Höhenrausch (eBook)

Spiegel-Bestseller
Das kurze Leben zwischen den Kriegen
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2022 | 1. Auflage
560 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00487-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Höhenrausch -  Harald Jähner
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Deutschland, 1918. Ende des Ersten Weltkriegs, Revolution, Sieg der Demokratie. Zugleich beginnt ein Siegeszug befreiter Lebensweisen. Die Inflation hat die überlieferten Werte ins Wanken gebracht. Alles soll von Grund auf anders werden: die «Neue Frau», der «Neue Mann», «Neues Wohnen», «Neues Denken». Als es Mitte der Zwanziger auch wirtschaftlich aufwärtsgeht, wird Deutschland ein anderes Land. Frauen eroberten die Rennpisten und Tennisplätze, gingen abends alleine aus, schnitten sich die Haare kurz und dachten nicht ans Heiraten. Unisex kam in Mode, Androgynes und Experimentelles. Jähner erzählt von der Erfindung der Freizeit, von Boxhallen und Tanzpalästen, und von den Hotspots der Neuen Zeit, vom Büro und Großstadtverkehr, vom Warenhaus als Glücksversprechen oder der Straße als Ort erbitterter Kämpfe. So vieles wirkt heute verblüffend modern. Die Vorliebe für Ironie, das Gradlinige und Direkte. Aber auch die Angst vor der «Entwertung aller Werte», der Herrschaft des Billigen. Ein großer Teil der Deutschen fand sich im Aufbruch nicht wieder. Nach und nach offenbarte sich die tiefe Spaltung der Gesellschaft und die Unfähigkeit, sie auszuhalten. Harald Jähner liefert eine Gesamtschau dieser so pulsierenden, reichen Zeit, wie es sie bislang nicht gab - und zeichnet das Bild eines zerrissenen Landes voll gewaltiger und erschreckender Energien. Es ist uns irritierend ähnlich und - hoffentlich - doch ganz anders.

Harald Jähner, Jahrgang 1953, war bis 2015 Feuilletonchef der «Berliner Zeitung», zugleich Honorarprofessor für Kulturjournalismus an der Universität der Künste Berlin. 2019 erschien das Buch «Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945-1955», das mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde und monatelang auf der «Spiegel»-Bestsellerliste stand; es wurde in zahlreichen Ländern veröffentlicht, darunter USA und England, wo es für den renommierten Baillie-Gifford-Preis nominiert wurde. «The Times» schrieb: «Eine bewegende, faszinierende Lektüre. Jähner versteht es meisterhaft, die tragischen, schrecklichen, komischen und aufbauenden Geschichten derer zu erzählen, die dabei waren.»  

Harald Jähner, Jahrgang 1953, war bis 2015 Feuilletonchef der «Berliner Zeitung», zugleich Honorarprofessor für Kulturjournalismus an der Universität der Künste Berlin. 2019 erschien das Buch «Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945–1955», das mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde und monatelang auf der «Spiegel»-Bestsellerliste stand; es wurde in zahlreichen Ländern veröffentlicht, darunter USA und England, wo es für den renommierten Baillie-Gifford-Preis nominiert wurde. «The Times» schrieb: «Eine bewegende, faszinierende Lektüre. Jähner versteht es meisterhaft, die tragischen, schrecklichen, komischen und aufbauenden Geschichten derer zu erzählen, die dabei waren.»  

Vorwort Das neue Leben


Geschichte wird manchmal mit dem Fotoapparat gemacht. Als die Fotografin Frieda Riess 1925 den jungen Boxer Erich Brandl nackt vor die Kamera stellte und in ihrem Atelier am Kurfürstendamm seinen trainierten Körper so raffiniert ausleuchtete und zur Schau stellte, wie es sonst nur Männer mit Frauenkörpern hielten, und als dann der Kunsthändler Alfred Flechtheim die dabei entstandenen Bilder, Vorder- und Rückenakt, in seinem Zeitgeistmagazin «Querschnitt» ganzseitig abdruckte, taten beide das in dem berauschenden Gefühl, auf der Höhe ihrer Zeit zu sein. Das Boxen war eine neue, aus Amerika gekommene Sportart, die in der deutschen Kulturszene für Aufregung und Begeisterung sorgte. Von den Boxkämpfen konnte man was lernen; so könnte, so müsste ein Theaterabend sein, meinte nicht nur Bertolt Brecht. Er installierte in seinem Arbeitszimmer einen Punchingball, die Schriftstellerin Vicki Baum trainierte regelmäßig in einem Boxstudio. Das Wort «Körperkultur» machte die Runde; der makellose, durchtrainierte Körper war eine Obsession der Zeit. Modern sein hieß, sportlich und schnell sein. Und schließlich hatte die bilderhungrige Republik ein besonderes Faible für Fotografinnen und den weiblichen Kamerablick; die interessantesten, innovativsten Gestalter in diesem neuen Gewerbe waren Frauen.

Frieda Riess ließ Erich Brandl zu Boden schauen. So sah er viel objekthafter aus, als wenn er Gesicht gezeigt und den Betrachter angeschaut hätte. Zudem verbot sie ihm die üblichen herausfordernden Boxergesten. Statt mit kampfbereiten Fäusten Deckung haltend, wie die Bildhauerin Renée Sintenis den jungen Boxer zeigte, bat Frieda Riess ihn, den rechten Arm etwas zu heben, so dass sein Körper besonders schutzlos wirkte. Diese betonte Verletzlichkeit verschärfte noch den Eindruck, wie radikal und herausfordernd hier die üblichen Rollen von Mann und Frau vertauscht worden waren. Dass eine Frau so liebevoll einen Männerkörper zum Objekt degradierte wie auf diesem Bild (S. 289), das kam selbst in den provokationslustigen zwanziger Jahren nicht oft vor. Das sollte Folgen haben, da konnte man sicher sein.

Anhand solcher Szenen wie dem Fotoshooting im Prominentenstudio der Frieda Riess erzählt dieses Buch das spannungsreiche Panorama einer Zeit, die in vieler Hinsicht wie eine Blaupause der heutigen wirkt. Von der Gegenwart aus gesehen zeigt sich die Weimarer Republik wie ein Wackelbild, überraschend heutig und dann doch wieder auf bizarre Weise fremd. Mal wirkt sie beinah moderner, als wir es sind – fast so, als würden wir zurückblicken auf etwas, das uns erst noch bevorsteht –, dann wiederum erscheint sie so weit entfernt von uns wie die düster gekleideten, steifen Figuren auf den Familienbildnissen unserer Ururgroßväter.

Wie euphorisch hatte es 1918 angefangen, mit dem Sturz des Kaisers und der Ausrufung der ersten demokratischen Republik auf deutschem Boden! «Die alte Welt ist morsch, sie knackt in allen Fugen», fühlte die junge Ausdrucks- und Grotesktänzerin Valeska Gert: «Ich will helfen, sie kaputtzumachen. Ich glaube an das neue Leben. Ich will helfen, es aufzubauen.»[1] Auf allen Gebieten schien eine neue Zeit anzubrechen, man erwartete den «Neuen Menschen», die «Neue Frau», das «Neue Bauen», selbst die Sachlichkeit wurde als «Neue Sachlichkeit» mit Leidenschaft verfochten. Auch der Architekt Bruno Taut, bald berühmt für die zurückhaltende Funktionalität seiner Großsiedlungen und eigentlich ein Mann des Ausgleichs, jubelte 1920 in fast religiöser Verzückung: «In der Ferne glänzt unser Morgen (…) Hoch das Durchsichtige, Klare! Hoch die Reinheit! Hoch der Kristall! Und hoch und immer höher das Fließende, Grazile, Kantige, Funkelnde, Blitzende, Leichte – hoch das ewige Bauen!»[2] So sachlich, wie man heute die kubischen Bauten und die kargen Stahlrohrmöbel des «Neuen Bauens» erlebt, kann man sich kaum vorstellen, in welchem Höhenrausch sie damals gestaltet wurden. Und mit welcher Aggressivität. Gegen die stuckverzierten Gründerzeitbauten wütete Taut mit einem Furor, der nach Sprengstoff und Abrisshammer verlangte: «Weg mit den (…) Grabstein- und Friedhofsfassaden vor vierstöckigen Trödel- und Schacherbuden! Zerschmeißt die Muschelkalksteinsäulen in Dorisch, Jonisch und Korinthisch, zertrümmert die Puppenwitze! (…) Oh! unsere Begriffe: Raum, Heimat, Stil –! Pfui Deuwel, wie stinken die Begriffe! Zersetzt sie, löst sie auf! Nichts soll übrigbleiben! (…) Tod allem Muffigen!»[3]

Wie passt das zusammen? Wie passt diese aufpeitschende Begleitmelodie zu der Architekturmoderne, die uns doch heute so nüchtern und kühl und in ihrer ausgewogenen Eleganz geradezu vorbildlich erscheint? Der dramatisierende Radikalismus, typisch für diese Jahre auf vielen Gebieten, ließ mich nach dem Gefühlshaushalt der Weimarer Republik fragen. Nur wenige Zeitabschnitte unserer Geschichte haben von Beginn bis Ende ähnlich intensive Emotionen entfacht wie sie. Geboren aus den Qualen des Krieges, wurde der Enthusiasmus der Revolution überschattet von den Demütigungen der Niederlage und dem Gefühl geistiger Obdachlosigkeit, den Risiken einer ungewohnten Freiheit. Wie in einer Achterbahn ging es auf und ab: Einem unerwartet steilen Aufschwung folgte schon zwei Jahre später der Irrsinn der Inflation mit ihren Milliardenmarkscheinen, mit denen man nicht mal einen Bettler glücklich machen konnte. Die Inflation stellte jahrhundertealte Wertvorstellungen in Frage, radierte Traditionen aus den Köpfen und machte die Menschen reif für ein turbulentes Jahrzehnt, das, um es mit den Worten des Historikers Detlev Peukert zu sagen, «mondän und atemlos alle Positionen und Möglichkeiten der Moderne durchspielte, erprobte und sie nahezu gleichzeitig verwarf»[4].

Dieses Buch erzählt von Gefühlen, Stimmungen und Empfindungen als Aggregaten politischer Haltungen und Konfliktlagen. Von schwankenden Phänomenen wie Unbehagen, Zuversicht, Angst, Überdruss, Selbstvertrauen, Konsumlust, Tanzlust, Erfahrungshunger, Stolz und Hass. Wie fühlte man sich in der Weimarer Republik? Das ist natürlich pauschal gar nicht zu beantworten. Aber die Frage ist, in der Pluralität der verschiedenen und widersprüchlichen Sichtweisen, die entscheidende. Wie fühlte es sich an, jung zu sein, Frau zu sein, Großstädter oder Bauer? Wie fühlten sich die Freikorpskämpfer 1918, die nicht einsahen, dass der Krieg zu Ende sein sollte? Was fühlten die Revolutionäre? Woher kam der verbreitete Hass gegen den weichen Plüsch, gegen Verzierungen und Ornamente? Wie sahen die jungen Frauen ihre Zukunft, als die Inflation ihre Mitgift vernichtete und sie dafür in Scharen etwas fundamental Neues bekamen, nämlich eine Angestelltentätigkeit? Wie fühlten sich die Menschen, als die Großstädte wuchsen und wuchsen und niemand wusste, anders als wir Heutigen, ob sie je damit aufhören würden? Und warum war ausgerechnet der traurige Joseph Roth vom Großstadtverkehr so begeistert und rief: «Ich bekenne mich zum Gleisdreieck»? Warum drückte die junge Autorin Ruth Landshoff-Yorck ihrem Auto einen Kuss auf die Kühlerhaube, wenn sie es nachts in der Garage abstellte, und warum empfahl sie ihren Leserinnen dringend, es ihr gleichzutun?

Erzählt wird die Geschichte der Weimarer Republik an Orten, die prägend waren für ihre mentale Entwicklung: ob Tanzpalast, Bauhaus-Haus, Großraumbüro, Verkehrsgewühl, Fotostudio, Sportpalast, das Bierzelt zu Wahlkampfzeiten oder der Straßenrand, wenn die Kampfbünde marschierten. In den Blick rücken auch die Dörfer und Kleinstädte, in denen der Groll auf die Großstadt wuchs, die den Menschen angeblich die Köpfe verdrehte, die jungen Frauen zum Weglaufen animierte und den Dörflern die Bräute abspenstig machte. Hart kontrastierten auf dem Land die Mühen des Alltags mit den Verheißungen der schönen neuen Konsummoderne, die man aus den Städten vernahm. Wird man der Provinz gerecht, wenn man sich vor allem auf die glamourösen Highlights der zwanziger Jahre konzentriert? Oder wiederholt man einen Fehler, der schon damals den Berliner Kultureliten vorgeworfen wurde, nämlich über den Aufregungen der Metropole die Realität des Landes zu ignorieren? Und was hatte es umgekehrt mit der Landlust der Weimarer Republik auf sich, mit der schwärmerischen Siedlerbewegung, die die Jugend hinaus auf die Äcker rief, mit den Vorläufern der Biokultur und der Landkommunen?

Undenkbar wäre die Wucht der kulturellen Umwälzungen ohne den Jazz, der den Leuten einheizte, sie beflügelte und berauschte. Mit der Schallplatte war die Popkultur geboren, die die Lebensintensität gewaltig steigerte. Dass man den Charleston allein tanzen konnte, ist in seinen Folgen für die Selbstermächtigung des Subjekts gar nicht zu überschätzen. Dass man sich allein zu den hottenden Massen auf die Tanzfläche begeben konnte, bedeutete eine Revolution auf dem Tanzboden, diesem Brennpunkt gesellschaftlichen Lebens, der eine aufregende Brücke zum Heute schlägt. Aber dann bewegt man das Wackelbild wieder ein wenig und sieht die eleganten Eintänzer beim Gesellschaftstanz auf ihren Einsatz warten. Wie fühlten sich diese ausgemusterten jungen Offiziere, die nun Dienst taten in den Tanzpalästen der Republik und von unabhängigen Frauen bezahlt wurden, die keine Zeit hatten, lange herumzusitzen und darauf zu warten, bis jemand sie zum Tanzen auffordert? Das Berliner Haus Vaterland sorgte sogar für die Kinderbetreuung, wenn die Mütter nachmittags beim Tanztee schwoften.

Erzählt wird von der konfliktgeladenen Politik der Körper, den neuen Aufregungen um die Pole männlich und weiblich, dem...

Erscheint lt. Verlag 16.8.2022
Zusatzinfo Zahlr. s/w Abb.
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Schlagworte 20er Jahre • 20. Jahrhundert • Alltag • Alltagskultur • Angestellte • Bauhaus • bestsellerliste spiegel aktuell • Büro • Cabaret • Christian Bommarius • Demokratie • Deutsche Geschichte • Emanzipation • Freizeit • Friedrich Ebert • Geschichte • Geschichte Europas • Geschlechterrollen • Gesellschaft • Goldene Zwanziger • Großstadt • Großstadtverkehr • Historische Bücher • Historisches Sachbuch • Hotel Adlon • Im Rausch des Aufruhrs • Inflation • Jazz • Kulturgeschichte • Kunst • Mentalitätsgeschichte • Mode • Neue Sachlichkeit • Revolution • Roaring Twenties • Ruhraufstand • Schwarzer Donnerstag • Sport • Sportpalast • Stadt • Tanz • Untergang • Vergnügen • Verkehr • Versailler Vertrag • Verträge von Locarno • Warenhaus • Weimarer Republik • Weimarer Verfassung • Weimarische Republik • Weimar Republik • Weltwirtschaftskrise 1929 • Zwanziger Jahre
ISBN-10 3-644-00487-0 / 3644004870
ISBN-13 978-3-644-00487-0 / 9783644004870
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