Zwischen Pop und Dschihad (eBook)

Muslimische Jugendliche in Deutschland

(Autor)

eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
256 Seiten
Links, Ch (Verlag)
978-3-86284-227-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zwischen Pop und Dschihad - Julia Gerlach
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In den vergangenen Jahren hat sich eine neue islamische Jugendbewegung gebildet, die sich als Gegenpol zu Al Qaida versteht: Statt langer Bärte und Schleier trägt man Jeans und modische Kopftücher, an die Stelle von Terror sollen Fortschritt und Integration treten. Diese Jugendlichen ermorden weder ihre Schwestern aus falsch verstandener Ehre, noch bedrohen sie ihre Lehrer, oder haben sie die Absicht, sich einem Selbstmordkommando anzuschließen. Die Stars ihrer Pop-islamischen Bewegung sind vielmehr Prediger, Musiker und Talkmaster, die die Jugendlichen dazu anregen, sich in der westlichen Gesellschaft zu engagieren und zugleich die Regeln eines konservativen Islam zu befolgen.
Julia Gerlach hat über Jahre in muslimischen Gruppen Deutschlands und der islamischen Welt recherchiert und zeichnet ein differenziertes Bild von der neuen Jugendbewegung. Sie plädiert für eine Deeskalation in der öffentlichen Diskussion und eine Kooperation mit all jenen Kräften, die sich deutlich von der Gewalt distanzieren.

Jahrgang 1969, Politik- und Islamwissenschaftlerin. 2008-2015 berichtete sie als Korrespondentin für Berliner Zeitung, Frankfurter Rundschau und Focus aus Kairo über die Arabische Welt. Autorin mehrerer Sachbücher zur aktuellen Entwicklung in der Region, zur Jugendkultur und zum Islam in Deutschland, u.a . "Zwischen Pop und Dschihad -Muslimische Jugendliche in Deutschland" (Ch. Links Verlag, 2006) und "Wir wollen Freiheit - Der Aufstand der Arabischen Jugend" (Herder-Verlag, 2011).

Einleitung


London am 7. Juli 2005, morgens um kurz vor sieben. Die Überwachungskamera des Bahnhofes Luton zeigt vier junge Männer. Unauffällig. Sie tragen Jeans, Turnschuhe, Rucksäcke. Sie sprechen kurz miteinander und besteigen dann den Vorortzug nach Kings Cross. Dort trennen sich ihre Wege. Heiter, aber ohne große Geste verabschieden sie sich. Wenig später, um 8.50 Uhr, zünden fast zeitgleich der Sport-Student Shehzad Tanweer, 22, der Lehrer Mohammed Sidique Khan, 30, und der zum Islam konvertierte Jamaikaner Germaine Lindsay, 19, ihre Sprengsätze in voll besetzten U-Bahn-Zügen. Der Jüngste von ihnen, der 18-jährige Hasib Hussein, nimmt einen Doppelstockbus, geht auf das Oberdeck und lässt die Bombe in seinem Rucksack um 9.47 Uhr detonieren. Die vier Attentäter reißen 52 Menschen mit sich in den Tod. Über 700 werden zum Teil schwer verletzt. Erst Madrid, dann London. Der Terror hat Europa erreicht, und Deutschland: Wie können wir uns schützen?

Die Explosionen trafen London nicht unerwartet. Seit den Anschlägen auf New York und Washington 2001 rechneten viele damit, dass auch europäische Großstädte Ziel des Terrors werden könnten. Was Europäer an dem Anschlag von London besonders schockierte, war die Herkunft der Attentäter. Es waren nicht die aus Afghanistan eingeschleusten Al-Qaida-Killer. Die vier Attentäter kamen von nebenan. Es waren junge Männer, im nordenglischen Leeds aufgewachsen, scheinbar gut integriert. Mohammed Sidique Khan engagierte sich für die Jugendlichen seines Stadtteils, versuchte, sie von Drogen und Kriminalität fernzuhalten. Shehzad Tanweer spielte voller Begeisterung Kricket. Er half im Geschäft seines Vaters aus und verkaufte dort Fish and Chips. Mohammed Sidique Khan und Germaine Lindsay waren verheiratet. Ihre Frauen waren schwanger, als die Männer den Zünder ihrer Sprengsätze auslösten. Was brachte sie dazu? Zwei Jahre vor ihrer Tat begannen sich die vier Männer dem Islam zuzuwenden. Dem radikalen Islam. Sie reisten mehrmals nach Pakistan. Immer stärker kehrten sie sich von ihren Familien und der Gesellschaft ab. Vor der Tat verfasste Mohammed Sidique Khan eine Kriegserklärung an seine englischen Mitbürger: »Eure demokratisch gewählten Regierungen begehen fortwährend Grausamkeiten uns gegenüber, und eure Unterstützung dieser Regierungen macht euch direkt verantwortlich! Wir sind im Krieg, und ich bin Soldat!« Das Video, zusammengeschnitten mit einer Ansprache von Bin Ladens rechter Hand, Eiman al Sawahiri, wird Monate nach der Tat vom arabischen Satellitensender Al Dschasira ausgestrahlt. Die vier jungen Männer handelten im Sinne Usama Bin Ladens. Doch sie agierten auf eigene Faust. Das ist der Typ Attentäter, so die Terrorexperten, der Europas Sicherheit am meisten bedroht.

Die Attentäter von London haben eine tiefe Wunde mitten in die Gesellschaft geschlagen. »Eigentlich fahre ich nur noch sehr ungern U-Bahn«, erzählt Mohammed Hamza, ein Student, kurz nach den Attentaten. »Erstens ist mir selbst ein wenig mulmig, wenn ich an die Bomben denke. Zudem starren mich die Menschen an, und ich kann die Angst in ihren Augen sehen.« Auch in Deutschland werden die Blicke auf die Muslime misstrauischer. Könnte so etwas auch bei uns passieren? Die Sicherheitsexperten sagen ja. Deutschland ist trotz seiner Zurückhaltung im Irak-Konflikt mögliches Ziel des Terrors. Nach einer Umfrage des Allensbach-Instituts vom Mai 2006 rechnet knapp die Hälfte der Befragten mit einem größeren Anschlag in der Bundesrepublik. 42 Prozent vermuten unter den in Deutschland lebenden Muslimen Terroristen. Das ist erschreckend. In doppelter Hinsicht. Erstens weil die Angst reale Ursachen hat. Es ist nicht auszuschließen, dass auch Deutschland Ziel eines Anschlags wird und dass wir dabei Opfer von hausgemachtem Terror werden, dass die Attentäter aus Deutschland kommen. Zum anderen steigert die Angst das Misstrauen – und damit die Ausgrenzung junger Muslime, was wiederum die Terrorgefahr erhöht.

Jung. Männlich. Muslim. Nicht erst seit den Anschlägen von London haben junge Muslime im Westen keinen guten Ruf. Sie gelten als Problemfälle in Schule und Gesellschaft. Viele sehen in ihnen ein Sicherheitsrisiko. Der Mord an dem niederländischen Filmemacher Theo van Gogh Ende 2004, der Ehrenmord an der alleinerziehenden Mutter Hatun Sürücü in Berlin im Februar 2005, die randalierende Vorstadt-Jugend in Paris und Umgebung im November des gleichen Jahres, der Karikaturenstreit zu Beginn des Jahres 2006 und die Berichte über die Zustände an der Berliner Rütli-Schule, wo türkisch- und arabischstämmige Jugendliche ihre Lehrer terrorisierten, sind nur einzelne Beispiele. Sie bestätigen das Bild, das viele vom Islam haben. Vom Islam? In Deutschland leben rund 3,5 Millionen Muslime. Einer von ihnen hat Hatun Sürücü im Namen der kurdischen Familienehre erschossen. Ebenso reichen aber für einen verheerenden Anschlag in einer deutschen Großstadt auch einige wenige Einzeltäter. Sie sind es, die das Bild in den Köpfen ihrer Mitbürger prägen. Darüber ärgert sich die große Mehrheit der jungen Muslime, die mit Terror, Gewalt und Ehrenmord nichts zu tun haben wollen, die weder Autos anzünden noch ihre Lehrer terrorisieren.

Um diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen soll es im vorliegenden Buch gehen. Wie leben sie? Was wollen sie und wie sehen sie unsere Gesellschaft? Mehr als 50 Interviews, lange Gespräche, Besuche in Moscheen, Jugendzentren und bei Großveranstaltungen sind die Grundlage für diesen Blick in die Welt der jungen Muslime in Deutschland. Worin sehen sie die Ursache für die Gewalt, die von ihren Alters- und Glaubensgenossen im Namen des Islam verübt wird, und was können wir – gemeinsam – gegen die Bedrohung tun? Wie kann verhindert werden, dass in Deutschland aufgewachsene Muslime unsere Gesellschaft so hassen, dass sie bereit sind, ihre Mitbürger in den Tod zu schicken? Wie sehen andere junge Muslime die Attentäter? Sind es Helden, Märtyrer oder Verbrecher? Die Anschläge von London wurden von der überwiegenden Mehrheit der islamischen Organisationen und Würdenträger verurteilt. Im Internet fanden sich jedoch auch Lobeshymnen, und in manchem Jung-Muslim-Treff in Deutschland wurden die Attentäter ebenfalls bejubelt. Dieses Band der Solidarität zwischen den fanatisierten Kämpfern und einer größeren Masse von mehr oder weniger frommen jungen Muslimen – wie kann es zertrennt werden? Wie kann also verhindert werden, dass Hass und Terror in Deutschland Anhänger und Unterstützer finden?

Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die in diesem Buch zum Teil ausführlich zu Wort kommen, haben mehrere Gemeinsamkeiten. Sie sind alle in Deutschland aufgewachsen, sind religiös. Sie sind zugleich religiöser und erfolgreicher als die Mehrheit der jungen Muslime in unserem Land, und: Sie wollen etwas verändern. Im Namen des Islam engagieren sie sich in Jugendprojekten, in der Moscheegemeinde oder in selbstgegründeten Frauenzentren. Sie schmieren Butterbrote und verteilen sie an Obdachlose im Frankfurter Bahnhofsviertel, sie unterrichten Deutsch für türkische Importbräute oder tingeln durch Moscheen und predigen einen moderaten, weltoffenen Islam. Viele von ihnen besuchen das Gymnasium, studieren oder haben zumindest Realschulabschluss und Ausbildungsvertrag in der Tasche. Sie zählen auch insofern zu einer Minderheit. Man könnte sie als Vorhut oder Trendsetter bezeichnen, denn sie alle stehen für eine neue Strömung im Islam: die pop-islamische Bewegung.

Diese neue Variante des Islam ist ursprünglich in der arabischen Welt entstanden. Ende der neunziger Jahre begannen Prediger wie der Ägypter Amr Khaled eine freundlich-erfolgsorientierte Botschaft unter der Kairoer Mittelschicht zu verbreiten. Inzwischen hat er Millionen Anhänger, die seinen TV-Sendungen lauschen und in seinem Sinne aktiv werden. Sie nehmen ihr Leben in die eigene Hand. Statt darauf zu warten, dass der Staat ihnen Jobs gibt, gründen sie selbst Kleinbetriebe. Sie sind jung, tief religiös und trendbewusst – und sie wollen die Umma, die Gemeinschaft der Gläubigen, aus dem Sumpf ihrer Probleme ziehen. Sie lesen den Koran nicht als Anleitung zum Bombenbau, sondern suchen darin Belehrung für ein besseres, erfolgreicheres Leben. Sie wollen dem Terror etwas entgegensetzen, weil sie Gewalt für den falschen Weg halten und weil sie sich darüber ärgern, dass seit den Anschlägen des 11. September 2001 Islam und Terror für viele im Westen als Synonyme gelten. Viele von ihnen rieben sich die Augen, als sie die Bilder der Flugzeuge im World Trade Center sahen. Ist das wirklich meine Religion, die so etwas befiehlt? fragten sie sich und schauten im Koran nach. Mit dem Lesen in der Heiligen Schrift kam für viele der Glaube und schnell auch das Engagement. So auch unter jungen Muslimen in Deutschland. Hin- und hergerissen zwischen den traditionellen Vorstellungen ihrer Eltern, die aus dörflichen Verhältnissen der Türkei oder der arabischen Welt eingewandert sind, und den Anforderungen des Daseins als Jugendliche in der westlichen Gesellschaft, sehen viele in der Hinwendung zum Islam einen guten Mittelweg. Sie sind selbstbewusste Muslime. Die Mädchen tragen voller Überzeugung das Kopftuch. Schick muss es sein, denn Mode spielt für die jungen Gläubigen eine wichtige Rolle. Die Jungen gehen am Samstagabend lieber zum Koranstudium in die Moschee als in die Disco. Ihr Islamverständnis ist anders als das ihrer Eltern. Ihr Lebensgefühl unterscheidet sie von ihren Mitschülern. Sie gehen eigene Wege.

Die Bewegung ist ebenso global, ebenso fromm und ebenso aktionsorientiert wie Al Qaida, doch sie hat sehr viel mehr...

Erscheint lt. Verlag 24.9.2013
Reihe/Serie Politik & Zeitgeschichte
Co-Autor Raseena Illath, Ivesa Lübben, Nadia Mourad-Osman, Ben Neticha Saber
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Al Qaida • Dschihad • Glaube • Hijab • Identität • Isis • Islam • Islamischer Staat • Kopftuch • Koran • Moschee • Muslim • Muslime • Pop-Islam • Pop-Muslim • Salafismus • Salafist • Terror • Terroranschläge • Terrorismus • westlich
ISBN-10 3-86284-227-4 / 3862842274
ISBN-13 978-3-86284-227-8 / 9783862842278
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