Die Unterschätzten (eBook)

Wie der Osten die deutsche Politik bestimmt | Politische Analyse & persönliche Geschichten: Die Süddeutsche-Journalistin über den Osten als Avantgarde und Angela Merkels Beitrag
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
256 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2581-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Unterschätzten -  Cerstin Gammelin
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Nach dem Mauerfall wurde in den West-Parteien angenommen, in den neuen Bundesländern gäbe es schnell dieselben politischen Schlachten zu schlagen. Dass den Menschen dort andere Themen wichtig sein könnten, wurde ausgeblendet. Damit war eine Entfremdung vorprogrammiert. Der Ossi wurde geboren, jene Menschen, die die Erfahrung einer harten Transformation verbindet. Doch die damals 15- bis 25-Jährigen haben sich durchgeschlagen und stellen heute selbstbewusst Forderungen. Sie wollen mitreden, von der Besetzung von Chefposten an Universitäten bis zu den politischen Entscheidungen. Deshalb werden im Superwahljahr 2021 jene Parteien reüssieren, die die Menschen im Osten und ihre Transformationserfahrungen ernst nehmen. Cerstin Gammelin entwickelt sieben Thesen, die den Einfluss der ostdeutschen Wähler auf das gesamtdeutsche politische Gefüge belegen. Nach 1998 und 2002 werden auch dieses Mal die Wahlen im Osten entschieden.

Cerstin Gammelin, aufgewachsen in Sachsen, studierte aufgrund realsozialistischer Umstände Werkstofftechnik an der TU Chemnitz. Als frisch diplomierte Maschinenbauingenieurin wandte sie sich im Jahr des Mauerfalls dem Journalismus zu und arbeitete später als Autorin und freie Journalistin zunächst für den Deutschen Fachverlag in Frankfurt/Main, danach als Hauptstadt-Korrespondentin für die unabhängige Fachzeitung Energie & Management, anschließend für Die Zeit, den Spiegel und die Financial Times Deutschland. Im September 2005 veröffentlichte sie zusammen mit Götz Hamann den Spiegel-Bestseller Die Strippenzieher. Manager, Minister, Medien - wie Deutschland regiert wird im Econ Verlag. Sie wurde Korrespondentin im Hauptstadtbüro der Zeit, bevor sie 2008 dem Ruf der Süddeutschen Zeitung folgte und Europa-Korrespondentin in Brüssel wurde. In dieser Zeit gelang es ihr, die streng vertraulichen EU-Gipfelprotokolle zu kommen, die beweisen, dass die nationalen Staats- und Regierungschefs die einflussreichsten Strippenzieher der EU sind. 2014 legte sie zusammen mit dem österreichischen Kollegen Raimund Löw eine detaillierte Beschreibung der europäischen Schuldenkrise vor. Seit Juni 2015 ist sie stellvertretende Bürochefin im Parlamentsbüro der SZ in Berlin.

Cerstin Gammelin, aufgewachsen in Sachsen, studierte aufgrund realsozialistischer Umstände Werkstofftechnik an der TU Chemnitz. Als frisch diplomierte Maschinenbauingenieurin wandte sie sich im Jahr des Mauerfalls dem Journalismus zu und arbeitete später als Autorin und freie Journalistin zunächst für den Deutschen Fachverlag in Frankfurt/Main, danach als Hauptstadt-Korrespondentin für die unabhängige Fachzeitung Energie & Management, anschließend für Die Zeit, den Spiegel und die Financial Times Deutschland. Im September 2005 veröffentlichte sie zusammen mit Götz Hamann den Spiegel-Bestseller Die Strippenzieher. Manager, Minister, Medien - wie Deutschland regiert wird im Econ Verlag. Sie wurde Korrespondentin im Hauptstadtbüro der Zeit, bevor sie 2008 dem Ruf der Süddeutschen Zeitung folgte und Europa-Korrespondentin in Brüssel wurde. In dieser Zeit gelang es ihr, die streng vertraulichen EU-Gipfelprotokolle zu kommen, die beweisen, dass die nationalen Staats- und Regierungschefs die einflussreichsten Strippenzieher der EU sind. 2014 legte sie zusammen mit dem österreichischen Kollegen Raimund Löw eine detaillierte Beschreibung der europäischen Schuldenkrise vor. Seit Juni 2015 ist sie stellvertretende Bürochefin im Parlamentsbüro der SZ in Berlin.

Vorwort


Dies ist ein persönliches Buch. Ein Buch, von dem ich nicht gedacht hätte, dass ich es mal schreiben werde. Über Ostdeutschland? Echt jetzt?

Ich lebe länger unter wiedervereinten Bedingungen als mit Todesstreifen. Der Mauerfall hat mir Freiheiten gebracht, von denen ich kaum zu träumen gewagt hatte. Ich habe über Umwege meinen Traumberuf gefunden, nach der rechtselbischen Jugend gerne linksrheinisch gelebt und als Europa-Korrespondentin das Lebensgefühl im Westen unseres Kontinents erkundet. Ich bin fasziniert von diesem quirligen Europa und wie es immer wieder gelingt, verschiedene Kulturen von Lissabon bis Sofia an einem Tisch zu versammeln, um Kompromisse zu finden. Ich arbeite für eine überregionale Zeitung, deren Hauptredaktion in München sitzt. Ich habe großen Respekt vor allen, die an demokratischen Prozessen engagiert mitarbeiten. Aber Ost-Aktivistin? Sicher nicht.

Zugleich bin ich tief im Inneren bis heute glücklich und stolz darüber, dass 1989 so viele Menschen so mutig waren, offen gegen das Unrechtssystem zu rebellieren. Noch heute gibt es Momente, in denen mir krass unwirklich erscheint, was damals gelungen ist. Erst kam der Nachbar, mit dem man flüsternd in der Küche beratschlagte, ob man diesen Aufruf für das Neue Forum unterzeichnen sollte. Dann folgten die Demos, auf denen alle für etwas gekämpft haben und nicht gegen etwas. Es gab diese verbindende Zuversicht, etwas Neues zu wagen und dafür vieles zu riskieren, die Liebsten, das Leben. Noch heute berührt mich diese irre ur-demokratische Kundgebung am 4. November 1989, als vom Geheimdienstchef Markus Wolf bis zur Schriftstellerin Christa Wolf jeder, der reden wollte, auf einen Kleinlaster der Marke Barkas klettern konnte und sich das Mikrophon nehmen; als völlig Unbekannte anderen Unbekannten, Sympathisanten oder Gegnern zuhörten und gemeinsam darum rangen, wie es weitergehen sollte. Auf dem Alexanderplatz in Ost-Berlin schien es möglich zu sein, eine neue Gesellschaft bauen zu können, mit Reisefreiheit, freien Wahlen, selbstbestimmt. Man hätte die Welt umarmen können.

Dann übernahm der Markt. Fortan hatte alles einen Preis. Der Traum von Reformen, getragen von einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit, wurde von der Notwendigkeit verdrängt, ruckzuck zu lernen, wie man in einem kapitalistischen System (über)lebt. Die Gemeinschaft zerbröckelte, jeder hatte für sich damit zu tun, für sein Auskommen zu sorgen. Ich zählte zu den Glücklichen, denen der gerade erworbene Berufsabschluss anerkannt wurde. Maschinenbau hatte nichts Ideologisches an sich. Drehmomente, Festigkeiten und Strömungen basieren auf Naturgesetzen – die ja, wie sich später herausstellen sollte, auch in der Politik ihre Wirkung entfalten. Aus meiner Abiturklasse mussten viele neu anfangen. Wer Außenhandel studiert hatte, Ökonomie oder Lehramt, hatte plötzlich ein wertloses Diplom. Menschen aus dem Westen kamen in die Betriebe im Osten und lasen die Namen der Personen vor, die entlassen wurden. 1995 waren vier von fünf Ostdeutschen nicht mehr auf dem Arbeitsplatz, den sie 1990 gehabt hatten.1 In meiner Familie verloren fast alle ihren Job.

Das Virus hat diese Zeit wieder aufleben lassen in den Erinnerungen. Damals war alles ungewiss. Und auch in der Pandemie weiß niemand, wie es sein wird, wenn das Virus besiegt ist. Ob das überhaupt gelingt. Es drängen sich Parallelen zu den Neunzigerjahren auf, wie die Sorge um Arbeitsplätze oder der Wegfall des Alltags. Für viele Ostdeutsche fühlt es sich falsch an, dass die Bundeskanzlerin die Pandemie zur größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg ausgerufen hat. Nie habe die Deutschen seither ein schwererer Schlag getroffen. Wirklich? Ja, im westlichen Teil Deutschlands hat es nach 1945 keine gravierenden Umbrüche mehr gegeben. Siemens, Bayer, Volkswagen und andere Unternehmen haben Generationen von Familien ein Auskommen ermöglicht; gute Einkommen, Farbfernseher, Italienurlaub und gar Weltreise schienen selbstverständlich zu sein. Dass aber die aus dem Osten stammende Kanzlerin keine Referenz hinbekommt auf die Umbrüche, die in ihrer Heimat in den vergangenen dreißig Jahren bewältigt wurden, das gibt so einen kleinen Stich. Die bundesdeutsche Wirtschaft ist 2020 um fünf Prozent eingebrochen? Waren es im Osten nicht dreißig Prozent? Eine Million Menschen haben jetzt den Job verloren? Musste sich damals nicht aus jeder Familie mindestens eine Person arbeitslos melden, die Hälfte der Entlassenen einen neuen Job lernen, sich auf die neue Karriereleiter kämpfen? In der Pandemie zahlt der Staat Hunderte Milliarden Euro an Wirtschaftshilfen. Damals gab es für die Betroffenen weder KfW-Kredite noch Übergangsfristen. Das Startkapital der Ostdeutschen wurde abgewickelt und verscherbelt.

Schon als Europa-Korrespondentin war mir aufgefallen, wie schwer sich die Gründungsmitglieder der EU gelegentlich getan hatten, Beitrittsländer als gleichberechtigt zu akzeptieren. Formal war das natürlich gegeben, alle haben eine Stimme. Tatsächlich wurde aber oft erwartet, dass die Dazugekommenen den Erfahrenen folgten. Der Osten war die verlängerte Werkbank der westeuropäischen Industrie und der große Absatzmarkt für Konsumketten von Mediamarkt bis Brico.

Den europäischen Ost-West-Konflikt habe ich in der deutsch-deutschen Wohngemeinschaft wiedergefunden. Man lebt zusammen, mit gemeinsamer Küche, in der die Rezepte und Konzepte für das wiedervereinigte Land entstehen. Und geht sonst seiner Wege. Das gegenseitige Interesse ist überschaubar, stereotype Bilder sind unverwüstlich.

Angela Merkel wird im Herbst 2021 das Kanzleramt verlassen und auch ein Kapitel des Einigungsprozesses beenden. Man wirft der in Ostdeutschland sozialisierten Kanzlerin oft vor, sie habe keine Visionen gehabt. Womöglich aber war ihre größte Aufgabe, innerdeutsch gesehen, sowieso eine andere: Sie hat ermöglicht, dass sich das Land modernisiert, dass auch Dinge, die in der DDR schon mal funktioniert haben, in den gesamtdeutschen Alltag diffundiert sind. Das Problem aus ostdeutscher Sicht ist, dass sie es vermieden hat, diese auch beim Namen zu nennen und damit den Osten zum bundesdeutschen Maßstab zu machen. Warum eigentlich?

Dreißig Jahre nach der Wende hat eine Reflexion begonnen, in der endlich auffällt, dass gesamtdeutsche Entwicklungen gespiegelt werden an der Referenzgröße alte Bundesrepublik. Die politische Schwarz-Weiß-Fotografie dominiert – dass die Grautöne fehlen, ganz abgesehen von bunten Bildern, scheint kaum jemanden zu stören. Die medialen und politischen Multiplikatoren sind überwiegend westdeutsch sozialisiert, ihre intuitive Sicherheit, dass der Westen die Norm ist und der Osten die Abweichung, spiegelt sich nicht nur in Beiträgen über Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, sondern generell in der immer wieder aufgeworfenen Frage, wie der Osten tickt. Und wie tickt der Westen?

Ich habe beschlossen, dieses Buch zu schreiben, weil es an der Zeit ist, die Debatte offen, bunt und auf Augenhöhe zu führen. Man sollte an den Stereotypen rütteln, weil die Mitbestimmung und Repräsentation der Ostdeutschen in demokratischen Prozessen und in der Wirtschaft organisiert werden muss. Weil die strukturellen Defizite des Einigungsvertrags ausgebügelt werden müssen, um die Demokratie weiter zu verankern. Der Osten besteht nicht nur aus Nazi-Nestern, Stasi-Überwachung oder Ostalgie. Es überwiegt deutlich das Leben dazwischen. Das Leben der übergroßen Mehrheit, die jeden Tag morgens aufsteht und abends noch in den Spiegel schauen kann, deren Alltag genauso lustig, fröhlich oder trist sein kann wie anderswo. Das mag manchen langweilig erscheinen, aber tatsächlich sind diese Menschen zwischen den politischen Rändern die Träger der Demokratie. Das sind drei Viertel der Gesellschaft. Es rächt sich politisch und gesellschaftlich, wenn sie nicht im großen Diskurs vorkommen.

Und, sind wir nicht alle müde von den alten Diskussionen und den vielen Studien? Die Bundesregierung könnte das Papier für jeden weiteren Armuts- und Reichtumsbericht sparen, wenn sie, statt darin vor der Gefahr der Ausgrenzung der Ostdeutschen zu warnen, diese Ausgrenzung zu beseitigen hülfe. 133 Abteilungsleiter aus den westlichen Ländern arbeiten in Bundesministerien, vier aus dem Osten. Keine Bundesbehörde im Osten wird von einem Ostdeutschen geleitet. Der Ossi schweigt verdruckst und verkrümelt sich, weil er meint, sowieso untergebuttert zu werden. Und der Westen vermeidet, die eigene Reformunfähigkeit zu reflektieren. Es läuft nicht rund in der Familie. Besonders schwierig macht den Familienkrach, dass er mit einer Pandemie und einem Superwahljahr zusammenfällt, mit der Bundestagswahl als Höhepunkt Ende September 2021.

Der Ausgang ist so offen wie seit vielen Jahren nicht mehr. Die Kanzlerin tritt nicht wieder an, das Virus wird nicht bezwungen sein, die Berichterstattung ist zuweilen hart und aufgeregt polarisierend. Die Wählerbindung der traditionellen Volksparteien wird überall schwächer. In Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt ist der große politische Gegner die AfD. Das hat auch mit den Neunzigern zu tun. »Ich sehe in der Mehrheit der östlichen AfD-Wähler vor allem abgewiesene Liebhaber und sitzengelassene Bräute des...

Erscheint lt. Verlag 2.8.2021
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Geisteswissenschaften Psychologie Sozialpsychologie
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Staat / Verwaltung
Schlagworte AfD • Baerbock • Bodo Ramelow • Bundestagswahl • DDR • Die Linke • Dirk Oschmann • Eliten • Emanzipation • Gesellschaft • Habeck • Ignoranz • Laschet • Manuela Schwesig • Marco Wanderwitz • Matthias Platzeck • Michael Kretschmer • Neue Bundesländer • Neues Selbstbewusstsein • Ossi • Ostdeutschland • Politik • Reiner Haseloff • Scholz • Steffen Mau • Süddeutsche • Talkshow • Transformation • Wahlen • Wahlkampf • Wir sind der Osten • Wolfgang Schäuble
ISBN-10 3-8437-2581-0 / 3843725810
ISBN-13 978-3-8437-2581-1 / 9783843725811
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