Die Grenzen der Gerechtigkeit (eBook)

Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit
eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
599 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73976-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Grenzen der Gerechtigkeit -  Martha C. Nussbaum
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Wie steht es um die Bürgerrechte jener, die körperlich oder geistig behindert sind? Wie lassen sich gerechte und menschenwürdige Bedingungen über nationale Grenzen hinweg durchsetzen? Und: Auf welche Weise müssen wir unseren Umgang mit Tieren in unsere Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit einbeziehen? In sowohl kritischer als auch konstruktiver Absicht lotet Martha Nussbaum die Grenzen klassischer Gerechtigkeitstheorien aus, unterzieht politische Prinzipien einer gründlichen Revision und lässt eingefahrene Konzepte der sozialen Kooperation, der Würde und der transnationalen Gerechtigkeit in neuem Licht glänzen. Mittels ihres berühmten Fähigkeitenansatzes entwirft sie eine veritable Utopie globaler Gerechtigkeit.

<p>Martha C. Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaft und Ethik an der Universität von Chicago und lehrte an zahlreichen Universitäten in Nordamerika und Europa. Sie ist Mitglied der American Philosophical Association und der American Academy of Arts and Sciences. Für ihr Werk wurde sie mit über dreißig Ehrendoktorwürden ausgezeichnet. 2009 erhielt sie mit dem vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) verliehenen A.SK Social Science Award einen der weltweit höchstdotieren Preise für Sozialwissenschaften.</p>

13Einleitung


Theorien der sozialen Gerechtigkeit sollten abstrakt sein. Sie sollten eine Allgemeinheit und theoretische Kraft besitzen, die ihnen über die politischen Konflikte ihrer Zeit hinaus Gültigkeit verleihen, selbst wenn sie aus solchen Konflikten heraus entstehen. Auch für politische Rechtfertigung ist diese Art von Abstraktion erforderlich: Um eine politische Theorie zu rechtfertigen, müssen wir zeigen können, daß sie auch längerfristig Stabilität besitzt und von den Bürgerinnen und Bürgern nicht allein aus im engen Sinn auf die Selbsterhaltung ausgerichteten oder instrumentellen Gründen unterstützt wird.[1] Ob eine Theorie diesen Anspruch erheben kann, läßt sich aber nur entscheiden, wenn wir vom unmittelbaren Geschehen Abstand nehmen.

Andererseits müssen Theorien der sozialen Gerechtigkeit auch auf die Gegenwart und ihre drängendsten Probleme eingehen. Sie müssen in ihren Formulierungen und sogar in ihren Strukturen für Veränderungen offenbleiben, wenn diese aufgrund von neuen oder bereits bekannten, bisher aber sträflich vernachlässigten Problemen notwendig werden.

Um ein Beispiel für eine solche sträfliche Vernachlässigung zu nennen: Die meisten Gerechtigkeitstheorien der westlichen Tradition haben weder den von Frauen erhobenen Forderungen nach Gleichheit noch den zahlreichen Hindernissen, die dieser Gleichheit (noch immer) im Wege stehen, die notwendige Beachtung geschenkt. Ihr in mancher Hinsicht zu begrüßender Abstraktionsgrad hat verdeckt, daß sie nicht dazu in der Lage waren, eines der gravierendsten Probleme 14unserer Welt in Angriff zu nehmen. Wenn man dem Problem der Geschlechtergerechtigkeit die ihm angemessene Aufmerksamkeit widmet, zieht das jedoch erhebliche theoretische Konsequenzen nach sich. Unter anderem wird man nämlich anerkennen müssen, daß es sich bei der Familie um eine politische Institution und nicht um einen Teil der gegenüber Gerechtigkeitsforderungen immunen »Privatsphäre« handelt. Dieses Versäumnis der klassischen Theorien kann man demnach nicht einfach korrigieren, indem man sie auf dieses neue Problemfeld anwendet; vielmehr bedarf es einer Revision der theoretischen Struktur selbst.

Heute sind wir mit drei ungelösten Problemen der sozialen Gerechtigkeit konfrontiert, deren Vernachlässigung durch die existierenden Theorien als besonders problematisch erscheint. (Ohne Zweifel werden noch mehr Probleme dieser Art ans Licht kommen, die wir einfach noch nicht erkannt haben.) Als erstes ist das Problem der Gerechtigkeit gegenüber Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen zu nennen. Niemand spricht diesen Menschen heute ab, zur Menschheit zu gehören, aber in unseren Gesellschaften sind sie noch immer nicht als Bürgerinnen und Bürger anerkannt, für die das Prinzip staatsbürgerlicher Gleichheit gilt. Die Gewährleistung von Erziehung und Ausbildung, Krankenversorgung, politischen Rechten und Freiheiten sowie gleicher Staatsbürgerschaft auf diese Menschen auszudehnen, scheint ein besonders drängendes Problem der Gerechtigkeit zu sein. Um es zu lösen, bedürfen wir einer neuen Auffassung von Bürgerschaft, eines neuen Verständnisses des Zwecks sozialer Kooperation (jenseits einer primären Ausrichtung auf gegenseitige Vorteile) und einer neuen Wertschätzung der Fürsorge (care)[*] als soziales Grundgut. Es geht also nicht einfach nur darum, bereits vorhandene Theorien auf neue Bereiche an15zuwenden: Eine Revision der theoretischen Struktur selbst scheint unumgänglich.

Das zweite drängende Problem betrifft die Ausweitung der Gerechtigkeit auf alle Bürgerinnen und Bürger dieser Welt. In diesem Kontext muß theoretisch gezeigt werden, wie sich eine Welt einrichten ließe, die als ganze gerecht ist und in der die Kontingenzen der Geburt und der nationalen Herkunft die Lebenschancen der Menschen nicht durchgängig und von Beginn an verzerren. Da alle vorherrschenden westlichen Gerechtigkeitstheorien vom Nationalstaat als grundlegender Einheit ausgehen, werden vermutlich auch hier neue theoretische Strukturen erforderlich sein, wenn wir dieses Problem in angemessener Weise angehen wollen.

Und schließlich müssen wir uns jenen Gerechtigkeitsfragen stellen, die sich aus unserem Umgang mit nichtmenschlichen Tieren ergeben. Obwohl oft zugestanden wird, daß es sich bei der Tatsache, daß Menschen Tieren Leid zufügen und sie ihrer Würde berauben, um ein ethisches Problem handelt, wird dieser Umstand selten als Frage der sozialen Gerechtigkeit betrachtet. Wenn wir anerkennen, daß es sich aber tatsächlich um eine solche handelt (und die Leserinnen und Leser dieses Buches werden selbst beurteilen müssen, ob ich hierfür überzeugende Argumente anführe), wird deutlich, daß auch dieses neue Problem ein Umdenken in der Theorie erfordert. So müssen etwa Konzeptionen der sozialen Kooperation und der Reziprozität, die bei allen beteiligten Parteien Rationalität voraussetzen, überprüft und neue Ansätze auf der Grundlage eines anderen Typs von Kooperation entwickelt werden.

Die westliche Tradition kennt zahlreiche Herangehensweisen an das Thema der sozialen Gerechtigkeit. Eine der einflußreichsten und beständigsten ist die Idee des Gesellschaftsvertrags, mit dem sich rationale Menschen aus Gründen des gegenseitigen Vorteils zusammenschließen und entscheiden, den Naturzustand hinter sich zu lassen und sich im Medium 16des Rechts selbst zu regieren. Diese Theorien sind historisch äußerst einflußreich gewesen und wurden in jüngster Zeit im herausragenden Werk von John Rawls auf philosophisch sehr tiefgründige Weise weiterentwickelt. Bei ihnen handelt es sich vermutlich um die überzeugendsten Gerechtigkeitstheorien, über die wir verfügen. Rawls hat jedenfalls plausibel gezeigt, daß sie unsere wohlüberlegten Gerechtigkeitsurteile besser als die verschiedenen Varianten des Utilitarismus artikulieren, überprüfen und systematisieren können.

Eine Theorie kann aber eine große Errungenschaft sein und zugleich in bestimmten Bereichen an ihre Grenzen stoßen. Die klassischen Theorien, denen die Unterscheidung von privat und öffentlich zugrunde liegt, sind in ernsthafte Probleme geraten, als sie der Gleichheit von Frauen Rechnung tragen mußten, und selbst Rawls’ sehr scharfsinnige Behandlung dieser Frage hat ihre Schwächen.[2] Wie er selbst eingesteht, stellen die drei erwähnten Probleme seine kontraktualistische Theorie vor eine besondere Herausforderung. Er hielt das zweite Problem für lösbar und widmete ihm gegen Ende seines Lebens einen großen Teil seiner Arbeitszeit; das erste und das dritte hingegen bezeichnete er als Probleme, »an denen die Konzeption der Gerechtigkeit als Fairneß scheitern mag« (PL 88). Ihm zufolge müßten diese Fragestellungen genauer untersucht werden, um herauszufinden, wie schwerwiegend sie sind und wie man sie in den Griff bekommen könnte (ebd.). Auch wenn das vorliegende Buch nicht direkt auf diese selbstkritische Aussage von Rawls zurückgeht, bringt sie meine Absichten doch sehr gut zum Ausdruck.

Meine Überlegungen gründen in der festen Überzeugung, daß es sich bei diesen drei genannten Problemen tatsächlich um gewichtige und bisher ungelöste Fragen der Gerechtigkeit handelt und daß selbst die überzeugendste Theorie in der Tradition des Gesellschaftsvertrags an ihnen scheitern muß. 17Um das zu zeigen, werde ich mich im folgenden immer wieder mit der Theorie von Rawls auseinandersetzen, in der die klassische Idee des Gesellschaftsvertrags meines Erachtens am überzeugendsten zum Ausdruck kommt und die ihre Überlegenheit gegenüber anderen Theorien am plausibelsten verteidigt. Wenn Rawls’ herausragender Theorie in diesen drei Bereichen erhebliche Unzulänglichkeiten nachgewiesen werden können – und genau das werde ich versuchen –, so werden a fortiori auch andere, weniger ausgereifte oder überzeugende Varianten der Vertragstheorie mit diesen Problemen konfrontiert sein.[3] Ich hoffe zeigen zu können, daß man der Schwierigkeiten, die hier auftreten, nicht Herr werden kann, indem man einfach die bereits vorhandene theoretische Struktur auf diese neuen Fälle anwendet. Vielmehr sind die Schwierigkeiten mit der theoretischen Struktur derart eng verknüpft, daß wir eine Alternative zu ihr ausarbeiten müssen, auch wenn zentrale Elemente der Rawlsschen Theorie beibehalten werden können, die unsere Überlegungen in die richtige Richtung lenken.

Diese Schwierigkeiten betreffen nicht allein den Bereich der akademischen Philosophie. Vertragstheorien üben einen tiefen und weitreichenden Einfluß auf die Politik aus. Vorstellungen davon, wer wir sind und warum wir uns zusammenschließen, prägen unser Nachdenken darüber, welche politischen Prinzipien wir vorziehen sollten und wer an deren Bestimmung beteiligt sein sollte. Die weitverbreitete Ansicht, daß manche Bürger »für sich selbst aufkommen« und andere nicht, daß manche Menschen parasitär sind und andere »normal leistungsfähig«, ist ein populärer Ausläufer der vertragstheoretischen Vorstellung der Gesellschaft als System der 18Kooperation zum gegenseitigen Vorteil. Es ist zwar durchaus möglich, sich in der politischen Praxis gegen derartige Vorstellungen zur Wehr zu setzen, ohne ihren Ursprung zu identifizieren. Tatsächlich kann es sich aber als äußerst hilfreich erweisen, dem Problem sozusagen auf den Grund zu gehen, da wir so zu einer sehr viel klareren Vorstellung davon gelangen, wie wir in diese Schwierigkeiten geraten sind und was wir tun müssen, um hier weiterzukommen. Obwohl ich mich in diesem Buch ausführlich mit philosophischen Ideen auseinandersetzen und dabei den Komplexitäten und Nuancen der...

Erscheint lt. Verlag 10.11.2014
Übersetzer Robin Celikates, Eva Engels
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte globale Gerechtigkeit • Soziale Gerechtigkeit • STW 2105 • STW2105 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2105 • Wissenschaft
ISBN-10 3-518-73976-X / 351873976X
ISBN-13 978-3-518-73976-1 / 9783518739761
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