Das »normale« Kind -  Sabine Seichter

Das »normale« Kind (eBook)

Einblicke in die Geschichte der schwarzen Pädagogik. Mit E-Book inside
eBook Download: EPUB
2023 | 2. Auflage
189 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-25934-9 (ISBN)
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Seit den Anfängen kindlicher Erziehung geht es um die Herstellung des »normalen«, des angepassten, des schönen, des nützlichen Kindes. Als Gehilfin von Ökonomie, Medizin und Psychologie hat die Pädagogik spätestens seit dem 18. Jahrhundert dazu beigetragen, das Kind für gesellschaftliche und wirtschaftliche Zwecke brauchbar zu machen - unter Anwendung von Kontrolle, Steuerung und Demütigungen und auf Kosten seiner Selbstständigkeit sowie kreativen und autonomen Handelns. Dieses Buch wirft einen neuen Blick auf die Geschichte der schwarzen Pädagogik, indem es aufzeigt, wie das Kind im Verlauf seiner Entwicklung zur standardisierten Ware wurde. Die Autorin beleuchtet bislang tabuisierte Facetten von Kindheit und zeigt, wie sich die schwarze Pädagogik historisch und aktuell in erzieherischer Absicht in Kindergarten, Schule und anderen Erziehungsinstitutionen sowie in kulturellen Praktiken kontinuierlich ausgebreitet und verfestigt hat.

Sabine Seichter, Jg. 1981, Dr. phil. habil., ist ordentliche Universitätsprofessorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Paris-Lodron Universität Salzburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Geschichte und Theorie von Erziehung und Bildung, historisch-kulturwissenschaftliche und personalistische Konzeptionen pädagogischer Anthropologie.

Die Ware Kind


Das Kind ist im Laufe der Geschichte der Kindheit zur Ware geworden. Zum Produkt von Ökonomie, Wirtschaft, Medizin und – nicht zuletzt – von Erziehung. Durch wirtschaftliche, technologische und pädagogische Fabrikation ist das Kind in den letzten Jahrhunderten, Jahrzehnten und fortschreitend bis auf den heutigen Tag erfolgreich zur standardisierten Marke »Kind« gestanzt worden.

Indem das Kind in diesem Herstellungsprozess zunehmend den Charakter einer Ware angenommen hat, liegt es uns heute, zumindest tendenziell, als ein von außen produziertes Etwas vor. Dieses Etwas wurde durch den langen Prozess der modernen und postmodernen Zivilisation und durch das Geschäft einer zunehmend professionalisierten Erziehung für fremde, in Sonderheit gesellschaftliche Zwecke brauchbar gemacht und immer mehr instrumentalisiert. So fortschrittlich dieser warenförmige Herstellungsprozess auch erscheinen mag, wurden dem Kind dadurch immer mehr Möglichkeiten selbstständigen und kreativen Handelns versperrt. Zugespitzt ließe sich sagen: Um eines sozial und wirtschaftlich erwünschten Ertrages willen wurde das Kind in den Zustand gelähmter Passivität versetzt, um von seinen Machern von außen geformt und am Ende gleichsam neu »erschaffen« zu werden. Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum würde hier treffend von einer »Verdinglichung« des Humanen sprechen.

Für den gewünschten Output wurde die herzustellende Ware im Fortgang des biologischen Wachstums vermessen, gesellschaftlich kontrolliert und, wenn nötig, aussortiert und im schlimmsten Falle zur Mangel- oder Fehlerware abgestempelt, aus dem Handel genommen und »verramscht«. Sein gesellschaftlicher Marktwert taxiert sich nach bestandener Qualitätsprüfung. Diese erfolgt, den Gesetzen des neoliberalen Marktes folgend, in standardisierter und objektivierter Form. Ziel der Herstellung ist das »normale« Kind. Im internationalen Vergleich und auf einem globalisierten Markt kann nur eine perfekte, fehlerfreie Ware bestehen; anders wird sie ausgelesen und ausgetauscht.

Für die Verfertigung seines Warencharakters musste das Kind vor allem in speziellen Räumen eingefasst und diszipliniert werden. Dabei wurde nicht selten seine Individualität geringgeschätzt oder gar missachtet. Die Ware Kind wurde zusehends zu einem funktionalisierten und mechanisierten Teil eines funktionalisierten mechanischen (Erziehungs-)Systems. Dieses System ist dafür verantwortlich, dass die produzierte Ware schön, robust, langlebig, wertbeständig, resilient und funktional ist. Damit sich dieser Erfolg einstellt, wurden die Maschinen aufwendig und technisch versiert programmiert und gesteuert, immer mit dem Ziel, Störungen zu verhindern und Drop-outs zu vermeiden. Die Perfektionierung der Ware, was ihre äußere Form und die innere Funktion betreffen, ist Maßstab aller Herstellung.

Postmodernen transhumanistischen Perspektiven geschuldet ist dabei die Vision, dass der erziehungstechnische Fortschritt am Ende zu einer »Selbstmaschinisierung« des Kindes führe, sich die Grenzen zwischen Maschine und Mensch aufhöben und Erziehung sich schließlich selbst abschaffe. Das »normale« Kind braucht nicht mehr erzogen zu werden, wenn es bereits als »normales« Kind erzeugt, hergestellt und geboren wird. Mit diesem Ausblick in die Zukunft wird unser Buch enden und eine Praxis der Herstellung des »normalen«, sprich: der gesellschaftlichen Norm entsprechenden Kindes im Lichte moderner Biotechnologie aufzeigen. Zuvor jedoch werden wir Einblicke in unterschiedliche Erziehungspraktiken nehmen, welche dem Kind allesamt Warencharakter zusprechen, um es – natürlich immer im Namen von Erziehung – herstellen und »normalisieren« zu können.

Das vorliegende Buch wird viele romantische Vorstellungen von Kindheit entzaubern. Es betrachtet das Kind im Modus des Warencharakters und macht es am Ende selbst zur Ware. Erziehung wird sich bei dieser Betrachtung immer mehr als treue Gehilfin bei der Herstellung des Kindes als eines von außen »verdinglichten« Gegenstandes zu erkennen geben.

Kindheit wird entzaubert


Dieses Buch stellt also keine erneute historisch-lineare Entdeckungsgeschichte oder gar eine erbauliche Erfolgsgeschichte von Kindheit dar. Vielmehr macht es sich dieses Buch zur Aufgabe, das Kind unter je bestimmten, meist tabuisierten Blickwinkeln zu betrachten und dabei von Kapitel zu Kapitel aufzuzeigen, wie aufgrund der jeweiligen Betrachtungsweise ein bestimmtes Bild von dem Kind entsteht. Durch das Aufzeigen von disparaten Blicken soll eine Geschichte von Kindheit konstruiert werden, die auch ganz anders ausfallen könnte, würden andere als die hier skizzierten Perspektiven eröffnet werden. Die in diesem Text erschlossenen Blicke sind auch insofern beschränkte, als sie sich allesamt auf einen westlich-europäischen Horizont begrenzen. »Kind« und »Kindheit« wird hier im Gesichtskreis einer westeuropäischen Kulturtradition betrachtet.

Indem hier verdrängte, bisweilen sogar tabuisierte Blickwinkel eröffnet und zur Sprache gebracht werden, wird hier nicht das idealistisch-euphorisierende Schönbild eines autonomen, selbstbestimmten und mündigen Kindes gemalt. Entgegen einer »schönen«, mitunter allzu schönen romantisch-erbaulichen pädagogischen (Wunsch-)Literatur werden hier jene Facetten kindlichen Lebens bewusst gemacht, die von Kontrolle, Beobachtung, Standardisierung und Steuerung geprägt sind und die das Kind, zumindest tendenziell, als Ware in den Blick nehmen, »es« normieren und für den Abnehmermarkt tauglich machen.

Allgemein kann gelten, dass sich die Geschichte der Kindheit im Großen in der Erziehung des individuellen Kindes im Kleinen widerspiegelt. So gesehen sind die anthropologische Charakterisierung des Kindes und die Erforschung seiner individuellen Eigentümlichkeit, deren beider historischer Anfang in die Zeit der Renaissance fällt, nicht nur bemerkenswerte Erkenntnisfortschritte hinsichtlich einer differenzierten Gesamtbetrachtung menschlichen Lebens. Die Erfindung des »Schonraumes« Kindheit eröffnete gleichzeitig auch neue Möglichkeiten bewussten Eingreifens, Formens und Herstellens eines brauchbaren und funktionierenden Menschen. Die aufklärerische Parole, der Mensch werde nur Mensch durch die Erziehung, enthüllt jenseits ihrer idealistischen Verbrämung und jenseits ihrer hoffnungsvollen Versprechungen zugleich die soziale Möglichkeit (oder sogar Notwendigkeit), das Geschäft der Erziehung wissenschaftlich zu erforschen und (damit oft auch) politisch zu operationalisieren.

Menschliche Triebe, Affekte, unkontrollierbares Verhalten und überhaupt alles Naturhaft-Animalische passen nicht zur Schablone eines aufgeklärten und zivilisierten Menschen. Vielmehr müssen diese durch Erziehung unterdrückt, reguliert und neu modelliert werden. Der humanitäre ebenso wie der wirtschaftliche Fortschritt einer Gesellschaft scheint, spätestens im Gefolge der Aufklärung, mehr und mehr von der Unterdrückung der animalischen Natur des Einzelnen und von seiner Disziplinierung, Zivilisierung, Kultivierung und Moralisierung im Dienste des Kollektivs abhängig zu sein. Fortschritt und Reputation einer verwissenschaftlichten Erziehung scheinen dann vor allem dort zu liegen, wo Körperformierung, Willensunterweisung und moralische Zucht am »aufgeklärtesten«, und das heißt gleichzeitig streng »methodisch« erfolgen.

Von der Natur zur Zivilisation


In der pädagogischen Absicht des (Um-)Modellierens schwang und schwingt stets die gesellschaftspolitische Hoffnung auf eine Produktion bzw. Reproduktion konform erzogener Bürger und brauchbarer Arbeiter mit. Der Modellierungsprozess des Kindes setzte mit dessen Überwachung und mit der Unterwerfung seines Willens unter eine selbsternannte »pädagogische« Autorität ein – eine Praktik, die mit besonderer Raffinesse beispielsweise in Eliteanstalten oder in sogenannten reformpädagogischen Einrichtungen ausgeübt wurde und bis heute praktiziert wird.

Das vor allem im 18. und 19. Jahrhundert, streng genommen aber bis zum heutigen Tag, im Lichte des gesellschaftlichen Machens und...

Erscheint lt. Verlag 16.6.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-407-25934-4 / 3407259344
ISBN-13 978-3-407-25934-9 / 9783407259349
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