzten. JAMES FALKMAN 1963-1901 »DAS ENDE IST NUR DER ANFANG« Gemächlich stachen sie das Rasenstück aus dem Boden, legten den Grabstein frei, wickelten ihn in ein Leinentuch und legten ihn hinter den Gräbern in den Hauptgang. Biddle, der ältere der beiden, ein Mann mit gebeugtem Rücken und schwarzer Weste, deutete auf die Friedhofstore, durch die sich die erste Trauergemeinde näherte. »Da sind sie. Machen wir, dass wir fertig werden.« Der Jüngere, Biddles Sohn, sah der kleinen Prozession entgegen, die ihren Weg durch die Gräberreihen nahm. Seine Nase sog den süßen Duft frisch umgegrabener Erde ein. »Sie kommen immer zu früh«, murmelte er nachdenklich. »Komisch, nie kommen sie zur richtigen Zeit.« Eine Glocke läutete von der Kapelle in dem Zypressenwäldchen. Mit geübter Hand hoben sie die weiche Erde aus, häuften sie zu einem Kegel hinter dem Grab auf. Ein paar Minuten später, als der Küster mit den Haupttrauernden eintraf, war der polierte Teakholzsarg schon freigelegt, und Biddle sprang hinunter auf den Deckel und wischte die feuchte Erde ab, die am Messingrand klebte. Die Zeremonie war kurz, und die zwanzig Trauernden, angeführt von Falkmans Schwester, einer großen weißhaarigen Frau mit schmalem, befehlsgewohntem Gesicht, die sich auf den Arm ihres Gatten stützte, kehrten bald danach in die Kapelle zurück. Biddle machte seinem Sohn ein Zeichen. Zusammen hoben sie den Sarg mit einem Ruck aus dem Boden, schoben ihn auf einen Wagen und befestigten ihn mit Riemen. Dann schaufelten sie das Grab zu und legten die Rasenstücke wieder darüber. Als sie den Wagen zur Kapelle schoben, fiel das Sonnenlicht hell auf die wenigen Gräber. Achtundvierzig Stunden später traf der Sarg in James Falkmans großem grauen Steinhaus an den oberen Hängen von Mortmere Park ein. Die ihrer ganzen Länge nach von hohen Mauern begrenzte Straße war so gut wie leer und nur wenige Menschen sahen, wie der Leichenwagen in die mit Bäumen gesäumte Auffahrt einbog. Die Vorhänge vor den Fenstern waren zugezogen und über die ganze Eingangshalle, in der Falkman regungslos in seinem Sarg auf einem Mahagonitisch lag, waren riesige Blumenkränze verteilt. In dem trüben Licht wirkte sein kantiges Gesicht mit dem ausgeprägten Kinn gelassen und frisch, und durch die kleine Haarlocke auf seiner Stirn nicht so ernst wie das seiner Schwester. Ein einzelner Sonnenstrahl, der sich durch die dunklen Platanen, die das Haus umgaben, einen Weg gesucht hatte, wanderte den ganzen Morgen über langsam durch den Raum, bis er ein paar Minuten lang auf Falkmans offene Augen fiel. Selbst als er sich schon wieder weiterbewegt hatte, blieb in den Pupillen ein schwacher Lichtschimmer zurück - wie die Spiegelung eines Sterns auf dem Grund eines dunklen Brunnens. Den ganzen Tag bewegte sich Falkmans Schwester, unterstützt von zwei Freundinnen, Frauen mit scharfen Gesichtszügen und langen schwarzen Gewändern, ruhig und besonnen durch das Haus. Ihre energischen geschickten Hände schüttelten den Staub aus den Samtvorhängen in der Bibliothek, zogen die kleine Louis-XV.-Uhr auf dem Schreibtisch auf und stellten das große Barometer im Treppenhaus neu ein. Die Frauen wechselten kein Wort miteinander, aber schon nach wenigen Stunden war das Haus wie umgewandelt, und selbst das dunkle Holz in der Eingangshalle schimmerte, als die ersten Besucher eingelassen wurden. »Mr. und Mrs. Montefiore ...« »Mr. und Mrs. Caldwell ...« »Miss Evelyn Jermyn und Miss Elizabeth ...« »Mr. Samuel Banbury ...« Die Besucher nickten kurz, wenn sie angekündigt wurden, und dann verteilten sie sich in der Eingangshalle, blieben über den Sarg gebeugt stehen, sahen mit taktvollem Interesse prüfend in Falkmans Gesicht, gingen dann hinüber ins Esszimmer, wo ihnen ein Glas Portwein und auf einem Tablett Konfekt angeboten wurde. Die meisten von ihnen waren schon älter, viel zu warm angezogen für das warme Frühlingswetter, ein paar von ihnen fühlten sich offenbar unbehaglich in dem großen eichengetäfelten Haus, doch alle verbreiteten ganz offensichtlich eine Atmosphäre gedämpfter Erwartung. Am darauffolgenden Morgen wurde Falkman aus dem Sarg gehoben und die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer getragen, von dem aus man die Einfahrt übersah. Dann wurde das Tuch, in das er eingehüllt war, von seinem gebrechlichen, mit einem dicken wollenen Schlafanzug bekleideten Körper genommen. Er lag ganz still zwischen den kalten Laken, sein graues Gesicht war gefasst und leer, und wurde nicht gewahr, dass seine Schwester auf dem hochlehnigen Stuhl neben ihm leise weinte. Erst als Doktor Markham kam und ihr beruhigend die Hand auf die Schulter legte, nahm sie sich zusammen und war doch erleichtert, ihren Gefühlen freien Lauf gelassen zu haben. Als sei dies das Zeichen gewesen, schlug Falkman die Augen auf. Zuerst blinzelten sie unsicher, die Pupillen waren noch schwach und wässrig. Dann sah er starr in das tränenüberströmte Gesicht seiner Schwester, während sein Kopf regungslos auf dem Kissen lag. Als sich die beiden vor ihm vorbeugten, lächelte Falkman flüchtig und seine Lippen verzogen sich zu einem Ausdruck großer Geduld und tiefen Verstehens. Dann fiel er, offenbar erschöpft, in einen tiefen Schlaf. Nachdem die Vorhänge vor die Fenster gezogen waren, verließen seine Schwester und der Arzt das Zimmer. Unten schloss sich leise die Haustür, und es wurde still im Haus. Allmählich wurde Falkmans Atem gleichmäßiger, und bald erfüllte dieses ruhige Geräusch das ganze Schlafzimmer, nur begleitet vom Rauschen der dunklen Bäume im Garten. So verlief die Ankunft von James Falkman. Während der nächsten Woche lag er still in seinem Schlafzimmer, gewann stündlich an Kraft, und bald konnte er seine ersten Mahlzeiten zu sich nehmen, die seine Schwester für ihn zubereitete. Sie saß in einem Stuhl aus schwarzem Mangrovenholz, hatte ihr Trauergewand gegen ein graues Wollkleid vertauscht und sah ihn prüfend an. »James, du wirst dir einen besseren Appetit zulegen müssen. Dein armer Leib ist ganz abgezehrt.« Falkman stieß das Tablett weg und ließ seine langen, schmalen Hände auf die Brust fallen. Er lächelte seine Schwester liebevoll an. »Ich muss achtgeben, sonst sehe ich bald aus wie eine gestopfte Gans, Betty.« Seine Schwester zog energisch die Daunendecke glatt. »Wenn dir mein Essen nicht schmeckt, James, musst du eben allein für dich sorgen.« Ein leises Kichern entschlüpfte Falkmans Lippen. »Vielen Dank, dass du mich daran erinnerst, meine Liebe, das hatte ich auch vor.« Er legte sich zurück, lächelte matt in sich hinein, während seine Schwester mit dem Tablett aus dem Zimmer ging. Sie zu necken, tat ihm fast genauso gut wie die Mahlzeiten, die sie zubereitete, und er spürte, wie das Blut bis hinunter in seine kalten Füße strömte. Sein Gesicht war noch grau und schlaff, und er ging vorsichtig mit seinen Kräften um, bewegte nur die Augen, um den Raben zuzusehen, die sich auf dem Fensterbrett niederließen. Allmählich unterhielt er sich immer häufiger mit seiner Schwester und war kräftig genug, um sich aufzusetzen. Er zeigte wieder mehr Interesse an der Welt um ihn herum, beobachtete durch die Terrassentüren die Leute auf der Straße und zankte sich mit seiner Schwester, wenn sie Bemerkungen über sie machte. »Da ist Sam Banbury schon wieder«, bemerkte sie gereizt, als ein kleiner gnomenhafter alter Mann vorbeihumpelte. »Wie üblich auf dem Weg in den ›Schwanen‹. Ich möchte wirklich gern wissen, ob der noch mal einen Job kriegt.« »Sei ein bisschen barmherziger, Betty, Sam ist ein kluger Bursche. Ich würde auch lieber ins Gasthaus gehen als zur Arbeit.« Seine Schwester schnaubte verächtlich durch die Nase, offenbar schätzte sie Falkmans Charakter anders ein als er. »Du besitzt eins der schönsten Häuser in Mortmere Park«, sagte sie zu ihm. »Ich glaube, du solltest mit Leuten wie Sam Banbury etwas vorsichtiger sein. Er hat nicht deine Klasse, James.« Falkman lächelte seine Schwester nachsichtig an. »Wir haben alle dieselbe Klasse, oder ist schon so viel Zeit vergangen, dass du das vergessen hast, Betty?« »Wir haben es alle vergessen«, sagte sie trocken. »Du auch, James. Es ist traurig, aber wir leben nun einmal in dieser Welt, und wir müssen mit ihr zurechtkommen. Wenn die Kirche die Erinnerung lebendig halten kann, umso besser. Wie du selbst bald feststellen wirst, erinnert sich die Mehrheit der Leute an gar nichts. Vielleicht ist das sogar gut so.« Widerwillig ließ sie die ersten Besucher herein, machte dann aber so viel Aufhebens, dass Falkman kaum ein Wort mit ihnen wechseln konnte. Dann begannen ihn die Besuche zu ermüden, und er war nur noch zu ein paar höflichen Floskeln fähig. Sogar als ihm Sam Banbury eine Pfeife und einen Tabaksbeutel brachte, musste er seine ganze Kraft aufbieten, um sich bei ihm zu bedanken, und hatte dann keine mehr übrig, um zu verhindern, dass seine Schwester sie an sich nahm. Erst als Pfarrer Matthews zu Besuch kam, gelang es Falkman, all seine Kräfte zu sammeln und eine halbe Stunde lang ernsthaft mit dem Pastor zu sprechen, der ihm gespannt zuhörte und ein paar interessierte Fragen stellte. Der Geistliche wirkte froh und voller Zuversicht und stieg mit einem fröhlichen Lächeln für Falkmans Schwester die Treppe hinunter. Nach kaum drei Wochen konnte Falkman das Bett verlassen und schaffte es, allein die Treppe hinunterzuhumpeln und Haus und Garten zu inspizieren. Seine Schwester protestierte zwar und begleitete seine langsamen, schmerzerfüllten Schritte mit scharfen Äußerungen über seinen geschwächten Gesundheitszustand, aber Falkman hörte nicht auf sie. Er arbeitete sich langsam bis zum Wintergarten vor und lehnte sich an eine verzierte Säule, nervös spielten seine Finger mit den Blättern der Zwergbäume, Blumenduft strömte ihm entgegen. Draußen im Garten untersuchte er alles gründlich, als vergleiche er es mit einem elysischen Paradies in seiner Fantasie. Auf dem Weg zurück zum Haus verstauchte er sich den Knöchel an einem vorstehenden Pflasterstein. Bevor er um Hilfe rufen konnte, fiel er der Länge nach hart auf den Boden. »James Falkman, willst du nie gehorchen?«, schalt ihn seine Schwester, als sie ihm über die Terrasse zum Haus half. »Ich habe dich gewarnt. Du solltest lieber im Bett bleiben!« Als sie das Wohnzimmer erreicht hatten, ließ sich Falkman erschöpft in einen Sessel fallen. »Bitte hör auf damit, Betty«, bat er seine Schwester, als er wieder ruhig atmen konnte. »Ich lebe noch, und mir fehlt gar nichts.« Und damit sollte er recht behalten. Nach dem Unfall begann er sich auffällig schnell zu erholen, seine Gesundheit machte unaufhaltsam gute Fortschritte, als wäre durch das Stolpern seine ganze Müdigkeit und das Unbehagen der vorangegangenen Wochen von ihm abgefallen. Sein Gang wurde fester und elastischer, sein Teint frischer, seine Wangen hatten eine matte rosa Farbe angenommen, und er eilte geschäftig durch das Haus. Einen Monat später, als sie sich davon überzeugt hatte, dass er sich nun wieder selbst versorgen konnte, kehrte seine Schwester in ihr eigenes Heim zurück, und es wurde eine Haushälterin eingestellt. Nachdem er sich in seinem Haus wieder zu seiner Zufriedenheit eingerichtet hatte, begann sich Falkman auch mehr für die Welt außerhalb zu interessieren. Er mietete ein bequemes Auto mit Chauffeur und verbrachte die Winternachmittage und -abende meistens in seinem Club. Schon bald war er der Mittelpunkt eines großen Kreises interessanter Menschen. Er übernahm den Vorsitz einer ganzen Reihe wohltätiger Komitees und wurde wegen seines Humors, seiner Toleranz und seines scharfsinnigen Urteilsvermögens von allen sehr geschätzt. Sein Gang war jetzt ganz aufrecht, seine grauen Haare, an manchen Stellen schwarz durchsetzt, begannen kräftig zu wachsen, zwischen den sonnengebräunten Wangen war das Kinn energisch nach vorn geschoben. Jeden Sonntag besuchte er die Morgen- und Abendandacht in der Kirche, in der er einen eigenen Kirchenstuhl besaß, und es stimmte ihn etwas traurig, als er sah, dass die Gemeinde nur aus älteren Menschen bestand. Aber er musste auch feststellen, dass sich die Liturgie, die hier gepflegt wurde, immer mehr von der seiner eigenen Erinnerungen unterschied, die allmählich verblassten und schon bald zu einem sinnentleerten Akt wurden, dem allein sein Glaube Sinn verleihen konnte. Ein paar Jahre später, als er immer ruheloser wurde, beschloss er, das Angebot eines bekannten Börsenmaklers anzunehmen, als Partner in seiner Firma einzusteigen. Viele seiner Bekannten im Club gingen nun ebenfalls einer Arbeit nach, gaben die friedliche Zurückgezogenheit der Rauchsalons und Wintergärten auf. Harold Caldwell, einer seiner engsten Freunde, wurde Geschichtsprofessor an der Universität und Sam Banbury wurde Geschäftsführer des Hotels »Schwanen«. Falkmans erster Tag an der Börse wurde mit einer würdigen und eindrucksvollen Feier begangen. Drei jüngere Angestellte, die auch gerade in die Firma eingetreten waren, wurden dem versammelten Personal von Mr. Montefiore, dem Seniorchef, vorgestellt, und jeder bekam als Symbol für die Jahre, die er bei der Firma verbringen würde, eine goldene Uhr. Falkman erhielt ein silbernes Zigarrenkästchen und großen Beifall. Während der nächsten fünf Jahre stürzte sich Falkman mit ganzem Herzen auf seine Arbeit, wurde immer geselliger und tatkräftiger, und sein Hunger auf die materiellen Güter des Lebens stieg ständig. Er wurde ein passionierter Golfspieler; dann, als sein Körper durch die sportlichen Betätigungen kräftiger geworden war, fing er an, Tennis zu spielen. Er war ein einflussreiches Mitglied der Geschäftswelt, und seine Tage verliefen in einem angenehmen Wechsel von Konferenzen und Dinnerpartys. Sonntags ging er nicht mehr in die Kirche, sondern zeigte sich in Begleitung attraktiver Damen auf Rennplätzen und bei Regatten. Umso erstaunter war er daher, als er von einer anhaltenden depressiven Stimmung erfasst wurde. Obgleich es dafür keinen ersichtlichen Grund gab, wurde sie immer unerträglicher, und bald wurde es so schlimm, dass er abends kaum noch aus dem Haus ging. Er zog sich aus den Komitees zurück und ging nicht mehr in den Club. Die Geschäfte an der Börse verfolgte er immer nur noch sehr zerstreut und ertappte sich eines Tages dabei, wie er stundenlang am Fenster stand und auf die Straße starrte. Als ihm alles völlig zu entgleiten drohte, schlug ihm Mr. Montefiore vor, für unbegrenzte Zeit Urlaub zu nehmen. Eine Woche lang wanderte Falkman ruhelos durch das riesige leere Haus. Sam Banbury besuchte ihn zwar häufig, aber Falkman war in seinem Kummer nicht zu helfen. Er schloss die Vorhänge in allen Räumen, zog einen schwarzen Anzug an, band sich eine schwarze Krawatte um und setzte sich mit leerem Blick in die abgedunkelte Bibliothek. Am Ende, als seine Depressionen den absoluten Tiefpunkt erreicht hatten, ging er auf den Friedhof, um seine Frau zu holen. Nachdem sich die Trauergemeinde zerstreut hatte, blieb Falkman vor dem Gemeindesaal stehen, um Biddle, dem Totengräber, ein Trinkgeld zu geben und ihm ein paar nette Worte über seinen kleinen Sohn zu sagen, einen engelhaften dreijährigen Jungen, der zwischen den Grabsteinen spielte. Dann fuhr er in seinem Wagen hinter dem Leichenwagen zurück nach Montmere Park, gefolgt von dem restlichen Leichenzug. »Eine großartige Feier, James«, sagte seine Schwester anerkennend zu ihm. »Alles in allem zwanzig Wagen, die der Familie nicht mitgerechnet.« Falkman bedankte sich bei ihr, er betrachtete seine Schwester mit kritischer Objektivität. In den letzten fünfzehn Jahren war sie immer unbeholfener geworden, ihre Stimme war schrill und ihr Benehmen großspurig. Zwischen ihnen hatte schon immer eine deutliche soziale Kluft bestanden, die Falkman nachsichtig akzeptiert hatte, die jetzt aber immer tiefer wurde. Seit Kurzem gingen die Geschäfte ihres Mannes nicht besonders gut, und ihre Gedanken drehten sich fast nur noch um Geld und gesellschaftliches Ansehen. Als sich Falkman wegen seines eigenen guten Gespürs und seiner Erfolge gratulierte, wurde er plötzlich, verschwommen zwar, aber doch irgendwie beunruhigend, von einer merkwürdigen Vorahnung erfasst. Genau wie Falkman vor fünfzehn Jahren, lag jetzt seine Frau in der Eingangshalle, die von schweren Blumenkränzen in eine dunkle olivgrüne Laube verwandelt worden war, in ihrem Sarg. Hinter den vorgezogenen Vorhängen war die Luft abgestanden und stickig. Mit den dichten roten Haaren, die ihr in die Stirn fielen, den breiten Backenknochen und den vollen Lippen erschien ihm seine Frau wie eine schlafende Schöne in einem Zaubergarten. Er stützte sich auf den silbernen Tragegriff des Sarges und starrte gedankenverloren auf sie hinunter, während seine Schwester die Gäste mit Portwein und Whisky versorgte. Sein Blick glitt über die feinen Unebenheiten an Hals und Kinn seiner Frau und über die weiße Haut, die in sanftem Bogen zu ihren kräftigen Schultern führte. Am nächsten Tag, als man sie die Treppe hinauf nach oben trug, war das Schlafzimmer sofort von ihrer Persönlichkeit erfüllt. Den ganzen Nachmittag saß er neben ihrem Bett und wartete geduldig darauf, dass sie aufwachte. Kurz nach fünf, wenige Minuten vor Einbruch der Dämmerung und als sich in den Bäumen des Gartens kein Lufthauch mehr regte, huschte ein schwaches Lebenszeichen über ihr Gesicht. Ihre Augen wurden klar und blickten nach oben an die Decke. Mit angehaltenem Atem beugte sich Falkman vor und ergriff ihre kalten Hände. Ganz tief innen konnte er den schwachen Puls fühlen. »Marion«, flüsterte er. Sie beugte den Kopf ein wenig nach vorn, und ihre Lippen teilten sich zu einem schwachen Lächeln. Ein paar Sekunden lang sah sie ihrem Mann mit heiterer Ruhe in die Augen. »Hallo, Jamie.« Die Ankunft seiner Frau bewirkte bei Falkman eine völlige Verjüngung. Er wurde ein hingebungsvoller Ehemann und ging schon bald ganz in ihrem gemeinsamen Leben auf. Nachdem sie sich von der langen Krankheit erholt hatte, begann für Falkman die Blütezeit seines Lebens. Sein graues Haar wurde glänzend und schwarz, sein Gesicht runder, das Kinn fester und kräftiger. Er nahm wieder seine Arbeit an der Börse auf und widmete sich ihr mit neu erwachtem Interesse.

Reihe/Serie Heyne Bücher
Sprache deutsch
Original-Titel The Collected Stories Part 2
Maße 115 x 183 mm
Gewicht 590 g
Einbandart Paperback
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Schlagworte Meisterwerke der Science Fiction • Science Fiction
ISBN-10 3-453-52277-X / 345352277X
ISBN-13 978-3-453-52277-0 / 9783453522770
Zustand Neuware
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