Sprachengerechtigkeit (eBook)
445 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73313-4 (ISBN)
<p>Philippe Van Parijs, geboren 1951 in Brüssel, ist Professor für Ökonomie und Sozialethik an der Université catholique de Louvain sowie für Philosophie in Harvard. Gastprofessuren führten ihn an Universitäten und Forschungseinrichtungen rund um den Globus, u. a. nach Moskau, Paris, Montréal, Rio de Janeiro, Peking, Montevideo und Kinshasa. Er gilt als Vordenker des bedingungslosen Grundeinkommens und ist Gründer des<em> Basic Income Earth Network</em> (BIEN). 2001 erhielt Van Parijs den Francqui-Preis, die höchste akademische Auszeichnung, die sein Heimatland zu vergeben hat.</p>
15Einleitung
Sprachenfragen haben mich lange verwirrt. Und beunruhigt. Und intellektuell fasziniert. Kein Wunder, könnte man sagen. Zwischen meinem Vor- und meinem Nachnamen trage ich eine Sprachgrenze mit mir herum. Meine Muttersprache ist nicht die Sprache, die ich am besten spreche – und auch nicht die Sprache, die ich heute mit meiner Mutter spreche. Wenn alle meine Kinder zum Abendessen versammelt sind, erklingen vier Sprachen am Eßtisch. Zudem unterrichte ich an jenen beiden Institutionen, die entstanden, als eine 550 Jahre alte Universität zu der Zeit, da ich an ihr zu studieren begann, entlang einer sprachlichen Kluft auseinanderbrach. Vor allem aber wurde ich in Brüssel geboren, wo ich auch aufwuchs und heute wieder lebe: in der Stadt also, in der sich Pieter Bruegel der Ältere in genau jenem Jahr niederließ, in dem er zweimal den Turmbau zu Babel malte; einer Stadt, die inzwischen auch – weit mehr aus Zufall als geplant – zur Hauptstadt der Europäischen Union geworden ist, eines bizarren, in seiner Art beispiellosen politischen Gebildes, das sich dazu verpflichtet hat, den Amtssprachen sämtlicher seiner nationalen Einzelglieder den gleichen Status einzuräumen, und folglich gezwungen war, den umfangreichsten Dolmetscher- und Übersetzerdienst aufzubauen, den die Menschheit je gekannt hat.
Dies alles dürfte genügen, um meine Sensibilität für Fragen der Sprache zu erklären, aber nicht, um zu begründen, warum ich Jahre meines Lebens darauf verwendete, ein Buch über sie auszubrüten. Dazu bedurfte es mehr. Und mehr kam in Form der sich mir nach und nach aufdrängenden Erkenntnis, daß die besagten Sprachenfragen in Brüssel zwar ungewöhnlich stark ins Auge springen, daß sie aber keineswegs das kleinliche Privileg des 16winzigen Mischlings von einem Land bilden, dessen Bürger ich nun einmal bin; und auch nicht das der auf rund hundert Gebäude quasi in Sichtweite meiner Brüsseler Wohnung verteilten Eurobürokratie. Nein, diese Fragen stellen sich heute nahezu überall, und zwar in wachsendem Maß. Dafür gibt es im wesentlichen drei Gründe. Erstens finden überall auf der Welt immer mehr mehrsprachige Länder, wenn auch auf chaotische Weise, Anschluß an das demokratische Zeitalter und stehen damit vor der Notwendigkeit, eine funktionierende Demokratie in einem Gemeinwesen mit separaten öffentlichen Meinungen zu entwickeln; genau dies war ja die zentrale Herausforderung, mit der Belgien konfrontiert war, als es nicht mehr von einer landesweiten französischsprachigen Elite beherrscht wurde. Zweitens müssen wir zunehmend weltweit in Dimensionen agieren, die Menschen mit unterschiedlichen Muttersprachen zusammenbringen – und zwar nicht mehr nur Kaufleute und Diplomaten, Einwanderer und Touristen, sondern, in politischen Institutionen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, einen bunten Mix von Akteuren aus dem Wirtschafts- und Geistesleben. Wir sind daher in wachsendem Maß mit ebenjener Problematik konfrontiert, die in den zentralen Institutionen der Europäischen Union und ihrem Umfeld sehr genau gesehen wird. Drittens müssen sich immer mehr Länder auf der ganzen Welt mit der Einwanderung von Menschen auseinandersetzen, die eine Vielzahl von anderen Muttersprachen sprechen und diese auch häufiger beibehalten und an die nächste Generation weitergeben als je zuvor. In der Folge ist an vielen Orten, für die dies im wesentlichen eine neue Erfahrung darstellt, eine permanente Sprachenvielfalt zum Normalfall geworden.
Die Wichtigkeit, die ich Sprachenfragen beimesse, verdankt sich einerseits der Erkenntnis ihrer zunehmenden Prominenz und Allgemeinheit entlang der drei genannten Entwicklungslinien. Noch mehr aber ist sie der Einsicht in ihre Bedeutung für die Aussicht auf soziale Gerechtigkeit geschuldet, und zwar auf 17nationaler wie auf europäischer und globaler Ebene. Diese Bedeutung wurde mir erstmals bewußt, als ich in den frühen 1990er Jahren registrierte, wie Belgiens Sprachenstreit drohte, den nationalen Wohlfahrtsstaat des Landes unter die Räder kommen zu lassen, der bis dato als leistungsfähiges Instrument zur Armutsbekämpfung und zum Abbau von Ungleichheit gedient hatte. Sprachenstreite erscheinen Menschen, die sich über soziale Ungerechtigkeit erregen, oft trivial. Gelingt es aber nicht, sie angemessen zu lösen, kann dies das Streben nach sozialer Gerechtigkeit ernsthaft beeinträchtigen. Karl Renner und Otto Bauer, die führenden sozialdemokratischen Vordenker Österreich-Ungarns und ersten Theoretiker einer mehrsprachigen Demokratie, kamen schweren Herzens zu dem Schluß, daß sie die nötige Zeit und Energie aufbringen mußten, um eine passende Antwort auf die »Nationalitätenfrage« zu finden, da sie andernfalls die ihnen viel wichtigere »soziale Frage« nie würden erfolgreich bewältigen können. Zweifellos zu spät, insofern das Habsburgerreich entlang von Sprachgrenzen zerfiel, bevor ihre Lösungsvorschläge überhaupt ausprobiert werden konnten. Unsere heutige Situation in der Europäischen Union ist davon jedoch nicht grundlegend verschieden. Wie ich in diesem Buch zeigen möchte, erlauben die anhaltende »Eurokrise«, das »Demokratiedefizit« in der EU, die Stagnation des »sozialen Europa« keine strukturellen Lösungen, solange keine faire und gut funktionierende Lösung für Europas zentrales Sprachenproblem gefunden wird.
Sollte sie zutreffen, dann wäre allein schon aufgrund dieser letzten Behauptung das Thema der Sprachengerechtigkeit durchaus den Aufwand eines Buches wert. Sie rechtfertigt darüber hinaus aber auch die Wahl meines zentralen Beispiels. Die Kenntnis der englischen Sprache verbreitet sich mit verblüffender Geschwindigkeit überall in Europa und auf der Welt. Wie ich zeigen möchte, sollten wir dieses massive und irreversible Phänomen begrüßen. Doch bringt es auch Ungerechtigkeiten mit sich, deren Untersuchung im Mittelpunkt des vorliegenden Bu18ches steht. Vieles von dem, was ich zu sagen haben werde, beansprucht eine viel allgemeinere Gültigkeit als nur in bezug auf die gegenwärtige EU-weite und weltweite Verbreitung der englischen Sprache. Es gab, gibt und wird auch künftig viele andere Fälle von Sprachenkonkurrenz geben, die schärfere, spektakulärere und gewalttätigere Konflikte nach sich ziehen werden. Keiner von ihnen verfügt indes über eine Größenordnung, die der Verankerung des Englischen als der ersten weltweiten Lingua franca gleichkommt. Keiner von ihnen hat auch nur annähernd die gleiche Bedeutung für die Zukunft Europas und das Schicksal der Welt. Ob als Teil dieses zentralen Beispiels oder darüber hinausgehend, werde ich im vorliegenden Buch zahlreiche Fälle von Sprachenkonkurrenz anführen. Manche stammen aus der wissenschaftlichen Literatur, viele aber verdanken sich Situationen, mit denen ich persönlich vertraut bin, vor allem aus dem belgischen und dem europäischen Kontext. Im Licht der zahllosen Gelegenheiten, die ich hatte, von scharfsinnigen Augenzeugenberichten über Sprachenfragen in anderen Weltgegenden zu profitieren, bin ich zuversichtlich, daß an meinen Beispielen nichts außergewöhnlich ist, zumindest was die Grundmuster betrifft, die sie hervorheben sollen. Ich meine also, daß sich problemlos analoge Fälle von vielen anderen Orten anführen ließen. Angesichts der spezifischen Zielsetzung dieses Buches – ich strebe keinen Gesamtüberblick an! – sollte die bewußte geographische Einseitigkeit meiner Beispiele kein Problem darstellen.
Was also ist die Zielsetzung eines philosophischen Buches über Sprachenfragen? Sie setzt sich aus zwei logisch voneinander unabhängigen, aber eng miteinander verbundenen Aspekten zusammen. Der eine besteht darin, allen, die sich für solche Fragen interessieren – ob als Wissenschaftlerinnen, Aktivistinnen, politische Entscheidungsträgerinnen oder einfache Bürgerinnen und Bürger –, dabei zu helfen, nach vorne zu schauen. Diesem Zweck soll ein vereinfachtes Bild aus der »Vogelperspektive« dienen, das uns zeigt, wo wir stehen und in welche Richtung die 19Reise geht. Dieser Teil des Vorhabens ist mit Tatsachenbehauptungen verbunden, die sich vor allem auf Mechanismen und Trends beziehen. Einige von ihnen werden unweigerlich spekulativen Charakters sein. Ich hoffe aber, daß die Belehrungen und Anmerkungen zahlreicher Kollegen aus diversen Disziplinen dafür gesorgt haben, daß die meisten der von mir aufgestellten Behauptungen nicht allzu naiv ausfallen. Obwohl sie gelegentlich wie dogmatische Feststellungen klingen mögen, sind sie natürlich nichts weiter als Hypothesen, die sich empirisch kritisieren lassen, nicht anders als diejenigen meiner Schlußfolgerungen, die sich auf sie stützen.
Der zweite Teil der Aufgabe des Philosophen besteht darin, einen normativen Rahmen zu entwerfen, der belastbar genug ist, um philosophischen Einwänden standzuhalten, plausibel genug, um unseren wohlerwogenen ethischen Urteilen Rechnung zu tragen, und präzise genug, um – in Verbindung mit Tatsachenbehauptungen – eine Reihe von spezifischen und konkreten politischen Vorschlägen anzuregen und zu rechtfertigen. Beide Teile des Vorhabens sind nicht nur deshalb...
Erscheint lt. Verlag | 15.7.2013 |
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Übersetzer | Michael Adrian, Nikolaus Gramm |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung ► Politische Theorie |
Schlagworte | Chancengleichheit • Englisch • Europa • Gerechtigkeit • Mehrsprachigkeit • Verkehrssprache |
ISBN-10 | 3-518-73313-3 / 3518733133 |
ISBN-13 | 978-3-518-73313-4 / 9783518733134 |
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