Jena-Paradies (eBook)

Spiegel-Bestseller
Die letzte Reise des Matthias Domaschk
eBook Download: EPUB
2023
368 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-3215-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Jena-Paradies -  Peter Wensierski
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Peter Wensierski erzählt von einer Generation Jugendlicher auf der Suche nach einem freien, selbstbestimmten Leben.

Freitag, 10. April 1981: In Jena steigt der 23-jährige Matthias Domaschk in den Schnellzug nach Berlin. Er will zu einer Geburtstagsfeier. Doch er kommt nie an, denn der vollbesetzte Zug wird in Jüterbog gestoppt, Matthias und drei weitere Jenaer festgesetzt. Zwei Tage später liegt er in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt Gera tot im Besucherzimmer. Was ist damals geschehen?

Fesselnd erzählt Peter Wensierski anhand der letzten Tage im Leben von Matthias Domaschk die Geschichte einer unangepassten Jugend und ihrer Widersacher in einem totalitären Staat. Wie für die Jenaer Szene der Polizeiüberfall auf eine Wohngemeinschaft, der Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, zu Wendepunkten werden. Und er zeichnet das Bild einer zunehmend politisierten Generation, die sich in Widerspruch zu ihren angepassten Eltern und intoleranten Bürgern begab, die sich politisch und kulturell schon in den 70er Jahren über Grenzen hinweg verständigte - auf der Suche nach einem aufrechten und selbstbestimmten Leben.

Peter Wensierski, Jahrgang 1954, studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Publizistik an der Freien Universität Berlin. Seit 1979 berichtete er als Journalist und Dokumentarfilmer aus der DDR. Von 1986 bis 1993 war er Fernsehjournalist bei der ARD, arbeitete für das Magazin Kontraste, ab 1993 beim Spiegel. Wensierski wurde ausgezeichnet mit dem Bundesfilmpreis, dem Europäischen Fernsehpreis und dem Bundesverdienstkreuz. Mehrere Buchveröffentlichungen, darunter »Von oben nach unten wächst gar nichts« (1986), »Schläge im Namen des Herrn« (2006), »Die verbotene Reise« (2014), »Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution« (2017), »Berlin - Stadt der Revolte« (mit Michael Sontheimer, 2018).

Samstag, 11. April 1981


träumen – ich glaube träume sind sehr wichtig für uns, sie können sehr viel kraft geben. die gefahr ist allerdings, daß man sich zu sehr in diese träume hineinlebt, seine eigene traumwelt baut, die beziehungen verliert.

Matthias Domaschk in einem Brief an eine Freundin, 7. Februar 1979

Samstag, 1.20 Uhr – Bahnhof Jüterbog, Diensträume der Trapo


Matz und Blase warten und warten. Ein Vernehmer in Polizeiuniform, der sich ihnen nicht vorstellt, tritt ein und versucht es noch mal.

Matz ist restlos sauer und empört sich über die Warterei. Blase legt beschwichtigend seinen Arm auf die Schulter von Matz, um ihn vor einem Gefühlsausbruch zu bewahren. Der Uniformierte sieht die liebevolle Geste, stutzt einen Moment: Sind die etwa …?

Er fordert Blase auf mitzukommen. Er befragt jeden einzeln und will alles über Ziel und Zweck der Reise wissen. Das dauert.

Blase antwortet, dass sie in den Zug gestiegen sind, um zu einer Geburtstagsfeier nach Berlin zu fahren.

Na, das muss überprüft werden, eher kommen Sie hier nicht weg.

Wenn jemand Geburtstag hat und feiern will, ist das nichts Verbotenes, also nennt Blase nach einer Weile Name und Anschrift von Henry in Berlin. Matz gibt dies nach ihm auch zu Protokoll und sagt, dass er Henry vor neun Monaten in Weimar kennengelernt hat.

Und woher kennen Sie die beiden dem Zug entnommenen weiblichen Personen?

Ach, das ist nur eine flüchtige Bekanntschaft. Wir sind uns auf Konzert- oder Discoveranstaltungen in Jena über den Weg gelaufen, das Treffen hier ist reiner Zufall.

Matz sagt dasselbe. Der Vernehmer ist mit der Übereinstimmung der Aussagen zunächst zufrieden. Dann versucht er einen Bluff: Wir wissen, dass sich weitere mitreisende Personen aus Ihrem Bekanntenkreis im Zug befanden, wen davon kennen Sie?

Matz schaut ihn an und zögert.

Sagen Sie die Wahrheit!

Ja, da gab es noch welche. Uwe, genannt Behrchen, und seine schwangere Freundin. Aber auch dieses Zusammentreffen im Zug war rein zufällig. Die wollen an die See fahren.

Der Kriminalobermeister ist auch mit dieser Antwort zufrieden und kann nach den Befragungen keinen Straftatbestand erkennen. Es gibt zudem keinen Verdacht auf einen möglicherweise geplanten illegalen Grenzübertritt, was stets routinemäßig überprüft wird.

Die Befragung ist nach einer Weile beendet, der Vernehmer mit der Schreibmaschine allein im Raum und tippt seine Mutmaßung ins Protokoll: Es wird eingeschätzt, daß Rösch und Domaschk homosexuelle Personen sind, die sich in Berlin mit gleichartigen Personen treffen wollen.

Samstag, 2.30 Uhr – Berlin, Storkower Straße 72


Laute Musik, Stimmengewirr, überall stehen leere Bierflaschen herum. Aber zwei Leute aus Jena fehlen auf der Geburtstagsfeier. Immer wieder kommt das Gespräch darauf, ob Matz und Blase wohl noch kommen werden.

Gegen Mitternacht ist einer von der Clique aus Zeitz zur Fete dazugestoßen, der eigentlich auch schon früher da sein wollte. Es ist Ohms. Er ist mit Hubert aus Zeitz in Weißenfels zugestiegen und saß ebenfalls im D 506. Hubert dagegen verpasste beim Aufenthalt in Leipzig die Weiterfahrt, weil sein Versuch, Bier zu organisieren, zu lange dauerte. Aber Ohms hat in Jüterbog mitbekommen, wie Blase und Matz von der Trapo aus dem Zug geholt wurden, und erzählt den anderen davon. Sieglinde aus Auerbach ruft ihm zu: Sei mal nicht so pessimistisch, die kommen schon noch! Ganz bestimmt.

Ihr Glas klirrt laut beim Anstoßen mit Ohms.

Wie spät ist es jetzt? Mitten in der Nacht, aber die Fete ist noch lange nicht vorbei.

Fast alle haben so ihre Erfahrungen mit Kontrollen, Zuführungen und stundenlangen Befragungen und erzählen davon. Ein Freund von Henry ist nicht so optimistisch wie Sieglinde und berichtet, wie nicht nur er, sondern gleich vierzig Leute nicht dort ankamen, wo sie hinwollten: Das war beim Jazz-Jamboree, dem internationalen Jazz-Festival in Warschau mit vielen großen Stars. Wir sind da hin, wie viele andere alljährlich im Oktober. Auch Matz und Blase waren dabei. Nach langer Fahrt kamen wir endlich in Warschau an, hatten im Büro der polnischen Jazz-Föderation unsere Eintrittskarten abgeholt und standen schon direkt am Einlass vor dem Veranstaltungsort, der Kongresshalle. Plötzlich wurden wir von Polizisten umzingelt. Lange Haare? Parka? Mitkommen! Andere wurden aus Gaststätten herausgeholt oder auf offener Straße gejagt. Nach stundenlangem Warten wurden unsere Daten erfasst, dann folgten Verhöre und die Frage, bei wem man denn übernachten wolle. Wir mussten alle mitgeführten Dinge abgeben, gruppenweise ging es dann in verschiedene Gefängnisse, in dunkle Zellen, manche ohne Fenster. Am nächsten Tag brachte uns ein Bus zurück in die DDR, aber nur bis Frankfurt (Oder). Ankunft um Mitternacht, die ganze Nacht erneute Verhöre. Morgens wurden uns die Personalausweise abgenommen und durch PM 12 ersetzt. Wir mussten dann selbst zusehen, wie wir wieder nach Jena kommen.

So schlimm wird’s mit Matz und Blase wohl nicht werden, meint Marina, die sich Matz endlich herbeiwünscht. Henry hat ihr Interesse längst bemerkt und muntert sie auf. Spätestens morgen sind die beiden da, sagt er, und dann gehen die mit uns zur Köhlerhütte.

In der Harzer Köhlerhütte im Volkspark Friedrichshain soll die Doppelgeburtstagsfeier weitergehen. Alle freuen sich schon auf die wahrscheinlich besten Goldbroiler der Hauptstadt, die es dort gibt.

Samstag, 2.30 Uhr – Bahnhof Jüterbog, Diensträume der Trapo


Der Fernseher auf dem Schrank ist seit Stunden abgestellt. Matz und Blase sind von den Befragungen zurück im Dienstraum der Trapo und dösen vor sich hin. Eva und Sylvi werden jedes Mal, wenn sie einnicken, wieder wachgerüttelt. Sie versuchen, ein paar Stühle nebeneinanderzustellen, um darauf schlafen zu können, was sofort unterbunden wird.

Hey, hier wird nicht geschlafen!

Nach dem zweiten Versuch entfernt einer der uniformierten Bewacher die überzähligen Stühle, so dass für jeden nur einer übrig bleibt.

Irgendwas hat sich an der Stimmung verändert, bemerkt Blase. Die Türen wurden vorhin mehrfach auf- und zugeschlagen. Vielleicht ist jemand neu angekommen?

Es ist schwer, eine wirkliche Regung in den Gesichtern zu erkennen. Die schweigsamen Trapo-Leute, die sie bewachen, schauen teilnahmslos drein.

Ein Leutnant, der offenbar Leiter des Jüterboger Gruppenpostens ist, holt ab und zu einen seiner Leute in die Schreibstube nebenan. Er will den Rapport fertig machen, denn heute war viel los. Kurz bevor sie die vier aus dem D 506 holen mussten, war ein drei Jahre altes Kind weinend über den Bahnhof geirrt. Gerade erst hat es der Kommandant der nahe gelegenen Russenkaserne abgeholt.

Der kann bald wiederkommen. Aber aus einem anderen Grund: Morgen, hofft der Leutnant, legen wir uns auf die Lauer: Heute wurden auf dem Güterbahnhof wieder Teile einer Weiche mit einem Schneidbrenner geklaut. Wer macht denn so was? Sowjetische Soldaten. Die haben auch die Patrone aus einer Kalaschnikow abgefeuert, die heute Mittag an der Rampe neben der Gleisbaubrigade eingeschlagen ist. Ansonsten gab es wie so oft Suizid auf den Gleisen: eine Frau, deren Kopf auf den Gleisen zertrümmert wurde, und ein Rentner, kurz vor neun, der zum Glück zerteilt neben die Gleise geschleudert wurde, so daß der Zugverkehr wenigstens nicht unterbrochen werden mußte.

Da fliegt die Tür auf. Die Wartenden schrecken hoch. Zwei Männer in Zivil deuten mit dem Finger auf Eva: Mitkommen!

Eva weiß nicht, ob sie entsetzt oder amüsiert sein soll, denn die Befragung mutet an wie in einem Agentenfilm – sie am Tisch vor dem Vernehmer, der kaum zu erkennen ist, weil er ihr die Schreibtischlampe ins Gesicht gedreht hat. Dieser Mann wühlt in ihren Taschen herum, greift ihr Tagebuch heraus, blättert eifrig darin, grinst und liest ihre privatesten Aufzeichnungen.

Ab und zu presst er Fragen zwischen den Zähnen hervor.

Was bedeutet diese Zeichnung hier? Was meinen Sie mit diesem Spruch da? Was ist das für ein Name? Wie stehen Sie eigentlich zu unserem Staat?

Eva protestiert: Dürfen Sie das überhaupt?

Dabei weiß sie doch, auf welcher Seite des Tisches die Macht und auf welcher die Ohnmacht sitzt.

Woher kennen Sie Rösch und Domaschk?

Na, vom Sehen, wie alle in Jena sich vom Sehen kennen. Man läuft sich doch permanent über den Weg. Was weiß ich, von irgendwelchen Konzerten im F-Haus vielleicht. Haben Sie uns bloß mitgenommen, weil ich die beiden auf dem Bahnsteig gegrüßt habe? Ist Grüßen neuerdings verboten?

Die Fragen stelle ich hier!

Mann, die warten doch auf uns da alle im Norden!

Wissen Sie, wohin die beiden fahren wollen?

Nee, weiß ich nicht, woher denn?

Es reicht offenbar. Ein Vernehmer bringt sie zurück in den Warteraum. Als Nächste muss Sylvi mit, dann sind die Jungs dran. Einzeln.

Blase wird als Erster geholt. Zwei Männer in Zivil erwarten ihn am Ende des schmalen Ganges in einem überhitzten kleinen Raum hinter einem Tisch. Er kann sie kaum...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Ausbürgerung • Bestseller • Biermann • Carl Zeiss Jena • FDJ • Hippies • Jena • Jimi Hendrix • Jugendklub • Jüterbog • k-Gruppen • Kommunismus • Mauer • Nelkenrevolution • Neues Deutschland • Opposition • Ost-Berlin • Parteitag • Peter Rösch • RAF • Roland Jahn • Solidarnosc • Sozialismus • spiegel bestseller • Stadtguerilla • Stasi • Störer • Summerhill • Terrorismus • Ton Steine Scherben • Trapo • True Crime • Untersuchungshaft • Widerstand • X. Parteitag
ISBN-10 3-8412-3215-9 / 3841232159
ISBN-13 978-3-8412-3215-1 / 9783841232151
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