Hexenmacher - André Wiesler

Hexenmacher

Die Chroniken von Hagen von Stein. Roman

(Autor)

Buch | Softcover
576 Seiten
2007
Heyne, W (Verlag)
978-3-453-52303-6 (ISBN)
8,95 inkl. MwSt
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Ein mysteriöser Orden, der die mittelalterliche Welt unterwandert
Eine dunkle Verschwörung, die bis in die Gegenwart reicht
Ein moderner Inquisitor, der auf der Suche nach der Wahrheit ist


Deutschland im Spätmittelalter: Das Land ist zerrissen. Erbitterte Rivalen kämpfen um die Königswürde, die Inquisition zieht eine blutige Spur durch das Land – und uralte Geheimbünde von Hexen, Werwölfen und Bletzern nutzen ihre Macht, um das Schicksal des Landes zu beeinflussen. Ein Schicksal, das der junge Ritter Hagen von Stein besiegeln soll. Doch die düsteren Geheimnisse finden ihren Weg bis in unsere Zeit. Denn der Schrecken ist niemals Geschichte - und er hat unendlich viel Geduld ...


André Wiesler, geboren 1974, machte sich nach seinem literaturwissenschaftlichen Studium einen Namen als Autor von Shadowrun- und DSA-Romanen. Nebenbei arbeitet er, nach einer Karriere als Comedy-Autor für TV-Produktionen wie "RTL-Samstag Nacht", als Über

PRÄLUDIUM

Georg von Vitzthum legte den Kopf in den Nacken und sah zum zweigehörnten schwarzen Schatten auf, den der Kölner Dom vor dem nur wenig helleren Abendhimmel bildete. Filigrane Ornamente an den Türmen und der Fassade verschwammen im feinen Regen zu einer unförmigen grauen Masse. Die mit Planen bespannten Renovierungsgerüste schienen wie stachelige Schnecken bei jedem seiner Besuche in der Stadt ein bisschen weiter um das Gebäude herumzukriechen und wurden doch nie fertig mit ihrer Sisyphusarbeit.
Er erwartete fast, dass zur dramaturgischen Untermalung seiner Stimmung ein Blitz das ehrwürdige Gebäude erhellte, aber Gott ließ sich nicht dazu herab, seinen Befindlichkeiten zu huldigen.
Georg wischte sich den Regen aus dem Gesicht und zog den farblich auf seinen dunklen Anzug abgestimmten Mantel enger um sich, während er die Stufen zur Domplatte hinaufstieg. Wie erwartet herrschte hier oben, auf der erhöhten Betonfläche, ein stärkerer Wind. Er fegte den feinen Nieselregen mit nachhaltiger Gleichgültigkeit für das Wohlbefinden der zahlreichen Späteinkäufer und Touristen über die graue Fläche.
Die feinen Tropfen suchten sich den Weg an seinem teuren Kaschmirschal vorbei in den Kragen, über die dunklen Schuhe und Socken hinweg ans Bein, unter den nach New Yorker Mode geschnittenen Hut ins Gesicht – gab man dem Regen genug Zeit, benetzte er den ganzen Körper.
So wie das Böse, dachte er und lächelte grimmig, als einige Japaner kichernd, touristische Faltpläne Kölns zum Schutz vor dem Regen über sich haltend, an ihm vorbei in die Trockenheit des Doms flüchteten.
Georg wäre selbst gerne hineingegangen, hätte am Grabmal des Erzbischofs Gero ein kurzes Gebet gesprochen, für Karl, aber dafür war keine Zeit. Tut mir leid, alter Knabe, sandte er dem Verstorbenen freundliche Gedanken, aber du weißt ja, wie das ist.
Er hob den Arm und schob Mantel und Hemd beiseite, um auf die silberne Breitling zu blicken – kurz vor acht. Er lag gut in der Zeit. Da klingelte sein Handy, als wolle es ihn darauf aufmerksam machen, dass es neben unzähligen anderen Funktionen ebenfalls die Stunde anzeigte und man nicht ein paar Tausend Euro für eine Uhr ausgeben musste. Doch die Armbanduhr hatte einen immensen Vorteil: Sie funktionierte auch ohne Netz und ohne Strom, besaß ein automatisches Uhrwerk, das sich durch die Körperbewegung aufzog, und hatte auch in jenen Fällen treuen Dienst verrichtet, in denen das Handy aufgegeben hatte – sogar im Angesicht des Todes.
Die Grätsche gemacht, fiel ihm in diesem Zusammenhang Karls Lieblingsformulierung ein, und er ließ den Arm wieder sinken. Die Anzeige der Mondphasen war ein nützliches Detail der Uhr und hätte seinem Freund und Leidensgenossen vielleicht das Leben gerettet.
Er zog das silberne Gerät aus der Mantelinnentasche und meldete sich.
»Wir haben ein Problem«, sagte eine heisere Männerstimme am anderen Ende der Leitung ohne Begrüßung. »Er hat Unterstützung – eine Hecetisse.«
Georg schloss enttäuscht die Augen. Als er sie wieder öffnete, schien ihm der Tag noch grauer geworden.
»Kennen wir sie?«, fragte er und ärgerte sich, dass seine Stimme so matt klang.
»Erkennungsdienstlich noch nicht erfasst.«
Georg nickte. Vermutlich eine der Ostblock-Hexen, mit denen sich Edgard Carteaumois in letzter Zeit des Häufigeren traf. »Abbruch«, befahl er.
»Wir können Pater Liegnitz bekommen«, wandte die heisere Stimme des Mannes ein, und kurz war Georg versucht, es darauf ankommen zu lassen. Wenn sie Carteaumois in die Finger bekämen, würden sich ganz neue Möglichkeiten eröffnen. Und Liegnitz war ein äußerst erfahrener Exorzist …
Aber dann wiederholte er entschlossen: »Abbruch! Sie wissen, wie es läuft. Wir spielen unsere Karten …«
»… niemals blind«, vollendete die Stimme am anderen Ende und unterbrach die Verbindung.
Georg unterdrückte einen Fluch, musterte einen Augenblick die Tropfen, die wie winzige Meteoriten in die Oberfläche des dünnen Wasserfilms am Boden einschlugen. Dann straffte er die Schultern und seufzte leise. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, versprach er Carteaumois in Gedanken, schon bald zappelst du an meinem Haken, elender Bletzer!
Dann sah er sich um. Er musste aufmerksam bleiben. Die Kontaktleute, die dieses anonyme Treffen arrangiert hatten, waren zwar im Allgemeinen verlässlich, aber auch sie konnten hinters Licht geführt werden. Eine interessante Redewendung. Beizeiten musste er einmal herausfinden, woher sie stammte. Er hatte oft das Gefühl, als befände er sich dort, hinterm Licht, in den dunklen Abgründen des Unerklärlichen.
Der Regen wurde stärker und trieb die in riesigen Bussen herangekarrten Touristen noch schneller über die Platte und durch die Schiebetür ins Innere der prächtigen Kathedrale.
Noch eine Viertelstunde. Ob er vielleicht doch schnell einen Blick in den Dom warf? Oder sollte er besser hier draußen warten, um sich zu vergewissern, dass sein »Date« – er schmunzelte bei diesem unpassenden, neudeutschen Wort – keine Begleitung mitbrachte?
Einige Tauben, die dem Wetter trotzten, wurden von einer weiteren Horde Asiaten aufgescheucht und segelten mit der ihnen eigenen überheblichen Gelassenheit über die Platte. Doch dann wich der kleine Schwarm aus, als hätte eine Windböe ihn zur Seite getrieben. Instinktiv suchte Georg den Grund für diese Scheu vor der Kirche, vor der die fliegenden Ratten doch sonst keine Ehrfurcht zeigten.
Sein Blick fiel auf eine kleine, in bunte Röcke gekleidete Frau, die mit einem bestickten Tuch über Kopf und Schultern an der Dommauer saß und weitgehend unbeeindruckt von der Witterung kleine glasierte Dom- und Marienfiguren anbot. Das Betteln und Feilbieten war am Dom streng verboten, aber das scherte die Frau offenbar wenig. In aller Seelenruhe hob sie nun den Kopf, um einem Japaner in enger, heller Kleidung eine der Domfiguren zu reichen. So erhaschte Georg einen Blick auf ihr Gesicht – es war alt und faltig, dunkelhäutig, mit tiefen, fast schwarzen Augen. Insgesamt südländisch, aber nicht spanisch oder italienisch – eher eine Roma.
Seltsam, dass ausgerechnet eine Roma hier christliche Symbole verkaufte. Und seltsam auch, dass der Japaner einen Hunderter in die kleine Schatulle legte, in der sonst nur kleinere Scheine und Münzen lagen, und sich dann abwandte, ohne auf Wechselgeld zu warten.
Georg musterte die Frau aufmerksam. Ihre Decke und die Statuetten vor ihr waren von einem feuchten Film überzogen, ihre Kleidung hingegen war trocken.
Ihm lief ein wohlbekanntes Kribbeln über den Rücken, als er erkannte, was er da vor sich hatte. Die Frage war nun: Hagr oder Hecetisse? Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Er steckte die rechte Hand in die Tasche seines Mantels, in der gegen jede Vorschrift die kleine Makarov ruhte. Sein Finger fand erst die Sicherung und dann den Abzug, als sich die Pistole in seine Hand schmiegte. Klaus hatte sie geringschätzig eine »Weiberwumme« genannt, aber dessen Glock hatte ihm gegen seinen Mörder auch nichts genutzt. Manche Dinge waren eben mit Kugeln allein nicht zu bezwingen.
Als er den Rand der Decke erreicht hatte, füllte der Herzschlag seine Ohren mit einem dumpfen Grundrhythmus, der sich über das feine Rauschen des Regens legte. Er ging in die Hocke, nahm eine der Marienfiguren in die Hand und gab vor, sie zu betrachten. Sie war unbemalt, aus einfachem, weißem Gips, mit unsauber gearbeiteten Gesichtszügen – vermutlich in Heimarbeit gegossen. Nur der nachlässig aufgebrachte Klarlack, dessen Nasen beinahe wie Tränen im Gesicht und am Körper der heiligen Jungfrau klebten, verhinderte, dass die Figur im Regen zerfloss.
Das vom bunten Tuch eingerahmte Gesicht der alten Roma trug denselben sanftmütig gleichgültigen Ausdruck wie das der Mutter Gottes, aber der breite goldene Ring, der wie bei einer afrikanischen Stammesfrau durch die Unterlippe gezogen war, ruinierte die Ähnlichkeit.
»Was kostet die hier?«, fragte Georg und bemühte sich, nonchalant zu klingen.
»Was Sie zu geben bereit sind«, antwortete die Alte mit brüchiger, tiefer Stimme, aber ohne jeden Akzent.
Nicht auf das Klischee der alten Zigeunerin hereinfallen, ermahnte sich Georg und nickte. Er stellte die Figur wieder ab und drehte die Hüfte ein wenig, um an die Geldscheine in seiner Hosentasche heranzukommen. Er zog wahllos einen heraus, sah, dass es ein Fünfziger war, und legte ihn in die kleine Geldschatulle. Für einen Augenblick traf der Blick der Alten auf seinen, und mit einem Mal erschienen Georg fünfzig Euro als guter Preis für eine solche Marienfigur. Der Moment verging schnell, perlte an seiner Ausbildung ab und hinterließ ein leeres Gefühl der Verwunderung. Dann erkannte er, was die Roma da mit ihm versucht hatte. Verdammte Verführerin!
Genau auf ihre Reaktionen achtend, griff er nach zwei Zwanzigern in der Schatulle und sagte: »Zehn Euro sollten reichen.«
Ihre Hand schnellte vor und umklammerte sein Handgelenk wie ein Schraubstock. Die dünnen Finger pressten schmerzhaft goldene Ringe in seine Haut, und obwohl er sicher das Dreifache dieser kleinen, dünnen Frau wog, konnte er seine Hand nicht zurückziehen. Stattdessen holte er mit der anderen die Pistole hervor.
Die Roma beugte sich vor und flüsterte rau: »Ganz oder gar nicht, Petrusknecht!«
Georg ließ die Waffe wieder in der Manteltasche verschwinden. »Du hast auf mich gewartet«, stellte er fest, und die Roma nickte ernst.
»Seit hundert Jahren!«, sagte sie und ließ ihn los.
Georg lief es kalt den Rücken herunter, denn er wusste, dass dies keine Übertreibung war.
Seine Beine fingen an zu schmerzen, sie waren von der Verfolgungsjagd der letzten Nacht noch angestrengt. War es wirklich noch nicht mal einen Tag her? Egal! Hier spielte die Musik, und wenn er nicht aufmerksam war, könnte sie zum verregneten Totentanz aufspielen.
»Die Zeit ist gekommen«, fuhr die Frau fort – wohl doch eine Hagr, wenn sie bereit war, mit ihm zu verhandeln, aber der Teufel kannte viele Masken.
»Heute Nacht sterbe ich«, verkündete sie mit einem stoischen Gleichmut, als spräche sie vom Wetter. »Doch das Geheimnis darf nicht mit mir sterben, Kirchenscherge. Ihr sollt das Schauspiel vollenden, dem meine Sippe seit Urzeiten die Bühne bereitet.«
Georg bemerkte erst, dass er den Atem angehalten hatte, als er sagte: »Geht es um Ha…«
»Pscht!«, zischte ihn die Hagr an, und als er mit fragendem Blick verstummte, wies ihr knochiger Finger nach oben. Georg folgte ihrer Geste mit den Augen.
Über ihnen ragte ein länglicher Wasserspeier aus der Fassade des Doms. Es war eine der im neunzehnten Jahrhundert erneuerten Figuren, die einen Wolf mit Flügeln darstellte, dem der Grünspan bereits ordentlich zusetzte.
Georg stutzte, irgendetwas war seltsam an der Figur. Er kniff die Augen gegen den Regen zusammen, und da erkannte er es: Im Gegensatz zu jedem anderen Wasserspeier am Kölner Dom hielt die Figur den Kopf gesenkt, beobachtete sie mit steinernen Augen. Georg musste sich zwingen, langsam und gleichmäßig weiterzuatmen. Nur mühsam gelang es ihm, die aufwallende Panik zu unterdrücken. Er versuchte gar nicht erst, sich das Ganze als architektonische Besonderheit zu erklären. Solche verzweifelten Versuche, sich das Unvorstellbare schönzureden, hatte er schon lang aufgegeben.
Er senkte den Blick wieder und wich erschrocken zurück, denn nun war das Gesicht der Alten direkt vor ihm. Sie hockte auf ihrer Decke und grinste ihn bösartig an, die dunklen Brauen zusammengezogen. Unter einem ihrer klobigen Stiefel knirschte eine zermalmte Marienstatue. »Ich habe etwas für dich!«
Bevor sich Georg wieder gefangen hatte, drehte sich die Frau in der Hocke herum, hob dabei ihre Füße wie ein unförmiger, tanzender Zwerg und hielt, als sie die Drehung vollendete, ein in schmutzige, aber ebenfalls trockene Tücher geschlagenes Bündel in der Hand.
»Nimm!«, forderte sie barsch, und es wirkte, als schaffe es der Regen, an ihrem dürren Unterarm vorbeizufallen.
Georg erschauderte, aber er gehorchte, und kaum zog er das überraschend schwere Paket an sich, hörte er das leise Klatschen der mittlerweile dicken Tropfen darauf. Er spürte, dass sein Mantel an Schultern und Rücken bereits durchnässt war, aber das war im Moment unwichtig.
»Nicht hier!«, mahnte sie, als er das Tuch aufdecken wollte. Sie wies auf den Eingang des Doms. »Dort, wenn dir dein Leben lieb ist!«
Georg nickte und leckte sich nervös über die Lippen. Er hatte schon ganz andere Dinge erlebt, warum brachte ihn dies so aus der Fassung? »Was ist der Preis?«, fragte er. Wenn er schon mit dem Teufel handelte, wollte er die Währung kennen.
Die Alte hob eine Augenbraue und musterte ihn eindringlich. Dann sagte sie mit brüchiger Stimme: »Die letzten Nächte ohne Albtraum; die Ruhe in Momenten, in denen du dich sicher fühlst; das Vertrauen einer Freundschaft – das alles wird es dich kosten. Aber es schenkt dir so viel mehr!«
Georg musterte das Bündel und ließ beide Hände darübergleiten. Seine Oberschenkel brannten nun wie Feuer, aber noch immer wagte er nicht, sich zu erheben. War das ein Foliant, unter diesem fleckigen Stoff?
Er hob den Blick, um der Hagr weitere Fragen zu stellen, aber sie war verschwunden. Nur die trockene Wand des Doms, nun ohne Schutz dem Regen ausgesetzt, blieb als dürftige Antwort auf seine stummen Fragen.
Georg erhob sich. Er blickte sich nicht um, denn er wusste, dass er die Alte nicht weggehen sehen würde. Stattdessen öffnete er den Mantel, presste das Bündel schützend darunter an die Brust und eilte auf den Eingang des Doms zu.
Drinnen war es beinahe so kalt wie draußen, und doch spendete der Anblick des hohen Schiffs und der prächtigen, bunten Fenster Georg eine beruhigende innere Wärme. Der Anblick im Schein unzähliger Kerzen betender Christen tat das Seine dazu.
Er eilte an den tonnenbäuchigen Aufpassern vorbei, die mit umgehängter Spendendose durch die Gänge patrouillierten und für Georgs Geschmack etwas zu streng darauf achteten, dass sich hier niemand amüsierte. Die grimmige Andacht Gottes war in ihre feisten Gesichter gemeißelt, und es schien Pflicht, mindestens einen Zentner Übergewicht aufzuweisen, um hier Wächter zu werden.
Doch das interessierte ihn heute ebenso wenig wie die Touristen, die mit Audiotourgeräten durch die Gänge torkelten, den Kopf in den Nacken gelegt, als hätten sie Nasenbluten. Er erreichte die im Nebenschiff untergebrachte Sakramentskapelle, kniete vor dem marmornen Barockaltar nieder, schlug ein Kreuz und glitt dann in eine der hinteren Bänke.
Mit zitternden Fingern wickelte er aus, was die Hagr ihm überlassen hatte. Es war tatsächlich ein Foliant, und er war sehr alt, musste noch aus der Zeit vor dem Buchdruck stammen. Der Einband war abgeschabt, die Schließe hing nutzlos und ausgeleiert herunter. Georg drehte das Buch in den Händen, betrachtete es von allen Seiten. Die Pergamentbögen hatten unterschiedliche Farben, als seien mit der Zeit Seiten herausgenommen und durch neue ersetzt worden. Nein, jetzt erkannte er es: Der Einband war aufgeschnitten, und weitere Bögen waren eingelegt worden. Jemand hatte es für nötig befunden, mehr in dieses Buch zu schreiben, als die ursprünglichen Seiten erlaubt hatten.
Georg legte den schweren Folianten auf seinen Schoß, zögerte einen Moment und schlug dann doch die erste Seite auf. Wie bei mittelalterlichen Büchern üblich trug der Einband keine Titelprägung, und es gab auch kein Inhaltsverzeichnis oder Impressum. Es begann sofort mit formschönen, aber engen Buchstaben, als hätte der Scriptor geahnt, dass Platz in diesem Buch kostbar wäre.
Doch auf der Innenseite des Einbandes, in das dunkle Leder eingebrannt, schimmerten unheilvoll die drei Kreise, die Georg zu fürchten gelernt hatte. Sie waren zur Außenseite hin unterbrochen und wanden sich wie eiserne Klammern um einen kleineren, geschlossenen Kreis in der Mitte. Er wollte nicht daran denken, wofür die Kreise standen, nicht jetzt!
Nachdenklich blätterte Georg das Buch einmal durch und bemerkte schnell, dass darin Texte in unterschiedlichsten Handschriften aus den verschiedensten Zeiten verewigt waren. Begierig, mehr zu erfahren, schlug er wieder die erste Seite auf und begann zu lesen: »Wir wellen diu maere von de tapferen degen Hagen von Stein und sin schickunge begunde mite einem kampf.«
Mühsam übersetzte er, leise vor sich hin murmelnd. Sein Mittelhochdeutsch war seit dem Studium etwas eingerostet: »Wir wollen unsere Rede von dem tapferen Krieger Hagen von Stein und dessen Schicksal mit einem Kampf beginnen.«
Hagen von Stein! Endlich! Hielt er den Schlüssel zum Leben dieses Mannes in Händen?
Eilig las er weiter, und die Schatten der Kirche umschlangen ihn, als wollten sie über seine Schultern mitlesen …

ERSTER TEIL

BRUDERZWIST

Anno Domini 1409, in dem König Sigmund von Luxemburg durch Barbara von Cilli eine Tochter mit dem Namen Elisabeth geboren wird; das Konzil von Pisa Papst Gregor XII. und Gegenpapst Benedikt
XIII. abwählt, jene jedoch ihr Amt nicht niederlegen, weshalb man nunmehr drei Päpste hat; der neue Papst Alexander V. die Errichtung der Universität zu Leipzig genehmigt und Berlin vom Raubritter Dietrich von Quitzow erobert wird.


WAS IM BLUTE LIEGT

Hagen von Steins Muskeln spannten sich in Erwartung des Angriffs, und seine Hände schlossen sich fester um den Schwertgriff. Sein schwerer Atem stieg in grauen Schwaden in die eisige Luft und trübte für einen Augenblick die Sicht auf seinen Gegner, der noch immer zögerte. Hagen lauerte wie ein ausgehungerter Hund auf eine Bewegung, die ihm die Attacke seines Ziehbruders Albrecht ankündigen würde.
Endlich riss sein Gegenüber das Schwert in die Höhe und stürmte los. Die blonden, schweißgetränkten Haare flogen, und für Hagen verlangsamte sich die Zeit. Einen Moment lang schien es, als hielte auch der eisige Wind, der unablässig durch die Fenster des Burgsaals pfiff, vor Spannung den Atem an.
Dann ließ Albrecht das Schwert im Bogen auf Hagen heruntersausen. Doch die zum Schutz der Streiter mit Lederstreifen umwickelte Klinge war schwer und der schmächtige, blasse Albrecht nicht stark genug, um sie schnell zu führen. Mit einem raschen Schritt wich Hagen zur Seite aus, wobei seine Lederstiefel vom Frost versteift knarrten. Gleichzeitig schlug er parallel zum Boden nach dem Gegner und landete einen wuchtigen Treffer gegen den Bauch des Älteren. Im letzten Moment, bevor das Schwert auf Albrechts Wams prallte, lockerte Hagen seinen Griff etwas, um Wucht herauszunehmen. Trotzdem klang der Schlag laut und dumpf im leeren Rittersaal nach und ließ Albrecht wie einen Grashalm an der Sense stöhnend einknicken.
Albrechts Schwert fiel klirrend zu Boden, bevor seine Hände ihm nachfolgten, und Hagen roch die bittere Galle bereits, als sie sich noch den Weg zu den feinen Lippen des Getroffenen bahnte. Auf allen vieren, mit röchelnden Luftzügen, die seine knochige Gestalt erschaudern ließen, versuchte der Sohn der Gräfin Anna von Aichelberg und des Hans Thumb von Neuburg das Erbrechen zurückzukämpfen. Vergebens, schaumige gelbe Flüssigkeit tropfte auf den Boden und bildete dunkle stinkende Stellen im Stroh.

Reihe/Serie Die Chroniken des Hagen von Stein
Heyne Bücher
Illustrationen animagic
Sprache deutsch
Maße 118 x 187 mm
Gewicht 362 g
Einbandart Paperback
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Schlagworte Fantasy • Taschenbuch / Belletristik/Fantasy • TB/Belletristik/Fantastische Literatur • TB/Belletristik/Fantasy
ISBN-10 3-453-52303-2 / 3453523032
ISBN-13 978-3-453-52303-6 / 9783453523036
Zustand Neuware
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