45 Sekunden. Meine Leidenschaft fürs Turnen - und warum es nicht alles im Leben ist (eBook)

Spiegel-Bestseller
Ein Plädoyer für menschlicheren Leistungssport (SPIEGEL Bestseller)
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
304 Seiten
Edel Sports - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
978-3-98588-025-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

45 Sekunden. Meine Leidenschaft fürs Turnen - und warum es nicht alles im Leben ist -  Kim Bui,  Andreas Matlé
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Die deutsche Ausnahmeturnerin Kim Bui schildert ihren Weg zum Leistungssport ab dem zehnten Lebensjahr. Turnen ist für sie die schönste Sportart der Welt, ihre Karriere aber auch mit vielen Entbehrungen, Tränen, Schmerzen und Verletzungen verbunden. Sie beschreibt eindringlich, welchen Willen und welcher Leidenschaft es bedarf, um Tag für Tag stundenlang für einen Wettkampf zu trainieren, der nur 45 Sekunden dauert. Was es bedeutet, als olympische Spitzenathletin in bescheidenen wirtschaftlichen Bedingungen zu leben und sich parallel um eine Berufsausbildung zu kümmern. Dabei setzt die jahrelange Athletensprecherin sich auch kritisch mit den Schattenseiten des Turnsports und hochsensiblen Themen wie Sexualisierung, Essstörungen, seelischem Missbrauch und Zukunftsängsten auseinander. Dabei legt sie Wunden offen, ohne verletzend zu sein. Ihr Buch ist ein zutiefst menschlicher Appell an die Gesellschaft, sportliche Leistung auch jenseits der olympischen Medaillenränge wertzuschätzen.

Kim Bui, 1989 in Tübingen als Kind von Geflüchteten aus Vietnam und Laos geboren, blickt auf eine beispiellose Kunstturnkarriere zurück. Die vielfache Deutsche Meisterin nahm an drei Olympischen Spielen und zahlreichen Welt- und Europameisterschaften teil. Sie war Athletensprecherin und ist heute mit der Forschung in der Krebs-Therapie befasst. Kim Bui lebt in Stuttgart.

Kim Bui, 1989 in Tübingen als Kind von Geflüchteten aus Vietnam und Laos geboren, blickt auf eine beispiellose Kunstturnkarriere zurück. Die vielfache Deutsche Meisterin nahm an drei Olympischen Spielen und zahlreichen Welt- und Europameisterschaften teil. Sie war Athletensprecherin und ist heute mit der Forschung in der Krebs-Therapie befasst. Kim Bui lebt in Stuttgart. Andreas Matlé wurde 1960 in Frankfurt geboren, wo er eine Diskothek betrieb und für lokale Zeitungen schrieb. Heute leitet er die Öffentlichkeitsarbeit eines Unternehmens und organisiert kulturelle Veranstaltungen. Buchveröffentlichungen u. a. "Sonay A. – Hier will ich leben" und "Bock!". Andreas Matlé lebt in der Wetterau bei Frankfurt.

Kapitel 1

EINE EINS WÄRE BESSER GEWESEN


„Hey, Kimi, bitte ein Autogramm!“, „Kimi, kann ich ein Selfie mit dir machen?“, „Kimi, malst du mir einen Smiley auf den Unterarm?“ Das schmeichelte, das lief den Rücken hinab wie warmes Massageöl. Autogrammstunde, Sicherheitsmenschen, die uns einigermaßen vor der Menge abschirmten, eine Interviewanfrage nach der anderen. Wow, wir waren offenbar very important. Zumindest hier in Stuttgart. An manchen Tagen, an denen mir nicht danach war, mich nach dem Wettkampf durch die Menschenmenge zu schlagen, kletterte ich aus einem Fenster der Porsche-Arena, um von dort ungesehen zum Hotel zu gelangen.

Es war eine tolle Heim-WM. Gleich zweimal „Heimat“ für mich: Titelkämpfe im eigenen Land und das noch in der Stadt, in der ich meinen Lebensmittelpunkt gefunden hatte. Begeisterung, tolle Stimmung, unbekannte Menschen, die meinen Namen riefen. Aber das i-Tüpfelchen hatte ich nicht setzen können. Ich hatte kein Gerätefinale erreicht, und als Mannschaft hatten wir knapp das Teamfinale der besten Acht verpasst.

Zwei Wochen nach der Abschlussfeier war ich ernüchtert, die Euphorie war weg, entwichen wie die Luft aus einem Ballon, der mal prall gefüllt war. Der nächste Wettkampf, bei dem ich mich in die Euphorie wieder hätte zurücksteigern können, weit entfernt, die Lust zum Trainieren hinkte der Pflicht hinterher.

In dieser Stimmung saß ich auf der Couch einer Freundin. Sie hatte Pfefferminztee aufgegossen. Ich stierte in das Glas, auf die Schlieren, die sich auf der Oberfläche des Tees bildeten. „Wenn ich es mir so recht überlege“, sagte ich wie hypnotisiert, als sei ich gerade aus einem Tiefschlaf erwacht, „habe ich in meinem Leben eigentlich nichts erreicht.“

Sie war nicht so schnell aus der Reserve zu locken, blies in ihre Tasse und blickte über den Rand hinweg zu mir herüber. „Was redest du da?! Was du geleistet hast, davon können sich andere eine dicke Scheibe abschneiden. Das solltest du eigentlich wissen.“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Was muss passieren, damit du endlich diese Zweifel abschüttelst, diese ewige Grübelei, dass du nichts wert bist.“ Dann schlug sie vor: „Vielleicht gehst du mal eine Stunde raus in den Wald.“

An diese Szene musste ich denken, als ich zweieinhalb Jahre später, im Februar 2022, im Auto saß auf der Fahrt zum Training. Der Himmel hing tief und grau über dem Land. Nur mit halbem Ohr hatte ich den Nachrichten aus dem Radio gelauscht. Plötzlich wurde ich hellhörig. „Bei den Olympischen Winterspielen in Peking spielten die deutschen Biathletinnen im Massenstartwettbewerb keine Rolle“, verkündete der Radiosprecher nüchtern, ohne jegliche Anteilnahme, dafür eine Spur Geringschätzung in der Stimme.

„Franziska Preuß wurde nur Achte.“ Nur. Achte. Ich drückte schnell die Wahltaste eines Senders mit musikalischem Allerlei. Nur Achte, hallte die Stimme des Nachrichtensprechers in meinen Ohren. Nur Achte, also eine Verliererin. Er hätte genauso gut formulieren können: Sie wurde die Achtbeste der Welt, herzlichen Glückwunsch! Aber vermutlich hätte er sich damit lächerlich gemacht, wahrscheinlich hätte man ihm Sarkasmus unterstellt.

Zur Rede gestellt, was ihn zu dieser Abwertung veranlasst habe, hätte er voraussichtlich geantwortet: Franziska Preuß hatte schon olympisches Gold und fünfmal Silber geholt und, und, und …

Genau, Spitzensportler haben wie Roboter zu funktionieren. Wenn einer dreimal als Erster durchs Ziel geht und beim vierten Mal Zehnter wird, ist die Reaktion vorhersehbar: Was war los? Woran lag es? Was ist schiefgelaufen? Oder als Phrase: Sie oder er konnte „die Leistung nicht abrufen“. Einmal Champion, immer Champion, darunter geht nichts mehr. Die Kommentare liegen griffbereit in der Floskelschublade: nicht genug trainiert, nicht fokussiert genug, keine Mentalität, zu satt, zu sehr von sich überzeugt, Bodenhaftung verloren. Nur Achtbeste der Welt. Da die Ansprüche an Spitzensportler gewaltig sind, der Druck so hoch wie nie zuvor ist, springen die meisten über das Hölzchen, das ihnen vor die Füße gehalten wird: Der kleine Zeh habe gezwickt, die äußeren Bedingungen seien ungünstig gewesen, die Zeitumstellung habe den Biorhythmus aus dem Lot gebracht.

Im Radio lief Easy on me von Adele. „I didn’t get the chance to feel the world around me, I had no time to choose, what I chose to do, so go easy on me.“ Hatte ich je eine Wahl gehabt?

Ich musste lachen. So gesehen war das beinahe ein Vorteil, dass ich nicht ständig mit Gold, Silber und Bronze geehrt wurde. Stünde ich permanent im Rampenlicht, wäre ich wegen meines Posts in Tokio zerpflückt worden. So aber hatten nur 10 412 Menschen meinen Beitrag auf Instagram geliked. Nur? Aufgepasst, dachte ich, jetzt bloß nicht selbst in den Herabsetzungsmodus verfallen. 213 Menschen hatten einen Kommentar hinterlassen. „Top Leistung“, „Bravo“, „So perfekt“, „Hammer“ und viele anfeuernde Ausrufezeichen. Aber auch: „Ganz klar: Das [so im Original] schönste Turndress“, „Der Anzug mit den langen Beinen ist sehr chic“ und „Ihr seid so elegant in eurem Gewand“. Jeder setzt eben seine eigenen Prioritäten.

Folgendes war passiert. Ein halbes Jahr früher, im August 2021, hatte ich aus Tokio von den Olympischen Spielen gepostet: „Ich bin glücklich und stolz. Ich wurde heute die siebzehntbeste Turnerin der Welt. Es lief besser, als ich es mir je erträumt hätte.“

32 Jahre musste ich werden, um mich für ein Mehrkampffinale auf Weltniveau zu qualifizieren, also so etwas wie die Königsdisziplin in unserem Sport, ähnlich wie der Zehnkampf bei den Leichtathleten. Das heißt, an allen vier Geräten der Frauen, Sprung, Stufenbarren, Schwebebalken und Boden, wird jeweils eine Übung geturnt, die einzelnen Wertungen werden zu einer Gesamtpunktzahl addiert.

Ich war die drittälteste Turnerin bei diesen Spielen und darüber hinaus die Älteste im Mehrkampffinale. Mein Turnalter war vergleichbar mit einem 50-jährigen Fußballer, der immer noch Champions League spielt, oder einem 60-jährigen Boxer, der noch mal nach dem Gürtel greift. Zwei Jahre vor Tokio hatte mir die Cheftrainerin ein T-Shirt überreicht mit der Aufschrift „20 Jahre Bundeskader“. Wir mussten beide lachen. Denn einige der Turnerinnen, die bei der Übergabe brav applaudierten, waren noch nicht geboren, als der Adler zum ersten Mal seinen Bizeps auf meinem Trikot spielen ließ. Ich sage mal, 20 Jahre Bundeskader, das ist vergleichbar mit einem Fußballer, der 30 Jahre in der Nationalmannschaft kickt.

Es hatte bis zum Finale im Ariake Gymnastic Centre von Tokio gedauert, bis ich zum ersten Mal in meinem Sportlerinnenleben stolz auf mich war. Rundherum zufrieden, im Frieden mit mir selbst. Bisher war jegliches Lob von Trainern und Freunden nach Wettkämpfen von mir abgeprallt, als sei ich dagegen imprägniert. Dabei war das der Grund, warum ich die jahrelange Plackerei und den Verzicht auf mich nahm: um Beachtung zu finden und Aufmerksamkeit zu gewinnen. Um wer zu sein. Um das Gefühl abzuschütteln, als einsames Staubkörnchen durch die Welt zu torkeln.

Aber dem Stolz auf meine Leistung stand dieser verdammte Hang zur Perfektion entgegen, sicherlich auch teilweise geprägt durch meine Eltern. Kam ich mit einer Zwei in einer Klassenarbeit nach Hause, runzelte mein Vater die Stirn: „Eine Eins wäre besser gewesen.“ Genau dieser Wunsch nach Perfektion peitscht uns Turner an. Er ist uns in Fleisch und Blut übergegangen. Lockerlassen käme einer Kapitulation gleich.

Aber heute weiß ich: Perfektion ist eine Seifenblase – sie ist nicht zu erreichen. Weil es immer noch besser, anspruchsvoller, schöner geht. Wer der Perfektion hinterherhechelt, sich nie zufriedengibt, endet über kurz oder lang im Frust, wenn nicht sogar in einem Burnout oder in einer Depression – ich spreche da aus eigener Erfahrung. Ich habe mal gehört, dass es unter persischen Teppichknüpfern die Redewendung „persischer Fehler“ gibt. Angeblich bauen die Knüpfer absichtlich einen Fehler ein. Sie sind der Ansicht, dass nur Gott perfekt sei. Und den dürfte man nicht vergrätzen. Dieser Blick gefällt mir.

Bei nationalen und internationalen Wettbewerben feierte ich durchaus Erfolge, man hängte mir den Orden „Miss Zuverlässig“ um, die ihre Mannschaft nie im Stich ließ – nur mich selbst konnte das alles nie überzeugen. Ich dachte immer: Ich hätte es besser machen können. Eine Eins wäre besser gewesen. Ständig grübelte ich: Woran lag es dieses Mal, dass die Übung nicht perfekt war.

Aber in Tokio war es richtig rund gelaufen, obwohl die Spiele wegen Corona um ein Jahr verschoben worden, die ersten intensiven Vorbereitungen also für die Katz gewesen waren, obwohl ich lange mit mir gehadert hatte, ob ich überhaupt den Versuch wagen sollte, mich erneut für das Olympiateam zu qualifizieren. 2008 in Peking war ich nur Ersatzfrau gewesen, die Enttäuschung darüber saß immer noch tief. Mindestens genauso tief wie ein Jahr zuvor in Stuttgart bei der Weltmeisterschaft, als ich ganz außen vor gelassen wurde. Und auch dieses Mal hatte mir die Trainerin signalisiert, dass ich nur das fünfte Rad am Wagen sein würde.

Schließlich der Wettkampftag in Tokio selbst, das Mehrkampffinale. Ich hatte mich morgens träge, grau und übersäuert gefühlt, die Nacht war unruhig, voller schwerer Gedanken gewesen. Bei der Bodenübung, mit der das Finale begann, hatte ich das Gefühl, dass Eisenketten an meinen Füßen hingen. Aber dann schüttelte die Routine die Ketten ab: doppelte Kosakendrehung, Radwende, Flickflack, Doppelsalto...

Erscheint lt. Verlag 4.3.2023
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Sport
Schlagworte Biografie • Biographie • Buch • Bulimie • Essstörung • Gerätturnen • Geschlechtergerechtigkeit • Kunstturnen • Leistungsdruck • Leistungssport • MTV Stuttgart • Olympia • Olympische Spiele • Psychische Gewalt • Rassismus • Sachbuch • Sexismus • Sport • TSG Tübingen • Turnen
ISBN-10 3-98588-025-5 / 3985880255
ISBN-13 978-3-98588-025-6 / 9783985880256
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