Der Osten: eine westdeutsche Erfindung (eBook)

Spiegel-Bestseller
Wie die Konstruktion des Ostens unsere Gesellschaft spaltet
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
224 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2916-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Osten: eine westdeutsche Erfindung -  Dirk Oschmann
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»Der Osten hat keine Zukunft, solange er nur als Herkunft begriffen wird.« Was bedeutet es, eine Ost-Identität auferlegt zu bekommen? Eine Identität, die für die wachsende gesellschaftliche Spaltung verantwortlich gemacht wird? Der Attribute wie Populismus, mangelndes Demokratieverständnis, Rassismus, Verschwörungsmythen und Armut zugeschrieben werden? Dirk Oschmann zeigt in seinem augenöffnenden Buch, dass der Westen sich über dreißig Jahre nach dem Mauerfall noch immer als Norm definiert und den Osten als Abweichung. Unsere Medien, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft werden von westdeutschen Perspektiven dominiert. Pointiert durchleuchtet Oschmann, wie dieses Othering unserer Gesellschaft schadet, und initiiert damit eine überfällige Debatte. »Wer über den Beitritt und die Folgen sprechen will, wird um dieses Buch nicht herumkommen.« Ingo Schulze

Dirk Oschmann, geboren 1967 in Gotha, ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Leipzig. Sein FAZ-Artikel zum Thema dieses Buches stieß auf große bundesweite Resonanz.
Spiegel-Bestseller

Dirk Oschmann, geboren 1967 in Gotha, ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Leipzig. Sein FAZ-Artikel zum Thema wurde vielfach geteilt und kommentiert.

1.

Welche Geschichte wollen wir erzählen?

Jenseits der Kohlenbahnlinie, südöstlich eines halb unbewohnten Dorfes, tief in der verwilderten Senke,

direkt an dem verkommenen Zaun begann das Gebiet,

welches Osten war, und man drang nicht ungestraft

in diese Gegend vor.

Wolfgang Hilbig, Alte Abdeckerei

Die Überlegungen dieses Buches sind in Form von Vorträgen, Gesprächsrunden und insbesondere in dem erwähnten FAZ-Artikel bereits verschiedentlich vorgetragen worden. Teile des Publikums fühlten sich offenbar beim Hören oder Lesen angegriffen und reagierten mit empörtem Aufschrei, weil sie aus den vermeintlichen Deutungsselbstverständlichkeiten, in denen sie sich bequem und ein für alle Mal eingerichtet hatten, verscheucht wurden. Damit war zu rechnen. Nicht zu rechnen war damit, dass manches seiner Intention entgegengesetzt aufgefasst wurde. Einem solchen Mangel an Klarheit und Deutlichkeit muss abgeholfen werden, um jede Art von Missverständnis auszuschließen. Dazu ist es nötig festzustellen, dass ich hier versuche, eine Zustandsbeschreibung der Gegenwart, des gegenwärtigen Lebens zu liefern, aber natürlich im Rekurs auf diverse Vergangenheiten, ohne welche unsere Gegenwart gar nicht zu verstehen ist. Dabei fragt die Zustandsbeschreibung allerdings nicht in der vorherrschenden Manier nach dem vermeintlichen Problemfeld »Osten«, sondern in Umkehrung der Perspektive nach dem Problemfeld »Westen«, genauer nach der Art und Weise, wie der Westen den Osten wahrnimmt und diskursiv zurichtet. Im Rahmen dieser Rekonstruktion der auf Dauer gestellten Zuschreibungsmechanismen in Sachen »Osten« richtet sich das Erkenntnisinteresse dementsprechend auf Vorurteile, Stereotype, Ressentiments, Schematisierungen und andere diskursive Muster sowie auf die Folgen dieser Imagologie für das gesellschaftliche Zusammenleben in Deutschland.

Auch wenn es auf den ersten Blick so aussehen mag, wird mit diesem Lagebericht keine bloß innerdeutsche Nabelschau betrieben. Wer das glaubt unterstellen zu dürfen, verkennt den Ernst der Situation, verkennt vor allem, aus welchen Gründen sich immer mehr Menschen von der Demokratie abwenden, nicht nur im Osten, sondern auch im Westen und in der westlichen Welt insgesamt. Die deutsch-deutsche Situation ist nur ein spezifischer Fall aufgrund der politischen, historischen und räumlichen Vorbedingungen, ein Spezialfall der Globalisierungseffekte in den westlichen Gesellschaften. Der hier vorherrschende gesellschaftliche Konflikt zeigt sich insgesamt im Reichtums-, Macht- und Kommunikationsgefälle zwischen Westeuropa und Osteuropa, er zeigt sich aber ebenso in den USA, in England, Frankreich oder Italien auf ähnliche Weise: In den USA befinden sich die Küsten im Widerstreit mit dem fly over country, in England stehen die anywheres gegen die somewheres (David Goodhart), in Frankreich wiederum spielt der Stadt-Land-Unterschied eine zentrale Rolle und in Italien die altbekannte Ungleichheit zwischen Norden und Süden. Überhaupt scheint der Stadt-Land-Unterschied ein Hauptfaktor bei den gesellschaftlichen Spaltungsprozessen zu sein, auch in Deutschland, weil Politik vielfach nur für die gut ausgebildeten, deshalb mobilen und die Globalisierung vorantreibenden Eliten in den Großstädten gemacht wird,1 während die anderen »auf dem platten Land« sich vergessen fühlen und deshalb Trump oder Le Pen gewählt oder für den Brexit gestimmt haben, wie Analysen des Wählerverhaltens zeigen. Das gilt auch für den deutschen Osten, wo die Großstädte Leipzig, Dresden und, wenn man es denn mitzählen will, Berlin eben keine AfD-Hochburgen werden konnten. Wo jedoch die Interessen großer Teile der Bevölkerung nicht mehr angemessen vertreten werden und wo diese sich in der gesellschaftlichen Diskurswirklichkeit nicht mehr adäquat repräsentiert finden, hat die Demokratie ein grundsätzliches Problem. Wenn Politik vielfach von Hochqualifizierten für Hochqualifizierte gemacht wird, hat das seinen Grund auch darin, dass beispielsweise im Bundestag der Anteil derjenigen, die kein Abitur oder keinen Studienabschluss haben, in den letzten Jahrzehnten bis auf ein Minimum gesunken ist.

Eine Zustandsbeschreibung vorzunehmen, heißt immer auch, eine Geschichte zu erzählen. Aber welche soll es sein? Die dominante, ausschließlich westdeutsch perspektivierte lautet, dass Deutschland im Gefolge des Zweiten Weltkriegs in BRD und DDR geteilt wurde, wobei die BRD »Deutschland« blieb, während die DDR als »Ostzone« oder einfach nur als »Zone« erschien. Nach dem Fall der Mauer 1989 ist die DDR dann der BRD nach Artikel 23 des Grundgesetzes »beigetreten« und firmiert seitdem im öffentlichen Raum in erster Linie als »Osten«, der »aufholen und sich normalisieren muss«. So präsentiert sich die öffentliche Version. In einer Anekdote, also einer mit sozialer Energie aufgeladenen true story aus dem Jahr 1992 sagt ein Westdeutscher zu einem Ostdeutschen, dem er die Frau »ausgespannt« hat: »Erst haben wir euch euer Land weggenommen, dann eure Arbeit, jetzt eure Frauen.« So wiederum stellt sich das in der privaten Version dar. Kürzer und schöner lässt sich Makrohistorie nicht in Mikrohistorie übersetzen.

Dass die deutsche Geschichte zwischen 1945 und 1990 eine im doppelten Sinne geteilte Geschichte war, leuchtet unmittelbar ein, wiewohl es viele überfordert, auch die DDR als Teil der gesamtdeutschen Geschichte zu begreifen. Nach der Wiedervereinigung aber hat sich nicht zuletzt aufgrund der manifesten West-Ost-Differenz die Teilung der Geschichte als geteilte Geschichte fortgesetzt. Dabei gilt die Geschichte der alten Bundesländer als repräsentative Normalgeschichte und Normgeschichte, während die Geschichte der neuen Bundesländer gleichsam als klapperndes Anhängsel lediglich nebenherläuft; sie gehören irgendwie dazu und auch wieder nicht. Soll dieser Zustand andauern oder kommen wir an den Punkt, eine zweifellos in sich disparate, aber doch gemeinsame Geschichte des Wiedervereinigungsprozesses zu erzählen? Von einem renommierten und vielleicht sogar wohlwollenden Zeithistoriker wurde ich darüber belehrt, dass es keineswegs eines solchen Meisternarrativs bedürfe und dass es völlig genüge, verschiedene kleine, heterogene Geschichten zu erzählen. Wie schön, dass wir alle Lyotard gelesen haben und postmodern geschult sind. Doch wie verhalten sich die angeblich vielen kleinen Geschichten zueinander? Doch keineswegs gleichberechtigt, weil sich eine der kleinen auf lange Sicht doch als große durchsetzt und man darauf wetten kann, dass sie nicht aus ostdeutscher Sicht geschrieben sein wird, nicht zuletzt weil es derzeit auf den universitären Lehrstühlen für Zeitgeschichte fast gar keine Professoren mit ostdeutscher Herkunft gibt. Dass wir, um uns selbst zu verstehen, Geschichte erzählen müssen, liegt auf der Hand. Aber wer darf die eine oder die vielen Geschichten erzählen? Und aus welchen Perspektiven? Wenn die in der Regel eben westdeutschen Historiker als zuständige Fachprofis für die Abweisung einer gemeinsamen Geschichte plädieren, bedeutet das auch, dass sich der Westen die Deutungshoheit unter keinen Umständen nehmen lassen oder auf eine andere Perspektive auch nur einlassen will. Ob der Osten sich dann wiederum seine eigene Geschichte erzählt, quasi am Katzentisch, ist egal, weil sie ohnehin nicht zählt, sofern sie überhaupt erzählt wird. Die innerdeutsch übersichtlich geteilte Geografie lädt offenbar zur bequem teilbaren und geteilten Geschichte ein. Wenn man aber nicht an den Punkt kommt, die geteilte Geschichte nach 1945 und mehr noch nach 1990 als gemeinsame Geschichte zu begreifen, wird man auf Dauer auch in Zukunft ein geteiltes Land bleiben. So setzt sich die Spaltung aus Vergangenheit und Gegenwart in die Zukunft fort.

Dabei möchte ich vorwegschicken, dass ich von Haus aus kein Politologe bin, kein Soziologe, kein Historiker, sondern Literaturwissenschaftler. Die Gegenstände, mit denen ich mich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, befasse, gehören zur deutschen Literatur zwischen 1750 und 1933; meine Forschungsinteressen liegen folglich weitab vom Thema dieses Buches. Ich spreche hier als Laie, dessen Expertise lediglich darin besteht, seit Langem teilnehmender Beobachter zu sein. Das bedeutet auch, von mir auf eine Weise zu reden, in der sich Autobiografie und teilnehmende Beobachtung miteinander verbinden, wie man es aus der Ethnografie kennt. Dass dieses Verfahren, »die individuellen und kollektiven Flugbahnen« zu verbinden,2 sehr erhellend sein kann, zeigen entsprechende Bücher von Soziologen, etwa von Pierre Bourdieu und Didier Eribon in Frankreich oder von Oskar Negt und Steffen Mau in Deutschland,3 es zeigen auch neuere Autofiktionen wie die von Annie Ernaux, Gerhard Neumann oder Christian Baron.4 Mit Hegel kann man diese Verknüpfung von subjektiver Geschichte und sozialer Analyse noch philosophisch legitimieren, sofern er feststellt, dass man ganz subjektiv werden muss, um ganz objektiv werden zu können – denn am Besonderen kann das Allgemeine aufscheinen.

Vorwegschicken möchte ich außerdem, dass ich durchgängig von Osten und Westen rede, von Ostdeutschen und Westdeutschen, von NULL und EINS, von Schwarz und Weiß. Tertium non datur. Statt auf Differenzierung und Relativierung setze ich...

Erscheint lt. Verlag 23.2.2023
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Axel • Bild • Bundesrepublik • DDR • Diskriminierung • Döpfner • Döpfner Affäre • Döpfner Ossis • Eliten • Identität • Osten • Skandal • Soziale Ungleichheit • Spaltung • Springer • Ungleichheit • Wende • Westen
ISBN-10 3-8437-2916-6 / 3843729166
ISBN-13 978-3-8437-2916-1 / 9783843729161
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