Was wir glauben, wer wir sind -  Nesibe Özdemir

Was wir glauben, wer wir sind (eBook)

Spiegel-Bestseller
Vom Mut, sich neu zu denken. Geschichten aus der Psychotherapie
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
248 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-86757-5 (ISBN)
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Glaubenssätze beeinflussen, was wir uns zutrauen. Sie bestimmen unseren Blick auf uns selbst, was wir meinen, (nicht) zu können oder tun zu müssen. Aber ist das, was wir über uns glauben, wirklich wahr? In zehn Geschichten aus ihrer Therapiestunde erzählt Psychotherapeutin Nesibe Özdemir, wie es Menschen verändert, wenn sie tief verankerte Überzeugungen erkennen und hinterfragen. Sie hört bei ihren Klient:innen auf die Zwischentöne, das Ungesagte, das Querstehende und entdeckt Glaubenssätze, die jede:r von uns in sich trägt. Fragen, Zusammenfassungen und Tipps am Ende der Kapitel inspirieren dabei zur Selbstreflexion: Welche Überzeugung hält mich gefangen? Was macht mich frei?

Nesibe Özdemir ist SPIEGEL-Bestsellerautorin, Psychologin und als Psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis tätig. In den sozialen Medien erreicht sie als @psychologin_nesibe und bei @fuehlen_wir ein großes Publikum und ist regelmäßige Interviewpartnerin in Hörfunk und TV. 2022 wurde sie mit dem Förderpreis Ambassadors für Wissenschaftskommunikation der Deutschen Gesellschaft für Psychologie ausgezeichnet. Sie lebt in Berlin.

Wichtig sein
Entstehung der Glaubenssätze


Frau A. erschien – wie immer – überpünktlich zur vereinbarten Therapiesitzung. Sie war eine der Patient:innen, die so zuverlässig war, dass es in mir den Druck auslöste, ebenso pünktlich die Tür zum Wartezimmer zu öffnen und sie hereinzubitten. Ich bemerkte, wie ich kurz vor den Sitzungen mit Frau A. immer angespannter wurde, hastig die entsprechende Akte aus meinem Stahlschrank herauszog und mir zweimal überlegte, ob ich vorher noch schnell einen Snack aß. Ich wollte schließlich um Punkt vierzehn Uhr die Tür öffnen und Frau A. hereinbitten. Bei kein:er der anderen Patient:innen verspürte ich diesen Druck. Ich beschloss, es in der heutigen Sitzung anzusprechen, als ich Frau A. zügig die Tür öffnete. Sie trat ebenso zügig ein und setzte sich hastig auf eine der beiden sich gegenüberliegenden Sessel. Ich schloss die Tür und setze mich ihr gegenüber.

»Mir ist heute bewusst geworden, dass ich mich vor den Sitzungen mit Ihnen ganz anders verhalte als sonst. Ich bin total angespannt und unter Druck, besonders pünktlich sein zu müssen. Ich achte dabei viel weniger auf meine Bedürfnisse und hab nur noch die Zeit im Blick. Kennen Sie das auch?«, fragte ich sie, nachdem wir über ihre aktuellen Befindlichkeiten gesprochen hatten.

»Sie beschreiben gerade mein Leben, wie es 24/7 abläuft. Ich fühle mich ständig getrieben, kenne es gar nicht anders«, antwortete sie. Frau A. atmete tief aus und ließ sich dabei leicht in den Sessel sinken. Das war das erste Mal, dass sie nicht kerzengerade vor mir saß und mit hochgezogenen Augenbrauen auf meine Antwort oder nächste Frage wartete, als müssten wir so schnell wie möglich zu einem bestimmten Ergebnis kommen.

»Beschreiben Sie mir dieses Gefühl vom Getriebensein doch näher«, bat ich sie.

»Es ist eigentlich unerträglich, aber gleichzeitig mein bester Freund. Na ja, Freund und Feind in einem. Ich brauche es. Denn es hilft mir, mich und meinen Tag und all die Aufgaben, die ich habe, zu strukturieren und perfekt auszuführen. Ich gebe immer 120 Prozent und auf mich ist Verlass. Das hat mich auch beruflich dahin gebracht, wo ich heute stehe. Es hat mich erfolgreich gemacht und hält mich am Laufen.« Sie pausierte. Ich wartete ab und wir saßen für einen Moment still da.

»Aber es ist auch so verdammt anstrengend, ständig funktionieren zu müssen«, unterbrach sie das Schweigen.

»Sie müssen also funktionieren?«

»Ja, schon. Also, eigentlich muss ich gar nichts. Aber in mir ist da doch etwas, was mich einfach antreibt. Ich muss dann einfach was tun. Und am besten perfekt.«

»Und was ist, wenn Sie einen Fehler machen oder etwas nicht perfekt läuft?«, fragte ich.

»Puh. Das ist schwer auszuhalten für mich. Ich weiß noch, als ich mal vergessen hatte, meinem Chef die Abrechnungen in sein Büro zu legen, bevor ich nach Hause ging. Mir fiel es abends um 22 Uhr ein und ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Ich schrieb ihm mehrere E-Mails mit der Bitte um Entschuldigung. Ich habe mich die ganze Nacht fertiggemacht und mich dafür gehasst, wie dumm ich eigentlich bin. Am nächsten Tag habe ich mir das Frühstück verboten. So als Strafe. Ich konnte auch eh nichts essen. Ich fuhr eine Stunde früher zur Arbeit und legte meinem Chef gleich alles hin. Das Schlimmste war: Er hatte es gar nicht bemerkt und war total verwundert über meine ganzen Entschuldigungen. Das war so peinlich! Ich habe mich gefühlt wie eine richtige Versagerin!« Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und ihr ganzer Körper spannte sich wieder an. Sie schämte sich.

»Woher kennen Sie dieses Gefühl schon?«, wollte ich wissen.

»Ach, eigentlich aus jedem verdammten Tag meiner Kindheit. Meine Mutter gab mir das Gefühl jeden Tag. Sie wissen doch, sie ist ein echter Tyrann. Ihre Art der Kommunikation bestand eigentlich nur aus Befehlen, Verboten und Schlägen.«

»Und welche konkrete Situation fällt Ihnen jetzt ein, wenn Sie an dieses Gefühl des Versagens denken?«, hakte ich nach.

»Immer wenn eines meiner Geschwister etwas Falsches oder Verbotenes getan hat, wurden wir alle bestraft. Ich war schon sehr früh darum bemüht, alles so genau und richtig wie möglich zu machen, um meiner Mutter endlich mal zu gefallen. Vielleicht mal ein Lob zu hören. Pustekuchen! Nicht ein einziges Mal hat sie mich gelobt. Bis heute nicht. Und ich gab mir wirklich Mühe. Ich war so brav und angepasst. Wenn aber irgendwer von meinen Geschwistern was fallen ließ oder zu laut war, dann kam sie auf uns zu gerannt und bestrafte uns alle drei.

Wissen Sie, das war so demütigend. Sie machte sich nicht einmal die Mühe zu fragen, was passiert war oder wer ›schuld‹ war. Es war anscheinend weniger mühevoll für sie, uns einfach alle drei zu verprügeln.«

»Ich kann gut nachvollziehen, dass Sie das als demütigend empfunden haben.«

»Ja. Ich schämte mich in diesem Moment einfach so.«

»Warum genau?«

»Weil ich es nicht der Mühe wert war. Verstehen Sie? Ich war es nicht mal wert, dass man nachfragt, was eigentlich geschehen ist. Ich war quasi unsichtbar. Aber nicht unsichtbar genug. Denn für die Schläge hat’s ja noch gereicht. Das ist erniedrigend. Ich schämte mich dann einfach.«

»Wie auch morgens im Büro Ihres Chefs? Als ihm nicht einmal aufgefallen war, dass die Abrechnung abends fehlte?«, fragte ich.

»Ja. Genau so. Ich gebe mir so viel Mühe. Und die Menschen bemerken es nicht einmal. Bemerken mich nicht mal.« Sie vergrub ihr Gesicht wieder in ihren Händen.

»Und deshalb geben Sie sich immer mehr Mühe – in der Hoffnung, dass Sie dann vielleicht bemerkt werden?«

»Ja, irgendwie schon. Ich will doch nur, dass man schätzt, was ich alles tue. Vielleicht mal ein Lob, vielleicht mal ein Danke.«

»Also müssen Sie weiter funktionieren?«

»Ja.«

»Und dabei gehen Sie nicht besonders freundlich mit sich um, richtig? Ihre Bedürfnisse kommen zu kurz, Sie erteilen sich selbst Befehle und Verbote, die eingehalten werden müssen, zum Beispiel wann Sie aufstehen und wie viel Sie essen dürfen. Sie bestrafen sich auch selbst, wenn Sie mal einen Fehler machen oder eines der selbst auferlegten Verbote nicht eingehalten haben.«

»Ja, wie meine Mutter.« Sie hob die Mundwinkel zu einem Lächeln, aber ihre Augen schauten traurig.

»Stimmt. Nur dass Sie Ihre Mutter gar nicht mehr brauchen. Sie haben die Art der Kommunikation verinnerlicht und übernommen. Sie tun das jetzt alles selbst.«

»Ich kann nicht anders. Ich muss.« Sie stockte. »Ach Mist, da ist es wieder. Dieses verdammte Muss!«

Wir arbeiteten weiter an den leistungsfordernden Gedanken. Frau A.s bewusste, typische Gedanken, die meistens automatisch in den unterschiedlichsten Situationen präsent waren, lauteten: »Ich kann nicht anders. Ich muss.«

Die dahinter liegende Annahme war: »Ich muss besonders viel leisten.« Hinter dieser Annahme verbarg sich der Glaubenssatz: »Ich bin unwichtig.«

Wenn wir diese Entstehungskette also zurückgehen, verstehen wir, dass die leistungsfordernden Gedanken wie: »Ich muss das schaffen!« und ihr dazugehöriges Verhalten, also immer 120 Prozent zu geben und eigene Bedürfnisse ignorieren, sowie die Strenge, die sie sich selbst gegenüber zeigt, vollkommen logisch sind.

Es ist absolut nachvollziehbar, dass sich Frau A. so verhält, da sie eines unbedingt vermeiden möchte: unwichtig zu sein.

Der dahinter liegende, hinderliche Glaubenssatz von »Ich bin unwichtig« ist dermaßen schmerzhaft und bedrohlich für sie, dass sie all diese Anstrengung in Kauf nimmt, um das Gefühl, was dieser Glaubenssatz auslöst, nicht fühlen zu müssen: Demütigung und Scham.

Allerdings führt ihr Verhalten – paradoxerweise – immer wieder zur Bestätigung des Glaubenssatzes und zu dem Gefühl der Scham. Aber wie kann das sein?

Denken wir an die Situation mit ihrem Chef zurück. Dieser hat im Grunde nichts damit zu tun. Dass sich ihr Glaubenssatz immer weiter bestätigt und verfestigt, hat mit ihrem Verhalten, ihrer Wahrnehmung und ihrer Bewertung der Situationen zu tun. Und diese fallen so aus, wie sie sind, aufgrund der verinnerlichten Glaubenssätze.

Frau A. zeigte also übermäßig viel Engagement auf der Arbeit, dabei hatte sie ein Gefühl von Kontrolle und Sicherheit, weil sie wusste: Ich leiste viel und bin gut dabei. Ich werde gesehen und auf mich kann man hier nicht verzichten. Doch dann unterlief ihr, wie jedem Menschen mal, ein Fehler. Sie vergaß etwas.

Eine...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
ISBN-10 3-407-86757-3 / 3407867573
ISBN-13 978-3-407-86757-5 / 9783407867575
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