Traut euch, träumt! (eBook)

Lektionen eines Lehrers, den man gerne gehabt hätte | 'Dieter Bachmann ist kein gewöhnlicher Lehrer.' ZEIT
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2023 | 1. Auflage
272 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2959-8 (ISBN)

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Traut euch, träumt! -  Dieter Bachmann
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Der Lehrer, von dem du gerne gelernt hättest (und deine Eltern wären froh gewesen, hättest du so einen Lehrer gehabt) Ein ganz und gar ungewöhnliche Lehrer schreibt über die Erkenntnisse aus der jahrzehntelangen Arbeit mit Kindern. Die wichtigsten Dinge hat Dieter Bachmann nämlich nicht im Studium gelernt, sondern von seiner Oma, einer streunenden Katze oder eben den Kindern selbst. Von Hern Bachmann können wir wiederum lernen, wie man Kindern Vertrauen schenkt, wie man im Umgang mit ihnen authentisch bleibt, Haltung und Mitmenschlichkeit zeigt und dabei Kreativität, Toleranz und Kommunikation in den Mittelpunkt stellt. Eine Schale Äpfel kann manchmal mehr bewirken als vier Stunden Matheunterricht. Der Dokumentarfilm 'Herr Bachmann und seine Klasse' hat zahlreiche Preise gewonnen, unter anderen den silbernen Bären der Berlinale und den Deutschen Filmpreis. »Dieter Bachmann ist kein gewöhnlicher Lehrer.« ZEIT

Dieter Bachmann, geb. 1952, ist studierter Lehrer, entschied sich aber nach dem Referandiat für ein Leben als Steinbildhauer. Dann wurde er doch noch Lehrer und unterrichtete bis 2019 in Stadtallendorf an einer Gesamtschule. Er hat selbst drei Kinder und macht heute vor allem Musik - gerne auch mit seinen ehemaligen Schülerinnen und Schülern zusammen.

Dieter Bachmann, geb. 1952, ist studierter Lehrer, entschied sich aber nach dem Referandiat für eine Steinmetzlehre und arbeitete bis 1994 als Steinbildhauer. Dann wurde er doch noch Lehrer und unterrichtete bis 2019 in Stadtallendorf an einer Gesamtschule. Er hat selbst drei Kinder und macht heute vor allem Musik - gerne auch mit seinen ehemaligen Schüler:innen zusammen.

1   Etikettenschwindel


Ende August, das neue Schuljahr hat begonnen. Mein erstes mit festem Arbeitsvertrag, seit ich dem Schulsystem vor vielen Jahren den Rücken gekehrt habe. Ich bin also wirklich zurück. Diesmal sogar als Beamter – wer hätte das gedacht. Ich darf mich jetzt offiziell Klassenlehrer einer siebten Klasse im Hauptschulzweig einer Gesamtschule in Mittelhessen nennen. Die Lehrer-Neulinge an unserer Gesamtschule kriegen immer automatisch die Hauptschulklassen zugeteilt, weil die sonst keiner unterrichten will. Macht mir persönlich aber nichts aus, ich fühle mich in der Hauptschule wohler als am Gymnasium.

Schwungvoll betrete ich das karge Klassenzimmer. Zehn Schritte bis zum Pult, Tasche hinstellen, in Gedanken noch mal die Kennenlernspiele für heute Vormittag durchgehen. Ich freue mich.

Viele der 13-jährigen Schülerinnen und Schüler, die ich nun jeden Tag in Deutsch, Mathe und Sport unterrichten soll, kenne ich schon vom letzten Schuljahr, von meinen Vertretungsstunden als Aushilfslehrer. Alles nette Kinder, wach, lebhaft, neugierig. Jetzt lastet allerdings deutlich mehr Verantwortung auf mir: Werden wir als Gruppe zusammenwachsen, werde ich jedem und jeder gerecht werden? Einige Jahre gemeinsamen Lebens und Arbeitens beginnen heute um 8:00 Uhr, ein wahrlich großer Moment für uns. Mir kommt Rod Stewart in den Sinn: The first cut is the deepest. Und ich will als Klassenlehrer meiner neuen Klasse keinen Kummer machen, sondern einen guten ersten Eindruck hinlegen.

Während ich reingekommen bin, haben mich die anwesenden Jungs, viele von ihnen mit türkischen, arabischen oder osteuropäischen Wurzeln, schon freundlich begrüßt. Ihre pubertären Stimmen rangieren von dunkel tief bis hell-kieksig:

»Morgen, Herr Bachmann!«

Vom Sehen kenne ich sie fast alle. Mit den meisten habe ich vor den Sommerferien schon auf dem Schulhof Fußball gespielt. Ich bin ein begeisterter Straßenkicker – und nutze in der Schule jede Gelegenheit, um bei den Kindern mitzuspielen. Nicht immer halte ich mich dabei ganz korrekt an die Pausenzeiten.

»Morgen«, nicke ich.

Noch ein paar Sekunden bis zum Unterrichtsbeginn.

Aber Moment mal. Ich stutze. Irgendwas stimmt hier im Raum nicht.

Irgendwas – fehlt.

Im ersten Moment komme ich nicht direkt drauf. Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen:

»Hey, Jungs! Wo sind denn die Mädchen?«

Die Hälfte der Plätze ist leer. Die Schüler schauen sich erst verlegen gegenseitig an, dann blicken sie zu mir. Bis einer schließlich gesteht:

»Herr Bachmann, die Mädchen sind im Gebüsch. Die wollen nicht kommen.«

»Im Gebüsch? Die wollen nicht kommen?«

Ich verstehe gar nichts mehr.

»Die haben keinen Bock auf Hauptschule«, erklärt mir Harun, dessen Cousine laut meiner Klassenliste eigentlich auch hier sitzen sollte.

Ich zögere keine Sekunde.

»Okay, Harun, zeig mir das Gebüsch.«

Den Rest der Jungs schicke ich auf den Schulhof, eine Runde kicken. Die erste Schulstunde muss warten.

Dann mache ich mich auf die Suche nach den verlorenen Mädchen.

Jetzt muss ich kurz ein bisschen ausholen: An der Georg-Büchner-Gesamtschule in der kleinen, industriell geprägten Kreisstadt Stadtallendorf in Hessen, an der ich unterrichte, gibt es für Fünft- und Sechstklässler eine sogenannte Förderstufe. Im Grunde genommen ist das eine erweiterte zweijährige Grundschulzeit, in der Kinder mit unterschiedlichen Leistungsniveaus zusammengewürfelt sind. In manchen Bundesländern, Berlin etwa, dauert die Grundschulzeit grundsätzlich sechs Jahre, dort ist das also ganz normal.

Am Ende der sechsten Klasse fällt dann eine schwerwiegende Entscheidung: Die Kinder werden in die Haupt- oder Realschule oder in den Gymnasialzweig eingestuft. Die Klassen werden entsprechend neu geteilt. Ab der siebten Klasse ist also klar, in welcher Schublade man steckt. Zwar kann theoretisch auch ein Hauptschüler später in der zehnten Klasse noch einen Realschulabschluss schaffen und danach in die gymnasiale Oberstufe wechseln. Praktisch kommt das aber so gut wie nie vor.

Wir Lehrer wissen das – und die Kinder wissen es auch.

Harun hat mich mittlerweile quer über den Schulhof zu einer Reihe von Sträuchern geführt. Ich gehe in die Knie und luge zwischen den Zweigen hindurch. Tatsächlich, da zwischen den Blättern hocken sie auf der staubigen Erde, die Knie angezogen, die Köpfe auf die Arme gelehnt. Sechs türkische Mädchen, die eigentlich fröhlich in meinem Klassenzimmer sitzen sollten.

Harun und ich setzen uns vor die schluchzende Gruppe und können es beide nicht fassen. Unmerklich rückt Harun noch ein paar Zentimeter näher an mich heran, als wolle er sich anlehnen. Ohne dass er etwas sagt, spüre ich, dass auch er Trost braucht. Der sonst so coole Junge ist kurz davor, ebenfalls die Fassung zu verlieren. Später wird er mir sagen, dass er seine Cousine Sibel, die lustige, vorlaute, aufgeweckte Sibel, noch nie so traurig gesehen hat.

Lange passiert nichts.

Wir sitzen einfach da. Schauen uns an.

Was soll ich auch sagen? Der Kloß in meinem Hals ist auf die Größe eines Fußballs angeschwollen. Sind das wirklich dieselben selbstbewussten und intelligenten Mädchen, die ich vom Schulhof kenne? Die Freundinnen, bei denen sonst eine die andere an Energie und Lebensfreude überstrahlt? Aus ihren geröteten Augen schaut mich nun pure Verzweiflung an. Und langsam steigt die Wut in mir auf.

Eine sehr große Wut.

»Harun, hol auch noch die Jungs her! Alle!«

Harun versteht nicht, worauf ich hinauswill, rennt aber sofort los.

Kurz darauf sitzt die gesamte 7c mit mir im Gebüsch.

Ich weiß natürlich, was die Kinder umtreibt. Sie haben heute, an ihrem ersten Schultag der siebten Klasse, zum ersten Mal die volle Härte des deutschen Schulsystems erlebt. Sie haben kapiert: Da ist ein System, das sortiert und aussortiert. Ein System, das ihnen unmissverständlich mitgeteilt hat: Du bist akademische Resterampe. Mehr als einen Hauptschulabschluss traut dir niemand zu. Wenn du Glück hast, wirst du eines Tages einen Job finden, bei dem du Mindestlohn verdienst. Wenn du Pech hast, braucht dich überhaupt niemand.

Eine brutale Botschaft.

Daher bin ich ja auch so wütend.

Und ich wundere mich im Stillen: Warum sind diese Mädchen überhaupt in meiner Hauptschulklasse gelandet? Eigentlich sind sie alle sehr aufgeweckte Schülerinnen. Und uns im Kollegium ist bewusst, dass Mädchen die Herabstufung auf Hauptschulniveau meistens persönlicher nehmen als die Jungs. Viele Mädchen definieren sich über ihre Schulleistungen – und zweifeln umgekehrt schneller an ihren Fähigkeiten. Der Mehrheit der Jungs, so habe ich es jedenfalls oft erlebt, ist es eher egal, was die Lehrer von ihnen halten. Oder jedenfalls tun sie so.

Meine Devise als Lehrer lautete immer: Diese Kinder sind nicht dumm! Sie brauchen nur ein bisschen mehr Zeit und sollten möglichst lange zusammen lernen. Denn worin bestehen die gängigen Probleme, mit denen die Schülerinnen und Schüler an unserer Schule kämpfen? Meistens sind es lediglich sprachliche Hürden. Viele der Kinder stammen aus türkischen Familien, die in zweiter oder dritter Generation in Hessen ansässig sind. Ihr Dilemma: Sie sind weder in der einen noch in der anderen Sprache richtig zu Hause. Die Kinder sprechen Deutsch fehlerhaft – aber sie sprechen auch nur schlecht Türkisch. Außerdem müssen sie permanent zwischen zwei Sprachen (und zwei Kulturen) hin und her wechseln.

Was macht das mit einem Menschen, wenn er keinen sicheren sprachlichen Boden unter den Füßen hat? Keinen verlässlichen Code der Verständigung besitzt? Wenn Kommunikation immer mühsam ist?

Die daraus entstehende Abstiegsspirale, die nun auch Sibel und ihre Freundinnen zu erfassen droht, habe ich im Laufe meines Berufslebens oft beobachtet: Bei Schülern, die aus bildungsfernen Schichten kommen, akkumulierten die Defizite in den Hauptfächern Jahr um Jahr. Parallel werden die Noten immer schlechter. Logisch, was dann passiert: Die Motivation sinkt, das Selbstbewusstsein leidet, und bald glauben die Kinder selbst, dass sie zu blöd seien, um mit den anderen mithalten zu können. Wer einmal dermaßen ins Rutschen kommt, kann am Ende froh sein, überhaupt noch halbwegs glimpflich aus der Schule herauszukommen.

Dazu kommt: Meine Schüler haben in der Regel null Hilfe zu Hause. Es gibt keine privat bezahlten Nachhilfelehrer. Auch keine Eltern oder Großeltern mit akademischen Abschlüssen, die mal etwas hätten erklären können.

Und noch eine Entwicklung benachteiligt diese Kinder: Der Unterricht in fast allen Fächern wurde in den letzten Jahrzehnten extrem versprachlicht. Auch für Mathe braucht man beispielsweise sehr gute Deutschkenntnisse. Die Kinder sollen ständig mathematische Abläufe in Worten erklären können: So lauten die neuen Kompetenzbestimmungen. Wir Lehrer sind deshalb verpflichtet, neben Rechen- auch Rechtschreibfehler anzustreichen. Auch wenn es eigentlich gerade um die Beantwortung einer mathematischen Sachaufgabe geht. Die Rechenkünste der Kinder sind dabei fast...

Erscheint lt. Verlag 30.3.2023
Co-Autor Astrid Herbold
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Attachment • Bedürfnisorientiert • Berlinale • Herr Bachmann und seine Klasse • Inneres Kind • Lehrer • Mut • Pädagogik • Schule • Toleranz
ISBN-10 3-8437-2959-X / 384372959X
ISBN-13 978-3-8437-2959-8 / 9783843729598
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