Die Macht der Machtlosen -  Loel Zwecker

Die Macht der Machtlosen (eBook)

Eine Geschichte von unten

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
416 Seiten
Tropen (Verlag)
978-3-608-12324-1 (ISBN)
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Die größten Verbesserungen der Welt verdanken wir Unbekannten -  Zeit, sie kennenzulernen!  Wer errang die großen positiven gesellschaftlichen Veränderungen unserer Welt? Nicht die Fürsten, Präsidenten und Philosophen. Es waren einfache Leute. Sie legten »von unten« den Grundstein für die Abschaffung der Sklaverei, das Ende des Feudalsystems und der Unterdrückung der Frauen. Loel Zwecker erzählt die Geschichte von den ersten Aktivisten bis heute und gibt den Namenlosen eine Stimme. Überraschend aktuell und inspirierend mit Blick auf die Herausforderungen der Gegenwart. Ein Hoch auf die Macht der Machtlosen! Die großen positiven gesellschaftlichen Veränderungen unserer Welt verdanken wir Aktivistinnen und Aktivisten, die von der Geschichtsschreibung vergessen wurden. Zu Unrecht. Benjamin Lay setzte erstmals auf Empathie als politisches Mittel, um den Mitgliedern seiner Glaubensgemeinschaft die Unhaltbarkeit der Sklaverei vor Augen zu führen. Mother Jones organisierte einen »Kreuzzug« gegen Kinderarbeit und forderte John Rockefeller heraus. Wat Tyler verlangte bereits im Mittelalter die Aufhebung der Standesunterschiede in England und die Umverteilung großer Reichtümer. Catharina Linck, Knopfmacherin aus Halle, liebte Frauen, brach mit Geschlechterrollen und trat für mehr Diversität bei der sexuellen Orientierung ein. Loel Zwecker holt ihre und weitere bewegende Geschichten aus der Vergessenheit. Er erzählt von ihren oft raffinierten Aktionen und Methoden, mit denen sie nachhaltige Verbesserungen bewirkten. Ein kluger wie spannender Blick in die Vergangenheit als Empowerment für die Zukunft.

Loel Zwecker, geboren 1968, ist Autor und freier Redakteur. Er promovierte über das Thema Kunst und Politik und war Dozent für Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er schrieb für verschiedene Tageszeitungen (SZ, FR, NZZ, Le Monde) und verfasste mehrere Bücher, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Zuletzt veröffentlichte er den Bestseller Was bisher geschah. Eine kleine Weltgeschichte (2010) und Vom Anfang bis heute. Eine kleine Geschichte der Welt (2017).

Loel Zwecker, geboren 1968, ist Autor und freier Redakteur. Er promovierte über das Thema Kunst und Politik und war Dozent für Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er schrieb für verschiedene Tageszeitungen (SZ, FR, NZZ, Le Monde) und verfasste mehrere Bücher, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Zuletzt veröffentlichte er den Bestseller Was bisher geschah. Eine kleine Weltgeschichte (2010) und Vom Anfang bis heute. Eine kleine Geschichte der Welt (2017).

Einleitung

Was tun ohne Macht? oder Die Hausfrau, die den Diktator stürzte


An einem Sonntag im September 1738 betritt ein kleinwüchsiger Mann den Veranstaltungssaal seiner Kirchengemeinde in Pennsylvania. Er trägt einen auffällig dicken grauen Mantel, unter dem er offenbar etwas versteckt hält. Nach einer Weile streift er ihn plötzlich ab, und die Anwesenden erschrecken. Der Mann steht da mit gezücktem Schwert. Für die Gemeindemitglieder, streng pazifistische Quäker, eine heftige Provokation. »So soll denn«, ruft er, »Gott das Blut jener vergießen, die ihre Mitgeschöpfe versklaven!« Daraufhin schlägt er mit der Waffe auf eine Bibel ein. Das Entsetzen ist groß, zumal als aus der Heiligen Schrift Blut spritzt und die Umstehenden besudelt.[1]

Vor seinem Auftritt hat Benjamin Lay seine Bibel mit einer mit Kermesbeerensaft gefüllten Blase präpariert. Doch nicht nur mit dieser Tat hinterlässt der aus England immigrierte gelernte Handschuhmacher, der in Amerika als Obstbauer und Ziegenhirte lebt, nachhaltig Eindruck. Immer wieder sorgt er mit Pamphleten und Aktionen für Aufsehen, über Jahre hinweg. Einmal hockt er sich mitten im Winter barfüßig und in kurzen Hosen vor das Gemeindehaus der Quäker auf den eisigen Boden. Als seine Glaubensbrüder und -schwestern eintreffen, bitten sie Lay, besorgt um seine Gesundheit, sich doch etwas anzuziehen. »Ihr schützt Mitleid mit mir vor«, entgegnet er. »Aber ihr empfindet nichts für die Sklaven, die im Winter halb bekleidet auf euren Feldern schuften.«

So hat Benjamin Lay, den heute kaum jemand kennt, Geschichte geschrieben. Er darf als erster Aktivist der Anti-Sklaverei-Bewegung gelten. Vielleicht war er sogar der erste Aktivist im heutigen Sinn überhaupt. Mit seinen Mitteln stemmte er sich gegen die – zumindest mit Blick auf die Opferzahlen sowie die geographische und zeitliche Ausdehnung – größte Alltagsbarbarei der Menschheitsgeschichte. Er und ein paar andere Abolitionisten begannen im Kleinen. Nachdem sie über Jahre und Jahrzehnte Netzwerke geknüpft hatten, ließen sich schließlich Politiker für ihre Sache gewinnen. 1780 sollte Pennsylvania, Lays Heimatstaat, als wohl erster der Welt die Sklaverei abschaffen.[2] 1834, ein Jahrhundert nach Lays Aktionen, folgte als erster großer Sklavereistaat Großbritannien.

Wie dieser epochale Erfolg genauer zustande kam und was sich daraus für die Gegenwart ziehen lässt, darauf werde ich in Teil I dieses Buches eingehen. Aktivisten wie Lay sind heute weitgehend unbekannt. Und es ist höchste Zeit, sie als zentrale historische Akteure anzuerkennen. Sie bewiesen Mut und Einfallsreichtum, waren im Denken ihrer Zeit voraus. Um ihre Botschaft zu verbreiten, entwickelten sie ein vielseitiges Arsenal an Methoden, von emotional anrührenden Inszenierungen bis hin zu gewieften Kommunikations- und Marketingstrategien. Ihre Errungenschaften umfassen überraschend viele Felder. Neben ihrem unersetzlichen Beitrag zur Abschaffung der Sklaverei gelang es ihnen, Empathie als wichtigen Bestandteil politischen und wirtschaftlichen Handelns zu etablieren. Sie definierten Luxus neu. Und sie konnten letztlich Menschen für ihr Anliegen gewinnen, von denen man es nicht gedacht hätte: Grundbesitzer, Politiker und sogar Sklavenhalter. In heutigen Worten konnten die Abolitionisten Leute aus ihrer »Blase« holen, um so die historisch breitesten Netzwerke und Koalitionen für ein progressives Projekt zu schmieden, über Kontinente, Ideologien, Schichten und Milieus hinweg.

Insgesamt steht der Abolitionismus beispielhaft für eine historische Tatsache, die gern übersehen oder nicht in ihrer ganzen Tragweite beleuchtet wird: Die meisten, ja fast alle positiven gesellschaftlichen Entwicklungen von übergreifender Bedeutung wurden nicht von Leuten mit Amtsgewalt oder Wirtschaftskraft wie Fürsten, Präsidenten, Militärs, Magnaten oder CEOs angeschoben; und es waren auch nicht Revolutionsführer oder »große Denker« – sondern scheinbar Machtlose, »die da unten«, einfache Leute.

Das ist besonders von Bedeutung mit Blick auf aktuelle Probleme wie die soziale Ungleichheit, den Vormarsch von Autokraten und Populisten, die Klimakatastrophe – und den zivilgesellschaftlichen Kampf dagegen. Die Bandbreite der historischen Beispiele reicht von Bauernrebellen des Mittelalters, die erstmals in der Geschichte mehr ökonomische Gleichheit und kulturelle Gleichberechtigung forderten, über den Abolitionismus bis zur Frauen- und Arbeiterbewegung. Diese Entwicklungen will ich auch deshalb genauer beleuchten, weil sich aus jeder von ihnen Ideen und Maßnahmen für Probleme der Gegenwart ergeben.

Die Beispiele betreffen eine Vielzahl an ökonomischen, politischen und kulturellen Feldern. Ich stelle Abolitionisten wie Benjamin Lay und Olaudah Equiano vor, die Gewerkschaftlerin Mary Harris Jones oder den religiösen Sozialisten Gerrard Winstanley. Um zu verstehen, wie Veränderung möglich wird, ist es unabdingbar, diese Menschen und ihre Geschichten besser kennenzulernen, ihren Errungenschaften einen angemessenen Platz in der Geschichte zu verschaffen.

Bessere Arbeitsbedingungen, genossenschaftliches Wirtschaften für ein nachhaltiges Wachstum, egalitäre Gemeinden oder die Schaffung von Stipendien, die mehr arme Menschen in Parlamente bringen – der Blick auf die Geschichte zeigt so viel Utopisches, schlau Konzipiertes und bereits einmal Praktiziertes, das sich ausbauen oder neu umsetzen ließe, in den unterschiedlichsten Bereichen. Wobei sich eine Gemeinsamkeit festhalten lässt: Oftmals war es ein Verzicht, ein Aufgeben und Loslassen von überschüssigen Ressourcen, von Privilegien und Macht, das am Ende einen Gewinn für alle brachte.

Wann begann sich die Macht der vermeintlich Machtlosen erstmals zu entfalten? Die Anfänge dessen, was ich im Folgenden schildere, liegen erstaunlicherweise weder in der Antike, der »Wiege unserer Zivilisation«, noch in der Aufklärung, sondern im Mittelalter. Das ist ein wichtiger Punkt, auch weil dadurch nebenbei klar wird, dass wir im Rückblick schriftliche Statements, etwa von berühmten Philosophen der Antike oder der Aufklärung, in ihrer Bedeutung gern überschätzen. Dabei legten sogenannte Bauernrebellen, allgemeiner gesprochen Unterprivilegierte, einfache Leute, im 14. Jahrhundert die Fundamente für eine modernere Auffassung von Recht und Gerechtigkeit. Sie, und nicht Sokrates, Aristoteles oder Thomas von Aquin, wehrten sich als Erste gegen die Einteilung der Menschheit in Adelige und Knechte, in Arm und Reich, in »kultiviert« und »unkultiviert«. Das geschah an mehreren Orten, unter anderem 1323 in Flandern und 1381 in England. »Als Adam grub und Eva spann, wer war da der Edelmann?«, lautete ihr Slogan. »Vom Anfang an wurden alle Menschen von Natur aus gleich geschaffen.« Darin steckt nichts weniger als die Erklärung der Bürger- und Menschenrechte vier Jahrhunderte vor jener der Französischen Revolution von 1789, die im Übrigen an der materiellen Ungleichheit wenig bis nichts änderte.[3] Und mehr als sechs Jahrhunderte bevor Ökonominnen und Anthropologen unserer Zeit in Studien empirisch belegen können, dass mehr soziale Gleichheit für die körperliche und seelische Gesundheit aller Menschen, auch der Privilegierten, Vorteile bringt.[4]

Vielleicht muss ich an dieser Stelle einem möglichen Missverständnis vorbeugen. Wenn ich von einfachen Leuten spreche, meine ich damit nicht so etwas wie »einfach gestrickt«, sondern die zwei Duden-Bedeutungen: erstens »nicht mit besonderen Privilegien ausgestattet«, zweitens »bescheiden, wenig Aufhebens um sich machend«. Das gilt etwa für die britischen Diggers, eine christlich-anarchistische Gruppe, die Mitte des 17. Jahrhunderts brachliegendes Land von Großgrundbesitzern besetzte und in basisdemokratischen Gemeinschaften bebaute. Sie erfanden nichts weniger als einen unternehmerischen, auf Privatinitiative aufbauenden Sozialismus und den gewaltfreien Aktivismus.

Stärker sichtbar werden die Erfolge ab dem 18. Jahrhundert. Das trifft besonders für das zu, was ich die »Big Three« der einfachen Leute nenne: den bereits erwähnten Abolitionismus sowie die Frauen- und die Gewerkschaftsbewegung. Letztere brachte der Mehrheit der Menschen ein besseres Leben. Zudem konnten Randständige erstmals offiziell die politische und kulturelle Bühne betreten. Gewerkschaften und ihre Vorläufer, die Friendly Societies, entwickelten sich zu Laboratorien für innovative, kreative Formen der Politik und des Aktivismus, etwa mit Mietstreiks oder Konsumboykotten, die heute wieder aktuell erscheinen. Auch an abgelegenen Orten wurden neue Strategien entwickelt. Wie im Fall von Domitila Chungara, die als Frau eines Minenarbeiters im bolivianischen Andenhochland schlimmste Armut und Unterdrückung erlitt. Mit ihrem »Hausfrauenkomitee« initiierte sie 1978 Hungerstreiks und trug maßgeblich zum Sturz des Diktators bei. Auf ihre Art tat sie auch einiges für den Feminismus. Die Frauenbewegung insgesamt darf als Sonderfall in Sachen einfache Leute gelten. Denn in ihr fanden sich auch Adelige, die »nicht mit besonderen Privilegien ausgestattet« waren, zumindest im Verhältnis zu ihren Männern. Auch deshalb betone ich hier den fundamentalen, letztlich nicht nur für den weiblichen Teil der Bevölkerung relevanten Aspekt, sich und seinen Lebensstil komplett neu zu erfinden – gegen extreme Widerstände, gegen alltägliche, oft sexualisierte Gewalt und über Jahrtausende eingeschliffene Mentalitäten und Gewohnheiten. Dies ist ein Wandel von Grund auf, bis ins Privatleben hinein, und das ohne ideologisch oder doktrinär zu sein. So sind die Feministinnen darin Vorbilder, radikale Transformationen auch...

Erscheint lt. Verlag 16.3.2024
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Schlagworte Abolitionismus • Aktivismus • aktivistin • Buch • Eine kleine Weltgeschichte • Geschichte von unten • Gesellschaft • historisch • Klassenfrage • Luisa Neubauer • Moderne • neuerscheinung 2024 • Neues Sachbuch 2024 • Revolution • Revolutionär • Sozialer Fortschritt • Sozialreformen • Verstehen • Vom Anfang bis heute • Was bisher geschah • Weltgeschichte
ISBN-10 3-608-12324-5 / 3608123245
ISBN-13 978-3-608-12324-1 / 9783608123241
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