Café Größenwahn (eBook)

1890-1915: Als in den Kaffeehäusern die Welt neu erfunden wurde
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
384 Seiten
Hoffmann und Campe (Verlag)
978-3-455-01657-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Café Größenwahn -  Dirk Liesemer
Systemvoraussetzungen
19,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
An der Wende zum 20. Jahrhundert rebellieren junge Menschen gegen altes, prüdes Denken. Allen Widerständen zum Trotz wollen sie nichts weniger, als ausbrechen, das Leben genießen und sich selbst verwirklichen. Unter ihnen: Erich Mühsam, Else Lasker-Schüler und Arthur Schnitzler. Im Wiener 'Café Griensteidl', im Münchner 'Café Stefanie' und im Berliner 'Café des Westens' lieben und streiten sie sich, schmieden Allianzen und diskutieren dabei aberwitzige Visionen einer anderen, neuen Welt. Dirk Liesemer zeichnet ein ebenso faszinierendes wie höchst unterhaltsames Porträt der 'Belle Époque'  - eine Zeit, in der jahrhundertealte Gefüge zerbrechen und die den eigenen Größenwahn stets um ein Vielfaches zu übertreffen vermochte.

Dirk Liesemer, Jahrgang 1977, arbeitet als Journalist und Buchautor. Er schreibt insbesondere über Geschichte und Gesellschaft. Seine Texte sind in zahlreichen Magazinen erschienen, darunter GEO, mare, G/Geschichte, Free Men's World und im Feuilleton der FAZ. Er lebt in München. Für seine journalistische Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem ITB-Preis für 'Das besondere Reisebuch', sowie für diverse weitere Preise nominiert.

Dirk Liesemer, Jahrgang 1977, arbeitet als Journalist und Buchautor. Er schreibt insbesondere über Geschichte und Gesellschaft. Seine Texte sind in zahlreichen Magazinen erschienen, darunter GEO, mare, G/Geschichte, Free Men's World und im Feuilleton der FAZ. Er lebt in München. Für seine journalistische Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem ITB-Preis für "Das besondere Reisebuch", sowie für diverse weitere Preise nominiert.

Cover
Titelseite
Widmung
Motto
Vorwort
Am dritten Tisch links
Eine heikle Aussprache
Der Invalide des Lebens
Kampfansage ans Kaiserreich
Flucht in die Schweiz
Als Hetäre unter Männern
Dichten, singen, tanzen
Bulldogge mit Sektflasche
Die lange Nacht der Schüttelreime
Eine Liebe in Ascona
Revoluzzer und Hausdichter
Angriff aufs Kaffeehaus
Brüchiges Eis, brüchige Welt
Säbelrasseln und Apfelkuchen
Ausblick
Dank
Allgemeine Hinweise
Quellen
Bildnachweise
Über Dirk Liesemer
Impressum

2. Straßenszene am Stephansdom in Wien um 1900

Wien


Kalter Wind fegt über die Boulevards, als Hermann Bahr im April 1891 wieder durch die Stadt seiner Jugend flaniert, die er einst verlassen musste. Es kommt ihm winterlich vor, geradezu eisig wie in Russland, wohin er kürzlich ein Theater begleitet hat. Am liebsten würde er gleich weiterreisen, nur fort von hier, und einem Freund ins warme Palästina folgen, wäre ihm nicht das Geld ausgegangen, was man ihm jedoch nicht ansieht. Zu gern kleidet er sich elegant, meist trägt er ein dunkles Sakko und einen steifen Hut. Dabei ist Bahr jung, gerade siebenundzwanzig Jahre alt, hat aber bereits in halb Europa gelebt und sich überall nicht nur Freunde geschaffen. Er ist ein kräftiger Mann mit breitem Kreuz und einem dunklen Vollbart, der ihn in dieser Welt des neunzehnten Jahrhunderts erfahren und glaubwürdig wirken lassen soll.

Bahr stammt aus der Provinz, aus Linz, aber hier in Wien hat er das Akademische Gymnasium besucht und Rechtswissenschaften studiert, bis man ihn von der Universität warf, weil er vor einer Burschenschaft eine skandalöse Rede zum Gedenken an den just verstorbenen Richard Wagner gehalten hatte. Damals, vor acht Jahren, war er radikal deutschnational gewesen: Er hatte das Habsburgerreich wegen der vielen Völker abgelehnt, das Deutschtum hochgehalten, er hatte auf die Juden geschimpft, etwas von »Erlösung« gefaselt und damit einen Tumult hervorgerufen. Nach seinem Rauswurf aus der Hochschule hatte Hermann Bahr in der Ferne, in Czernowitz, Berlin, Paris und Sankt Petersburg, neue Leidenschaften entdeckt: das Theater und die Literatur. Mittlerweile hat er das Politisieren hinter sich gelassen, nicht aber das Provozieren. Er liebt es, braucht es regelrecht für sein Wohlbefinden und wird sein Leben lang nie davon lassen. Gerade eben hat er ein schlüpfriges Theaterstück über eine lüsterne, lesbische Mutter geschrieben, das sicher nicht jedem gefallen wird. Er freut sich jetzt schon auf die empörten Reaktionen.

Nun, auf seinem Spaziergang durchs kaiserliche Wien, dürfte ihm auffallen, wie nicht nur er sich gewandelt hat, sondern auch die Metropole des riesigen österreichisch-ungarischen Reiches. Jahr für Jahr strömen Zehntausende Menschen nach Wien, sie kommen aus allen Regionen des Habsburgerreichs, aus Galizien, der Bukowina, aus Friaul-Julisch Venetien, aus Böhmen und Mähren, Siebenbürgen und Südtirol, dem Banat, der Karpatenukraine, aus der Vojvodina und aus dem besetzten, aufsässigen Bosnien und der Herzegowina. In Wien leben mehr Tschechen als in Prag, und es sind tschechische Dienstmädchen, die in diesen Jahren mit Knödeln und Palatschinken die Wiener Küche hervorzaubern, die einmal als typisch österreichisch gelten wird. Nicht nur Hilfsarbeiter suchen ihr Glück in Wien, auch Schneider, Schlosser, Tischler, Advokaten, Professoren und Fabrikanten. Die Reicheren reisen mit ihren Familien an, mieten herrschaftliche Wohnungen, schicken ihre Söhne und Töchter auf die besten Schulen, eröffnen Büros und Praxen, gründen Firmen und Manufakturen.

Schon jetzt wohnen in der Metropole knapp anderthalb Millionen Menschen. Und der Zuzug hält ungebremst an. Wenn die Stadt weiter so rasant wächst, wird sie in zwei Jahrzehnten, also um das Jahr 1910, die viertgrößte Metropole der Welt sein, nach New York, London und Paris, aber vor Berlin und weit vor München. Sollte nichts dazwischenkommen, keine Seuche und kein Krieg, dürfte sie Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts sagenhafte vier Millionen Einwohner zählen. Niemand kann sich das recht vorstellen, und kaum jemand möchte es.

Die Residenzstadt fasst die Massen längst nicht mehr. Während Kaiser Franz Joseph I. und seine Gemahlin Elisabeth von Österreich-Ungarn im weitläufigen Schloss Schönbrunn residieren, hausen nicht weit davon entfernt Arbeiter, Tagelöhner und Hungerleider in muffigen, beengten Quartieren. Glücklich ist, wer ein eigenes Bett besitzt, das sich stundenweise vermieten lässt, froh ein jeder, der in einem Massenquartier einen Platz ergattert hat und nicht unter einer Brücke schlafen muss. Erst im vergangenen Jahr, am 1. Mai 1890, dem neuen Kampftag der Sozialdemokraten, hat es die größte Protestkundgebung in der Geschichte der Monarchie gegeben. Wie vielerorts in Europa versammelten sich auf dem Gelände des Praters hunderttausend Arbeiter und forderten Utopisches: nicht nur gerechten Lohn, sondern ein besseres Leben mit acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, acht Stunden freier Zeit.

Im Imperium von Franz Joseph I. dürfen auch jene träumen, denen sonst nichts bleibt. Trostlos ist der Alltag für viel zu viele Menschen. Allein die vierhundertfünfzig Wiener Straßenbahnkutscher sitzen täglich sechzehn bis achtzehn Stunden für kleinstes Geld in ihren Kabinen. Verspäten sie sich nur um eine einzige Minute an einer Station ihrer Strecke, drohen Sonderschichten am arbeitsfreien Tag. Nicht bloß sie werden so geknebelt. Doch die Nöte und Sehnsüchte der kleinen Leute lassen Kaiser, Adel und Großbürger kalt. Sie geben sich einer anderen Utopie hin und haben die Millionenstadt in eine gewaltige Baustelle verwandelt. Erst ließen sie gewaltige Dämme errichten, um die Donau einzuhegen, die regelmäßig die Stadt überflutete, dann begann der Bau der pompösen, rund vier Kilometer langen Ringstraße, des stolzesten und prächtigsten Boulevards auf dem Kontinent. Immer mehr verwandelt sich das alte Wien in ein neues Athen an der Donau. Knapp achthundertfünfzig neue Gebäude sollen am Ende am Ring stehen, viele davon aufwendig ausgestattet mit Skulpturen, Säulen und Ornamenten.

Als erstes Haus am Ring öffnete das wuchtige kaiserlich-königliche Hof-Operntheater, das später als Staatsoper weltberühmt wird, etwas weiter prunkt das Burgtheater, die größte Bühne Europas, gefolgt von der Börse im Stil der Neorenaissance. Monumental präsentiert sich der Heldenplatz, wenig bescheiden geben sich auch die beiden riesigen Museen, das Kunsthistorische und das Naturhistorische mit seiner habsburgischen Meteoritensammlung. Für die Ewigkeit gebaut sind die Neue Universität und das neogotische Rathaus mit seinen gut anderthalb Tausend Zimmern. Einschüchternd wirkt der an einen griechischen Tempel erinnernde Reichsrat, das Parlament. Hinzu kommen all die protzigen Ministerien, von denen das größenwahnsinnigste, das Kriegsministerium, noch nicht einmal geplant ist. Stets ließen sich die Architekten vom antiken Rom und Athen inspirieren, bis ihr Kolossalwerk auf die Menschen in Wien wie eine Beschwörung alter Macht zu wirken begann.

Während in den Vorstädten noch die Wege gepflastert werden, zieht ins Stadtzentrum die moderne Zeit ein: Arbeiter verlegen Kabel für neuartige Geräte, die man Fernsprechkioske nennt. Man spricht in ein Rohr und hält sich ein zweites ans Ohr. So kann man sich mit jemandem unterhalten, der sich ganz woanders aufhält. Allein im Zentrum stehen mittlerweile sechs öffentliche Sprechzellen, und ständig kommen weitere hinzu. Auch ein paar Benzinkutschen rumpeln durch die Straßen, jene Gefährte, die ein deutscher Ingenieur namens Carl Benz erfunden hat, aber es sind vor allem die Pferdestraßenbahnen, in die täglich Abertausende Wiener einsteigen, um so rasch wie möglich zur Arbeit zu gelangen.

Hermann Bahr biegt jetzt um die Ecke zu seinem Kaffeehaus im frühbarocken Palais Dietrichstein am Michaelerplatz, einem sternförmigen Platz an der Hofburg. Dort, im Café Griensteidl, treffen sich Autoren, Schauspielerinnen und Dramaturgen, tauschen sich aus, lästern über Abwesende oder lesen Zeitschriften, die aus aller Welt eintreffen. Ob wohl jemand schon sein gerade veröffentlichtes lesbisches und inzestuöses Liebesdrama Die Mutter besprochen hat?

Um Kritik, Tratsch und Neuigkeiten zu erfahren, gibt es in Wien keinen besseren Ort als das Kaffeehaus. Ob Beamte, Kaufleute, Militärs, Schauspieler, Konservative, Liberale, Sozialdemokraten, Juden, Protestanten, Katholiken – jede Gruppe hat ihr eigenes. Allein im Stadtzentrum finden sich einhundertfünfzig Cafés, in der ganzen Metropole sind es fünfhundert kaffeeausschenkende Gewerbebetriebe. Alles ist vorhanden, von ärmlichen Schenken bis zu vornehmsten Etablissements mit hohen Gewölbedecken, Plüschmöbeln, Kristalllüstern, Perserteppichen, Thonetstühlen sowie Marmortischen für Getränke und Zeitungen.

So sitzt man in seinem Café, genießt eine Melange und erfährt in den Blättern alles über Aufstände am anderen Ende der Welt. Manch einer fühlt sich wie auf einem Ausguck, von dem aus sich der Planet überblicken lässt. Dabei verspricht der Kaffee einen Hauch von Ferne, Exotik und Abenteuer. Schließlich wachsen die Bohnen Tausende Kilometer weit entfernt, im Hochland Afrikas, eines Kontinents, auf dem es, von Wien aus gesehen, letzte weiße Flecken gibt, obwohl auch diese bereits unter den europäischen Großmächten aufgeteilt sind.

Mit den Kaffeehäusern hat sich eine einzigartige Hochkultur im Reich der Habsburger etabliert. Sicher, nicht nur in Wien stehen prächtige Cafés, auch in Prag und Budapest, in Venedig, Marseille, Paris, London, München und im dröhnenden Berlin. Aber nirgendwo sonst in Europa wird der Kaffee so lustvoll zelebriert wie in der Hauptstadt des riesigen Schmelztiegels im Zentrum Europas. Vielleicht sind die Spezialitäten in anderen Kaffeehäusern exquisiter als im Griensteidl. Im Café Herrenhof etwa treten die Marqueure, wie die Wiener Kellner heißen, mit einer Lackierer-Farbskala an die Marmortischchen der Gäste. Aus nicht weniger als zwanzig nummerierten Schattierungen von Tiefschwarz bis...

Erscheint lt. Verlag 2.11.2023
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Schlagworte Arthur Schnitzler • Belle Époque • Berlin • Café • Dekadenz • Else Lasker-Schüler • Epoche • Erich Mühsam • Jahrhundertwende • Kulturgeschichte • München • Wien
ISBN-10 3-455-01657-X / 345501657X
ISBN-13 978-3-455-01657-4 / 9783455016574
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 7,1 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich