Im Zwielicht (eBook)

Zerbrechlichkeit und Resilienz der Demokratie im 21. Jahrhundert
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
381 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45513-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Im Zwielicht -  Wolfgang Merkel
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Die Demokratie ist heute mit einer außergewöhnlichen Verdichtung an externen Krisen konfrontiert: Klimawandel, Migration, Pandemie, Krieg und entgrenzter Kapitalismus. Doch was meinen wir eigentlich, wenn wir von »der« Demokratie sprechen? Wie gehen die entwickelten Demokratien mit diesen Herausforderungen um? Begegnen sie dem Zeitdruck mit »Verschlankung« der demokratischen Verfahren? Antworten sie auf die rechtspopulistischen Bewegungen mit illiberalen Instrumenten wie Verboten, Überwachung und Ausschlüssen? Befinden sich die Demokratien im Niedergang? Die Pfade sind nicht vorgezeichnet, der Niedergang ist nicht besiegelt. Die Schwächen und Blessuren der liberalen Demokratien treten heute jedoch deutlicher hervor als noch zur Jahrtausendwende. Aber neben der neuen Zerbrechlichkeit der Demokratie stehen auch beachtliche Erfolge der Demokratisierung, etwa in Geschlechterfragen oder der Zivilgesellschaft. Bei allen Sorgen - so Wolfgang Merkel - sollte man die Resilienz der liberalen Demokratien nicht unterschätzen.

Wolfgang Merkel war von 2004 bis 2020 Direktor der Abteilung »Demokratie und Demokratisierung« am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professor für Politische Wissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Wolfgang Merkel war von 2004 bis 2020 Direktor der Abteilung »Demokratie und Demokratisierung« am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professor für Politische Wissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Einleitung: Demokratie unter Stress


»Über die Demokratie in Amerika« betitelte Alexis de Tocqueville 1835 sein berühmtes Buch über das Werden der Demokratie in einer neuen Zeit. Tocquevilles Blick war nicht nur auf die junge nordamerikanische Gesellschaft seiner Gegenwart gerichtet, sondern auch in die Zukunft der politischen Ordnungen auf dem alten Kontinent Europa. Tocqueville sah in der Demokratie die Ordnung der Zukunft – mit all ihren Stärken und Schwächen. Für den französischen Adligen war es besonders die sich ausbreitende Gleichheit der Gesellschaft, die die alten ständischen Ordnungen und ihr monarchisch-aristokratisches Gehäuse sprengen würde. Dies habe viele Vorteile, vor allem aber sei damit die Entwicklung hin zur Demokratie unvermeidlich. Amerika halte Europa dabei den Spiegel seiner Zukunft vor. Dies klang optimistisch. Tatsächlich erfüllte sich die Prognose des philosophierenden Adligen nur langsam, unvollständig und mit dramatischen Brüchen.

Überträgt man Tocquevilles Prognose ins 21. Jahrhundert – und ich will das in diesem Band immer wieder tun –, dann lautet die Frage heute: Sehen wir im Spiegel des Niedergangs der »amerikanischen Demokratie« während der zurückliegenden Jahrzehnte auch die Zukunft unserer europäischen Demokratien? Zersetzen in Europa ebenfalls Polarisierung, Vertrauensschwund und Ungleichheit die Basis unserer demokratischen Gemeinschaften? Erleben wir eine wachsende illiberale Ungeduld in Politik und Gesellschaft im Umgang mit den großen Herausforderungen der Zeit? Gerät die Demokratie als überlegene politische Ordnungsform ins Zwielicht? Stehen wir gar vor einer »Demokratiedämmerung«?

In seiner Zukunftsschau vor nunmehr fast zweihundert Jahren machte Tocqueville selbst auf die Gefährdungen der Demokratie aufmerksam. Zwei von ihnen bekamen in seiner einflussreichen Schrift und über diese hinaus eine besondere Bedeutung: Gleichheit und Freiheit. Diese beiden fundamentalen demokratischen Prinzipien ständen in einem unauflöslichen Spannungsverhältnis. Insbesondere die zunehmende Gleichheit würde die Freiheit gefährden. Mit der Auflösung des produktiven Spannungsverhältnisses zuungunsten der Freiheit sah der französische Philosoph eine weitere Gefahr: Die Gleichheit der großen Massen drohe in eine Tyrannei der Mehrheit umzuschlagen. Minderheiten verlören ihren Raum und die Legitimität der Demokratie ihre pluralistische Begründung. Diese Themen sind noch heute von bedrückender Aktualität. Gegenwärtig werden in gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Auseinandersetzungen das Verhältnis von Mehrheit und Minderheiten unterschiedlichster Couleur neu und konflikthaft verhandelt. Dabei ist keineswegs klar, ob die Mehrheit die Minderheit bedroht oder nicht auch die Minderheit die Mehrheit vor sich hertreibt. Beide Optionen sind hoch problematisch für eine liberale Demokratie.

Mit der ersten These allerdings irrte Tocqueville. Es ist heute die verfestigte sozioökonomische Ungleichheit kapitalistischer Demokratien, die die freie Gleichheit und die gleiche Freiheit gefährdet und nicht etwa eine zu große Gleichheit, die die Freiheit bedroht. Die Gleichberechtigung und die demokratische Chancengleichheit wirtschaftlicher, ethnischer, religiöser, sozialer und weltanschaulicher Minderheiten sind selbst in den besten Demokratien des 21. Jahrhunderts nicht zufriedenstellend gelöst.

Schon in den 1840er Jahren, also gut ein Jahrzehnt nach Tocquevilles großer, fast zeitloser Schrift »Über die Demokratie in Amerika« entwickelte Karl Marx (1848) seine zeitlebens inspirierende Idee, die ökonomische Basis sei das Primäre, die politische Ordnungsform das aus ihr Abgeleitete. Die kapitalistische Basis bestimme den politischen Überbau. Denn dem Kapitalismus wohne nach innen wie nach außen eine expansive Dynamik inne. Dieser werde sich national nicht auf die Ökonomie beschränken lassen, sondern die sozialen wie politischen Herrschaftsverhältnisse determinieren. Er werde die nationalstaatlichen Grenzen und Regeln einreißen und sich weltweit durchsetzen.

Der im 21. Jahrhundert real existierende Kapitalismus folgte nicht dem Krisendrehbuch von Karl Marx. Schon gar nicht ging der Kapitalismus an seinen durchaus existierenden Widersprüchen zugrunde. Das Gegenteil war der Fall. Mit großer Flexibilität und beachtlichem Formenreichtum (u.a. Hall und Soskice 2001, Milanovic 2019) hat er sich sowohl mit Demokratien als auch mit Diktaturen eine prosperierende Koexistenz gesichert. Neben den westlichen Demokratien und Diktaturen haben die einst wichtigsten kommunistischen Mächte Russland, bzw. die ehemalige Sowjetunion, und die Volksrepublik China ihre ökonomische Basis geändert und ihren diktatorischen Überbau in der Form, nicht aber in ihrem autokratischen Wesen dem Kapitalismus angepasst. Sie haben sich ihre je spezifischen Varianten des Kapitalismus anverwandelt und wurden zu kapitalistischen Diktaturen. Es war der politische Überbau, der die ökonomische Basis veränderte und nicht umgekehrt, wie noch von Marx diagnostiziert.

Neben Tocqueville und Marx ist John Stuart Mill, ein weiterer Theoretiker des 19. Jahrhunderts, wesentlich für das Verständnis politischer, insbesondere demokratischer Regime. Der britische Ökonom und Philosoph war der herausragende Denker des Liberalismus und der repräsentativen Demokratie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ist es vielleicht bis heute geblieben. Wahlen, Parlament und Regieren im »Representative Government« (1861) und vor allem das alles überragende Prinzip der Freiheit standen im Mittelpunkt seines Denkens. Aber damit diese Funktionen auch demokratisch wirken, bedürfen sie einer belastungsfähigen politischen Gemeinschaft, die Mill am besten durch eine robuste Nationszugehörigkeit gewahrt sah. Der englische Liberale äußert sich dabei überraschend skeptisch über die Koexistenz ethnisch-linguistisch heterogener Gesellschaften und rechtsstaatlicher Demokratie (Mill 1872 [1861]: 289). Auch hier wird zu prüfen sein, ob die These der besonderen Kompatibilität von ethnischer Homogenität und Demokratie im 21. Jahrhundert empirisch (noch) stimmig ist und normativ im Lichte liberaler Gesellschafts- und Staatstheorien überhaupt noch legitim sein kann. Auch die Theorien großer Philosophen bedürfen der Überprüfung und gelegentlicher Revision. Es ändern sich nicht nur die konkreten empirisch erfahrbaren Verhältnisse, sondern auch die normativen Maßstäbe unserer gesellschaftlichen und politischen Reflexionen. Das gilt nicht zuletzt für die Demokratie.

Es lohnt sich, vier Theoreme der beiden großen liberalen Demokratietheoretiker und des weitsichtigen Analytikers des Kapitalismus im 19. Jahrhundert zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch einmal ins Gedächtnis zu rufen:

  • Gleichheit und Freiheit stehen in einem schwierigen Spannungsverhältnis. Die zunehmende Gleichheit droht die zukünftige Demokratie zu beschädigen (Tocqueville). Allerdings kann für die unmittelbare Gegenwart Tocquevilles These auch auf den Kopf gestellt und das Argument vertreten werden, die verhärtete und teilweise gar zunehmende Ungleichheit bedrohe die gleiche Freiheit und damit die Demokratie. Dies ist nicht nur eine theoretische, sondern vor allem auch eine empirische Frage in Zeiten der Globalisierung im 21. Jahrhundert.

  • Die Demokratie wird durch eine Tyrannei der Mehrheit bedroht (Tocqueville). Die Tyrannei der Mehrheit kann in zeitgemäßer Form unsere liberalen Demokratien des 21. Jahrhunderts in unterschiedlicher Weise herausfordern, wenn nicht gar aufgrund von Unterdrückung, Diskriminierung, kultureller Ausgrenzung und ökonomischer Benachteiligung von Minderheiten durch die politische und/oder gesellschaftliche Mehrheit bedrohen. Besonders in rechten, illiberalen und defekten Demokratien ist diese fremden- und minderheitenfeindliche Tendenz nicht auszurotten und zum geradezu definierenden Merkmal geworden. Aber auch in liberalen Demokratien kann mit dem Aufkommen eines linken illiberalen Moralismus der für die Demokratie so wichtige freie Diskurs ebenso subtil wie effektiv eingeschränkt werden. Dissentierende Meinungen können dann von moralistischen Meinungsführern wortmächtiger Minderheiten wirkungsvoll als unmoralisch, rassistisch, sexistisch oder antiquiert auf einen imaginierten Index unstatthafter Inkorrektheit...

Erscheint lt. Verlag 13.9.2023
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Politische Systeme
Schlagworte Bundesrepublik Deutschland • Bürgerräte • Corona • Coronapandemie • Demokratie • Demokratiedämmerung • Demokratische Innovationen • Deutscher Bundestag • Erfolge der Demokratisierung • europäische Demokratien • Gegenwart • Geschichte • geschlechterfragen • herrschaftsmechanismen • Illiberalismus • Inlfation • Innovationen • Kapitalismus • Klimawandel • Krieg • Krise der Demokratie • Legitimität • Migration • Parlament • Parteienverdrossenheit • Politik • Politikwissenschaft • Populismus • Problem • Resilienz • Volksparteien • Wahlen • widerstandsfähig • Widerstandsfähigkeit • Wirtschaftskrise • Zerfall der Demokratie • Zivilgesellschaft • Zukunftsfähigkeit
ISBN-10 3-593-45513-7 / 3593455137
ISBN-13 978-3-593-45513-6 / 9783593455136
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