Zeit der Zäune (eBook)

Orte der Flucht
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
448 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491813-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zeit der Zäune -  Katja Riemann
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»Zeit der Zäune« erzählt von Orten der Flucht, zu denen Katja Riemann allein und ohne ein Team an ihrer Seite reiste. Wo sind diese Orte und wie leben Menschen im Interim? Sie geht der Frage nach, ob Menschen in offiziellen Camps, inoffiziellen Dschungeln, im Warten und der Ungewissheit erfinderisch sind und gestaltend. Und begegnete erstaunlichen Personen und Situationen. Sie begleitete vor Ort die Projekte von Filmschaffenden, Theaterleuten, Traumatologinnen, Ärzten, Köchen und vielen anderen und schreibt einfühlsam mit dem Blick für Details über deren Ideen und Herausforderungen. Die Menschen sind schon immer gewandert - und die Ankunft ist wohl das Schwerste.

Katja Riemann ist eine der bekanntesten deutschen Schauspielerinnen, die sich sowohl mit feinem Gespür zwischen kommerziellem Kino und arthouse bewegt, als auch im Theater und der Musikwelt zu Hause ist.  Sie ist UNICEF-Botschafterin und erhielt für ihr Engagement 2010 das Bundesverdienstkreuz am Band und 2016 den Bad Iburger Courage-Preis. 2020 ist ihr Sachbuch über humanitäre Arbeit »Jeder hat. Niemand darf. Projektreisen« bei S. Fischer erschienen.

Katja Riemann ist eine der bekanntesten deutschen Schauspielerinnen, die sich sowohl mit feinem Gespür zwischen kommerziellem Kino und arthouse bewegt, als auch im Theater und der Musikwelt zu Hause ist.  Sie ist UNICEF-Botschafterin und erhielt für ihr Engagement 2010 das Bundesverdienstkreuz am Band und 2016 den Bad Iburger Courage-Preis. 2020 ist ihr Sachbuch über humanitäre Arbeit »Jeder hat. Niemand darf. Projektreisen« bei S. Fischer erschienen.

Dinner in der Nachbarschaft


Es war mein erster Tag in Moria. Der erste Tag auf der Insel Lesbos, auf der ich am 15. August 2020 mit der Fähre aus Chios ankam. Drei Stunden auf einem schwimmenden Riesengefährt aus Eisen, das an allen Ecken und Enden krachte und wo am Eingang dicke bewegliche Eisenplatten mit Nieten übereinander lagen, um Autos und auch Fußgänger wie mich ins Innere zu leiten. Die Augustsonne brannte und potenzierte sich in der Hitze des Metalls. Ich hatte ein Tuch um den Kopf geschlungen, trug Sonnenbrille, Ohrringe und Corona-Schutzmaske. Die Ohren waren kurz davor, unter den Requisiten, mit denen sie behängt waren, zu kollabieren.

Aufs Deck! Vorn über dem Bug sitzen wollte ich, dort, wo die Ägäis sich dunkelblau vor aller Passagiere Augen wie ein Wunder ausbreitete. Mein Kindheitstraum, als Mädchen aus dem Norden, war, blinde Passagierin auf einem Frachtschiff zu sein. Das Ziel: Afrika. Was wusste ich von Afrika, die Vorstellungen einer Fünfjährigen über den Kontinent waren verschwommen. Ich dachte, wenn sie mich erst auf hoher See erwischen, die Matrosen mit blauen Mützen auf dem Kopf und verwischenden Anker-Tätowierungen auf den Armen, dann würden sie es nicht übers Herz bringen, ein so kleines Kind ins Wasser zu werfen. Ich könnte mich nützlich machen, das Deck schrubben, das geht schon irgendwie mit den noch nicht fertig ausgewachsenen Händen. Niemals träumte ich von einer Yacht, einem Segelboot oder einem Passagierschiff. Es musste das nach Schweröl riechende Eisenschiff sein, das mit den übereinandergestapelten Containern, in denen geheimnisvolle unbekannte Fracht geladen war, Gewürze, Tee oder aufgeschüttete Haufen dunklen Kies. Der Traum hat sich nicht erfüllt, ich wusste nicht, wo so ein Schiff zu finden sei, aber Autofähren kamen immer nah an die Vorstellung heran, so wie diese, auch wenn die Destination Lesbos hieß und nicht Gambia.

Drei Stunden Wasser, Sonne, Bewegung, Weitsicht. Unterwegs ins Unbekannte. Statt Erwartungshaltungen trug ich offene Räume in mir, die gefüllt werden wollten, wie leere Festplatten. (Ein paar Tage später war die Festplatte bereits voll.) Auf dieser Insel wollte ich nun acht Tage bleiben, um über drei Geflüchtetenlager vor Ort zu lernen und anschließend nach Athen zu MSF und UNHCR zu fahren und von dort zurück nach Berlin. Ich blieb vier Wochen.

Wir schwammen in den Hafen von Mytilini ein und Nik, meine Kontaktperson von »Mission Lifeline«, holte mich freundlicherweise ab. Es wäre nicht nötig gewesen, meine Unterkunft war gleich ums Eck, doch abgeholt zu werden an einem Ort, der unbekannt ist, das ist top. Wie erkennt man jemanden, den man nicht kennt? Es war eindeutig: Da stand einer und wartete auf mich, fertig. Umarmung.

Nachdem wir eine halbe Stunde zur Besprechung in einem Café gesessen hatten, unter einer Decke aus wuchernden knallgrünen Schlingpflanzen, in denen eine Grille metallene Geräusche machte, die den Lautstärkepegel der 2000-Tonnen-Eisenfähre bei weitem übertrumpfte, sagte er: »Wollen wir los?«

»Wohin?«

»Nach Moria?!«

Nik ist aus Kiel, war zum ersten Mal im humanitären Einsatz und kannte Moria inzwischen wie seine Westentasche.

Wir fuhren los zum bekanntesten Geflüchtetencamp Europas. Auf der staubigen Straße, vor dem Eingang des Camps, empfing uns Niks Kumpel Yaser. Ein afghanischer sechzehnjähriger Junge in knielangen, modisch zerrissenen Jeans und einem dunklen T-Shirt. Offensichtlich ein Überflieger in akademischen Angelegenheiten.

Sein Englisch war flüssig und eloquent.

»Woher sprichst du so gut Englisch?«

»I watch movies. Every night. I want to become a film director.« (Ich schaue jede Nacht Filme. Ich möchte Filmregisseur werden.)

Nik, Yaser und ich gehen durch den Eingang des Camps einen steil ansteigenden, gerölligen Weg hinauf. Hinein in den Dschungel, der keinerlei Überschneidungsmenge mit der grünen fruchtbaren Vorstellung zu diesem Wort hat, bei dem manche an Lianen und Tarzan denken mögen. Nik grüßt jeden dritten Menschen, alle grüßen zurück, lächeln, sehen mich freundlich an, nehmen mir das Unwohlsein, hierhergekommen zu sein.

»Mit wem fährst du denn nach Griechenland?«, war ich vor meiner Abreise gefragt worden.

»Ich fahr’ allein.«

»Was?!«

»Vor Ort sind Menschen, mit denen ich unbekannterweise verabredet bin, die mir Projekte zeigen und von denen ich lernen kann.«

»Oha, pass bloß gut auf dich auf.«

»Mach’ ich«, antwortete ich, ohne eine genaue Vorstellung zu haben, was das heißen soll und wie man das eigentlich macht. Wie nur passen die Menschen auf sich auf, die ihr Zuhause und ihre Heimat verlassen mussten?

Moria liegt am Hang. Das Gelände ist fast baumlos. Im Winter regnet es viel, dann rutscht alles runter.

Das offizielle Camp, »Registration and Identification Service Center«, kurz RIC genannt, wird vom inoffiziellen Dschungel umschlossen. Er wuchert in alle Richtungen in die Berge hinein. Die Konstruktionen, in denen die Menschen leben, sind selbst gebaut, das Baumaterial dafür muss man kaufen, je nach Auftragslage erhöhen sich die Preise. Aus Paletten wird ein Hüttenboden errichtet, als Fundament, darauf werden diverse Planen und schließlich graue Decken von UNHCR genagelt. Zwischen Nagel und Decke wird ein rundes, zumeist blaues Plastikdings von circa drei Zentimetern Durchmesser geklemmt, platt geschlagene Verschlüsse von Wasserflaschen. So rutschen die Nägel nicht irgendwann durch die Decken durch. Darauf muss man erst mal kommen. In Hochzeiten kostete eine Palette fünf Euro, derzeit sind sie günstiger, weil kaum mehr Menschen kommen und viele auf das Festland transferierten. Die Zahl der Bewohner Morias ist von über 20000 auf 13000 gesunken.

Wir gehen am Bottleriver vorbei, ein Fluss ohne Wasser, dafür mit staubigen, leeren Plastikflaschen gefüllt – ohne Schraubverschlüsse!

Es gab eine Aktion im Camp, bei der man für zehn leere Plastikflaschen eine volle gekühlte Flasche erhielt. Vornehmlich die Kinder des Camps wetzten also herum, um Plastikflaschen aufzusammeln und in Säcken, die dafür verteilt wurden, zum point of sale zu bringen. Eine Win-win-Situation, da auf diese Weise das Camp von herumliegendem Plastikmüll befreit wurde, die Kinder Wasser erhielten und die Flaschen abtransportiert und recycelt wurden. Bingo.

Auf der anderen Seite des geschändeten Flussbettes liegt das RIC, umschlossen von Zäunen. Viele Zäune gibt es hier, manche bereits verrostet, verfallen, mehrfach hintereinandergestellt, obendrauf in Schlaufen gewickelter glänzender Natodraht mit Klingen oder dunkel verfärbter Stacheldraht oder beides. Eher beides. Das Gebiet war ein Militärgelände, das mit Maschendraht umzäunt war, an manchen Stellen ist er noch zu sehen und heruntergetreten oder Löcher sind hineingewühlt. Für Bewegungsfreiheit und Abkürzungen.

Auch die Bewohner haben um ihre selbst gebauten Dschungelkonstruktionen Zäune gebaut, aus Draht, aus Ästen. Offensichtlich gab es hier einst mehr Bäume, sie wurden als Bau-, Brenn- oder Zaunmaterial verwendet, und so reduzierte sich ihre Zahl drastisch. Manche shacks werden gewerblich verwendet und haben eine Ausladeklappe, darauf liegen zum Beispiel Eier oder Zigaretten zum Verkauf. (Auch einzeln.) Die Lade kann man in die Öffnung hinein hochklappen, dann ist das Häuschen verrammelt. Manche Kioske sind geschlossen, vielleicht ist der Ladenbesitzer jetzt in Athen. Oder in Detention. Oder auf dem Weg, die geschlossene Balkanroute zu Fuß bis nach Frankreich zu laufen, nach Calais, in einen anderen Dschungel hinein. Wobei man auf diesem Weg in Lipa, Bosnien, hängen bleibt, anderes Kapitel.

Wir biegen ein in die Bakerystreet. Hier haben Bäcker ihre Öfen installiert, einer neben dem anderen, so dass der Name der S traße Gebot war. Die Löcher für die Öfen wurden in das harte Geröll hineingeschlagen. Dafür wurden Schaufeln verwendet, und ich wundere mich, wie eine Schaufel diesen unerbittlichen Boden öffnen soll. Mit einem Spaten vielleicht, aber besser wohl einer Hacke, nein? Gibt es aber nicht. Also die Schaufel. Die Öfen sind ungefähr 80 cm tief und im besten Fall mit Ziegeln ausgekleidet, darin brennt ein Feuer. Daneben hocken die Bäcker, die den Teig auf eine runde Form legen, die wie ein kurzes rundes Ärmelbügelbrett aussieht, mit dem der Teig im Feuer an die Innenwand geklebt wird. Kurz danach bereits holen sie das fertig gebackene Brot wieder heraus.

Wodurch sich die verschiedenen Bäcker unterscheiden, habe ich nicht herausbekommen, vielleicht Gewürz oder unterschiedlich viel Salz? Jedenfalls gibt es hier frisch gebackenes Brot, das war mir neu. Aber ich bin sowieso neu, ich weiß nichts. Hier wird versucht, zu überleben und irgendwie Würde zu behalten. Oder Vertrautes beizubehalten. Ein frisches Brot, wie man es von zu Hause kennt, kann dazu beitragen.

Kleine Rinnen sind überall im Boden zu sehen, die über die staubigen, karstigen Pfade laufen, einer kratzt sie mit einem Stock aus, macht uns Platz, so dass wir vorbeigehen können, grüßt. Rinnen für was? Für Wasser? Für Urin? Beides? Für beides. Es ist gefährlich, in der Nacht auf die Toilette zu gehen, nicht nur aus hygienischen Gründen. Der Weg kann noch so kurz sein, für Frauen und Mädchen kann er dramatisch enden. Daher ist eine Rinne zweckdienlich, so dass man im Zelt sitzend in sie hineinpinkeln kann und die Flüssigkeit so abtransportiert wird. Schön ist das nicht.

Wir gehen an einer Reihe Plastikklos vorbei, dem griechischen Äquivalent zu Dixi-Klos. Die Türen stehen offen. Kein Kommentar. Davor...

Erscheint lt. Verlag 28.2.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Amnesty International • Asyl • Calais • Einwanderung • Flüchtlinge • Flüchtlingskrise • Frontex • Grenzen • Humanitäres Engagement • Lager • Menschenrechte • Migration • Mittelmeer • Moria • Syrien • UNICEF
ISBN-10 3-10-491813-9 / 3104918139
ISBN-13 978-3-10-491813-6 / 9783104918136
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