Geschichte der Reformation in Deutschland (eBook)

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2016 | 1. Auflage
1000 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74786-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Geschichte der Reformation in Deutschland -  Thomas Kaufmann
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Die traditionelle, protestantisch geprägte Geschichtsauffassung sah in der »Tat Luthers« eine Befreiung von den »dunklen Mächten« der Papstkirche und ein »Ende des Mittelalters«. Doch weder war das Spätmittelalter »finster« noch Luther eine Lichtgestalt. Sein kirchlicher Reformimpuls steht im Kontext vielfältiger Umbrüche, die um 1500 im politischen, ökonomischen und kulturellen Leben einsetzten. Dass die Reformation viele Menschen mitriss und zuletzt in ein eigenes Kirchenwesen mündete, war nur möglich, weil verschiedene Akteure (Landesfürsten, städtische Magistrate, Bürger und Bauern) etwas mit ihr »anfangen« konnten. Dabei spielten auch die neuen Massenmedien der Zeit (Flugschriften, Predigten) eine große Rolle. Das zuerst 2009 im Verlag der Weltreligionen unter dem Titel Geschichte der Reformation erschienene Buch wurde für die Neuausgabe durchgesehen, aktualisiert und um einen Epilog erweitert, der unter anderem auf die Geschichte der Reformationsjubiläen zurück- und auf das Lutherjahr 2017 vorausblickt.

<p>Thomas Kaufmann, geboren 1962, ist seit 2000 Professor f&uuml;r Kirchengeschichte an der Georg-August-Universit&auml;t G&ouml;ttingen, ist ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu G&ouml;ttingen sowie Ausw&auml;rtiges Mitglied der British Academy. Seit 2011 ist er Vorsitzender des Vereins f&uuml;r Reformationsgeschichte. 2020 erhielt er einen Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis.</p>

EINLEITUNG
DIE REFORMATION UND DIE LIEBE ZUR KIRCHE


Im Frühjahr 1413 schrieb ein Magister der Universität Prag am Anfang eines später berühmten Werkes über die Kirche (Tractatus de ecclesia): »Wie jeder [christliche] Wanderer treulich glauben soll, daß es eine heilige katholische Kirche gibt, so soll er den Herrn Jesus Christus als Bräutigam dieser Kirche und die Kirche als seine Braut lieben; aber er liebt seine geistliche Mutter nicht, wenn er sie nicht durch den Glauben erkennt; also muß er sie durch den Glauben erkennen und sie so wie eine hervorragende Mutter ehren.«1

Der theologische Lehrer, der dies schrieb, war Jan Hus (um 1370-1415), der zwei Jahre später durch das Konzil von Konstanz (1414-18) als Ketzer verurteilt und verbrannt wurde. Die Liebe zur Kirche, die Hus gefordert und beschworen hatte, bezog sich auf die eine, universale, umfassende, also die katholische Kirche des Glaubensbekenntnisses. Diese eine Kirche des Glaubens war für ihn nicht identisch mit der ›real-existierenden‹ römisch-katholischen Papstkirche; denn diese war damals in unterschiedliche Obödienzen konkurrierender Papstprätendenten gespalten, ein belastender Mißstand, den das Konstanzer Konzil zu überwinden antrat. In Hus' Vorstellungen von der Kirche als der geistlichen Braut Christi, nicht als Rechts-, Verwaltungs- und Machtapparat, wirkten Anregungen fort, die von dem Oxforder Theologieprofessor John Wyclif (um 1330-1384) ausgegangen waren. Dieser hatte, anknüpfend an den wichtigsten Kirchenvater des Abendlandes, Augustinus, der irdischen Gestalt der römischen Papstkirche die Idee einer wahrhaft umfassenden, universalen Kirche, deren einziges Haupt Christus sei, entgegengesetzt. Neben 30 Sätzen von Hus wurden auch 45 Artikel aus Schriften Wyclifs in Konstanz verurteilt.2

Luther und seine sogenannten Vorläufer


Das theologische Denken dieser beiden berühmtesten ›Ketzer‹ der abendländischen Kirchengeschichte vor Martin Luther (1483-1546) stellte nicht einfach eine Inspirationsquelle seiner eigenen Theologie dar. Vielmehr setzte seine Beschäftigung besonders mit Hus, später auch mit Wyclif, erst zu einem Zeitpunkt ein, als sich sein innerer und äußerer Ablösungsprozeß von der römischen Papstkirche schon deutlich abzuzeichnen begann, das heißt zwischen dem Frühjahr 1519 und dem Sommer 1520. Gleichwohl hat sich Luther dann gern in eine Traditionslinie mit diesen und anderen seines Erachtens zu Unrecht verketzerten Theologen und enttäuschten Liebhabern der Kirche gestellt und sie damit zu seinen ›Vorläufern‹, sich selbst zu ihrem Nachfolger und Vollender gemacht. In den historiographischen Selbstentwürfen des lutherischen Protestantismus ist dieser Faden weitergesponnen worden: Luther erschien nun als Höhe- und Schlußpunkt einer Schar aufrechter Wahrheitszeugen (testes veritatis), die der verkommenen Papstkirche ihrer Zeit entgegengetreten seien und sie zu reformieren versucht hätten. Mit Luther, so eine feste Überzeugung seiner Anhänger im späteren 16. Jahrhundert, habe Gott den größten und letzten Propheten gesandt, um seiner Kirche vor dem baldigen Ende der Zeiten Buße zu predigen und die widergöttlichen Mißstände zu überwinden.

Dieses protestantische Geschichtsbild, das in seinem ursprünglichen, an Luther anknüpfenden Kern ein Konzept heilsgeschichtlicher Selbstvergewisserung einer beanstandeten Ketzerei darstellt,3 ist zu einer der einflußreichsten ›Meistererzählungen‹ der Geschichtsschreibung überhaupt geworden. Es hat, angereichert mit zunächst humanistischer, später aufklärerischer Rhetorik, die Epoche Luthers als lichtvollen Aufstand der geistigen Freiheit, des christlichen oder bürgerlichen Gewissens, der deutschen Nation gegen die finstere Herrschaft der Päpste und ihrer klerikalen Heerscharen zu inszenieren erlaubt und so dazu beigetragen, jenes Zerrbild des finsteren Mittelalters zu erzeugen, das niederzuringen außerhalb der Wissenschaft noch immer nicht ganz gelungen ist. Indem Luther und seine ›Vorläufer‹, die sogenannten Vorreformatoren, im Verhältnis zu ihrer Gegenwart als große, gefährdete, unverstandene, verfolgte Außenseiter positioniert wurden, geriet häufig das aus dem Blick, was Luther und die Reformer des 15. Jahrhunderts jeweils mit ihrer Zeit verband. Je dunkler die ›mittelalterliche‹ Welt erschien, gegen die Luther und seine Vorkämpfer aufstanden und revoltierten, desto ›zeitloser‹ oder ›moderner‹ erschienen sie selbst. Daß die von Heroisierungen nicht freien Dekontextualisierungen insbesondere Luthers in der weiteren Forschung zu ihrerseits nicht selten angestrengten Bemühungen seiner ›Rekontextualisierung‹ im Mittelalter, ja zur Entdeckung eines mittelalterlichen Luther geführt haben, verwundert daher nicht. Aber wirklich gewonnen war damit wenig. Denn daß all jene Zuschreibungen – mittelalterlich, vormodern, zeitlos-evangelisch, modern usw. – künstliche Konstrukte sind, kann heutigentags wohl kaum ernsthaft strittig sein.

Luther und die sogenannten Vorreformatoren verbindet zunächst nicht sehr viel mehr, als daß sich der Wittenberger ab einem bestimmten Zeitpunkt der Konfliktgeschichte zwischen ihm und der kirchlichen Hierarchie mit ihnen zu beschäftigen und auf sie zu berufen begann. Im Rückblick, von seiner eigenen Verketzerung her, konstruierte er eine Genealogie der von der Papstkirche verfolgten wahren Kirche, die von den altgläubigen Gegnern ihrerseits reproduziert und bestätigt wurde. Denn diese ›häresiologische Genealogie‹ erwies doch schließlich, daß Luther eben wirklich jener Ketzer war, als den man ihn verurteilt hatte. Wer sich selbst öffentlich mit dem Ketzer Hus solidarisierte, durfte sich schließlich nicht wundern, als Hussit beschuldigt und verdammt zu werden. Die protestantisch-emphatische und die katholisch-häresiologische Geschichtsdarstellung erscheinen als zwei Seiten derselben Medaille.

Daß im Rückblick eine Verbindungslinie zwischen Luther und seinen sogenannten Vorläufern gezogen wurde, hat den Blick dafür verstellt, daß die Bemühung um eine Reform der Kirche, um eine lebendige Anpassung der Institution an die sich wandelnden Bedingungen ihrer Zeit, um eine geistliche Reorganisation von ihren heiligsten Ursprungsdokumenten in der Bibel und bei den Kirchenvätern her, kein primär von Außenseitern verfochtenes Nebenthema des Zeitalters um 1500 war, sondern ein Hauptthema, das viele Personen, Gruppen und geistliche Korporationen beschäftigte. In der Intensität, in der man an der Verbesserung der Kirche und ihrer Glaubwürdigkeit arbeitete, manifestierte sich, daß sie der weithin alternativlose Raum war, in dem Individuen, soziale Gruppen und Stände, Zünfte und Genossenschaften, bäuerliche ›Verbündnisse‹ oder Dynastien ihre Bedürfnisse nach Heilssicherung, Kontingenzbewältigung und soziokultureller Repräsentation inszenierten und artikulierten. Nicht zuletzt in der Kritik an der Kirche oder ihren klerikalen Repräsentanten zeigte sich, wie wenig man ihrer entbehren konnte oder wollte. Aus einer im Laufe des 15. Jahrhunderts zunehmenden Kirchenkritik zu folgern, man habe innerlich mit ihr gebrochen und gebe ihr keine Zukunft mehr, wäre ein Irrtum. Offener Widerspruch oder entschlossener Aufstand gegen die Kirche, ihre Praktiken und Lehren bildeten einen höchst marginalen Tatbestand. Eine Ableitung der Reformation aus einer vorreformatorischen feindseligen Haltung gegenüber der Kirche, sofern es diese überhaupt in nennenswertem Maße gab, greift deshalb zu kurz. Die durchaus verbreiteten kirchenkritischen und -reformerischen Stimmen gegenüber dem vorfindlichen Kirchentum sind hingegen als Ausdruck jener prinzipiellen Anerkenntnis ihrer Idee und ihres Wesens zu deuten, ja als Versuch, die Wirklichkeit der Kirche ihrem Ideal anzunähern, die Hus im einleitenden Zitat mit dem affektiven Verb diligere, »lieben«, bezeichnet hat. Da die Kirche immer zugleich real-existierende Institution welthafter Verfehlung und Gegenstand des Glaubens war, konnte jede Kritik an ihr als Erweis ihrer Unumgänglichkeit, Unverzichtbarkeit und Heiligkeit gelten. Ja, die Polemik konnte gegen ihre vornehmsten Repräsentanten im Namen Christi, des Herrn der Kirche, erfolgen und mit dem Anspruch auftreten, aus dem Innersten der wahren Kirche selbst zu stammen. Die schärfsten Kritiker der Kirche waren zumeist ihre glühendsten Liebhaber.

Hierin stimmte Luther mit Hus, mit Wyclif und mit vielen anderen überein, lange bevor er genauere Kenntnisse über ihre Lehren besaß. Diese in der Theologiegeschichte des Abendlandes, bei ihrem wichtigsten ›Vater‹ Augustinus, verwurzelten Selbstunterscheidungen der Kirche als sichtbarer und unsichtbarer, heiliger und sündhafter, welthaft-verstrickter und geistlicher Größe bildeten ein Ferment der Unruhe, der Infragestellung und der Reformbemühung während einzelner Etappen des Mittelalters, aber eben auch in der Zeit der Reformation.

Die selbstverständliche Allgegenwart von ›Kirche‹


Die Reformation und ihr Ringen mit der real-existierenden, ihr Kampf für die ›wahre‹, die ›evangeliumsgemäße‹ Kirche sind nur vor dem Hintergrund der unabweisbaren Allgegenwart der Kirche zu verstehen. Für jeden Europäer nichtjüdischen und nichtmuslimischen Glaubens war ›die Kirche‹ vor Luther, zu seiner Zeit und auch noch ein Jahrhundert nach ihm eine schlechterdings...

Erscheint lt. Verlag 11.9.2016
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Geschenk zur Konfirmation • Luther • Lutherjahr • Referenzwerk • Reformation
ISBN-10 3-518-74786-X / 351874786X
ISBN-13 978-3-518-74786-5 / 9783518747865
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