Zugemüllt (eBook)

Eine müllphilosophische Deutschlandreise
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
364 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-81465-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zugemüllt -  Oliver Schlaudt
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Die weltweit größte Untertagedeponie für gefährliche Abfälle im hessischen Heringen, ein gigantischer Abwasserkanal bei Essen, eine Tierkadaververwertungsanlage im schönen Moseltal: Oliver Schlaudt hat sich auf eine eigentümliche Deutschlandreise begeben, um verborgene, aber spektakuläre Wahrzeichen unserer Müllkultur aufzusuchen. Sein genauso verblüffender wie wunderbar erzählter Reisebericht liest sich allerdings nicht nur wie ein Fremdenführer durch deutsche Abfalllandschaften. Inmitten ihrer besonderen Müllgeschichten entwickelt Schlaudt zugleich eine Philosophie, die sich die Hände buchstäblich schmutzig macht. Menschheitsgeschichtlich haben wir den Punkt erreicht, an dem unser Müll überall ist und wir uns allmählich mit ihm selbst vergiften. Zugleich geben wir uns sehr viel Mühe, seine beunruhigende Allgegenwart aus unserem Gesichtsfeld zu verbannen. Es wird daher Zeit, der drastischen Wirklichkeit unserer zumüllenden Lebensform ins Auge zu blicken - und mit Oliver Schlaudt eine müllphilosophische Deutschlandreise zu unternehmen. Wir besuchen unter anderem die unscheinbare, aber rettungslos zerstörte Mülllandschaft von Bitterfeld (wo Marx' Einsicht sinnfällig wird, dass der Müll der «unheilbare Riss» im Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur ist), die BASF-Sondermülldeponie auf einer künstlichen Rheininsel (wo wir erkennen, dass wir in Sachen Müll «Cartesianer» geblieben sind, Bewohner zweier getrennter Welten) und die charmante Wurmkiste im eigenen Zuhause. Es wird klar: Der Müll ist das ungewollte Erbe, das wir nicht ausschlagen können.

Oliver Schlaudt, geboren 1978, ist Professor für Philosophie und Politische Ökonomie an der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz. In seinen Arbeiten beschäftigt er sich mit Fragen der Technik-, Kultur- und Wissenschaftsphilosophie mit einem besonderen Interesse an Ökonomie und kognitiver Archäologie. Zuletzt ist von ihm erschienen: "Das Technozän. Eine Einführung in die evolutionäre Technikphilosophie" (2022) und "Die politischen Zahlen. Über Quantifizierung im Neoliberalismus" (2018).

Swaantje Güntzel, Arctic Yoghurt, 2021

«Am 2. Dezember 2021 habe ich um 12:04 Uhr einen Joghurt gegessen und den Plastikbecher in den Ofotfjord (Norwegen) geworfen.» Foto von Jan Philip Scheibe.

2

Der unheilbare Riss


Kunde von der Neuen Welt


Nun haben wir also das Tor durchschritten, unsere Reise kann beginnen. Wo befinden wir uns? In bekannten Gefilden, in Landschaften, in denen wir unser gesamtes Leben verbracht haben. Nur unser Blick hat sich verändert. Ich nehme diese neue Stellung mit Erleichterung zur Kenntnis. In meiner Jugend war ich begeisterter Leser von Reiseliteratur. Mit Alexander von Humboldt machte ich mich auf die Suche nach der geheimnisvollen Bifurkation des Orinoco in den Tiefen des Amazonas, mit Georg Forster begleitete ich James Cook auf seiner zweiten Weltumsegelung, mit Carsten Niebuhr lernte ich die arabische Welt kennen, Antonio Pigafetta zeigte mir die Gestade des unwirtlichen Feuerlands, Adelbert von Chamisso eröffnete mir den nördlichen Pazifik, mit Hermann von Pückler-Muskau verging mir der Atem beim Anblick der gewaltigen ägyptischen Ruinen. Und vergessen wir nicht die utopische Reiseliteratur! «Eine Weltkarte, auf der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient nicht einmal einen flüchtigen Blick», befand einst Oscar Wilde.[1]

Allein, dass die Epoche dieser Entdecker und Romantiker vorbei ist, zeigte sich schon vor fast einhundert Jahren. Als sich der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss 1934 auf seiner ersten Forschungsreise dem brasilianischen Festland nähert, ist es, noch bevor die Küstenlinie sichtbar wird, ein Geruch, der ihn empfängt, wie ein Versprechen des Exotischen:

Die Neue Welt – dem sich ihr nähernden Schiffsreisenden bietet sie sich zunächst als ein Duft dar, der sich deutlich von dem unterscheidet, was seit der Abreise aus Paris der bloße Klang der Worte erwarten ließ, und der demjenigen, der ihn nicht selbst geatmet hat, schwer zu beschreiben ist. Im ersten Moment scheint es, als würden die Seegerüche der vergangenen Wochen nicht mehr frei strömen; sie stoßen gegen eine unsichtbare Mauer und geben derart die Aufmerksamkeit für Gerüche anderer Art frei, Gerüche, die durch keine frühere Erfahrung beschrieben werden können: Eine Waldbrise im Wechselspiel mit Gewächshausdüften, die Quintessenz des ganzen Pflanzenreichs, deren einzigartige Frische so verdichtet wurde, dass sie sich in einem olfaktorischen Rausch entlädt, die letzte Note eines mächtigen Akkords, der, wie beim Harfenspiel, so intoniert wird, als ob er die nacheinander einsetzenden Fruchtaromen zugleich trennen und verschmelzen wollte.[2]

In der Erwartung der Küste kommt Lévi-Strauss Christoph Kolumbus in den Sinn, der sich vierhundert Jahre vor ihm dem Kontinent näherte. Der Ethnologe zitiert aus Kolumbus’ brieflichen Nachrichten aus der neuen Welt:

Die Bäume waren so hoch, dass sie den Himmel zu berühren schienen, und sie verlieren, wenn ich recht verstanden habe, nie ihre Blätter. Ich habe sie tatsächlich im November so grün und frisch gefunden, wie sie in Spanien im Mai sind. Manche blühten gar, während andere schon Früchte trugen. Und wohin ich mich auch wandte, sang die Nachtigall, begleitet von tausend anderen Vögeln verschiedenster Arten.

Die Realität, die Lévi-Strauss in Brasilien erwartet, ist eine andere. Die mächtigen Küstenurwälder sind einer ärmlichen Sekundärbewaldung gewichen, die capoeira. Das Hinterland findet er weitgehend verwüstet vor. Wie ein Buschfeuer hat sich eine Raubwirtschaft – getrieben vom Hunger nach Gold, Zucker und Kaffee – durch die Landschaft gefressen und zerstörte Gebiete zurückgelassen, die der Erosion anheimgegeben wurden. Aus dem alten Europa bringt Lévi-Strauss zwei Erwartungen mit: einerseits den Traum einer unberührten Natur und andererseits die wirkliche Erfahrung einer Landschaft, die im Zuge einer jahrhundertelangen Kultivierung zu einem harmonischen Gleichgewicht gefunden hat – wie in Frankreich vor der Industrialisierung der Landwirtschaft. Die Realität des amerikanischen Kontinents fügt sich diesen Erwartungen nicht:

Für den europäischen Reisenden ist diese Landschaft, die in keine seiner traditionellen Kategorien passt, ein Schock. […] Im bewohnten Amerika […] haben wir nur die Wahl zwischen einer Natur, die so schonungslos zugerichtet wurde, dass sie eher zu einer Freiluftfabrik als zu einer Landschaft geworden ist (ich denke an die Zuckerrohrfelder in der Karibik und die Maisfelder im Corn Belt), und einer anderen – wie die, die ich gerade betrachte –, die vom Menschen lange genug in Beschlag genommen wurde, um ihm Zeit zu geben, sie zu verwüsten, aber nicht lange genug, um sie durch ein langsames und beständiges Zusammenleben in den Rang einer Landschaft erhoben zu haben. […] Ödland, groß wie eine Provinz, vom Mensch einst für kurze Zeit besessen, dann ist er weitergezogen. Er hinterließ ein zerschundenes Relief, das vom Wirrwarr seiner Spuren durchzogen ist. Und auf diesen Schlachtfeldern, auf denen er sich einige Jahrzehnte lang mit einem unbekannten Boden abmühte, wächst nun langsam wieder eine monotone Vegetation heran, in einer Unordnung, die umso trügerischer ist, als sie unter der Maske einer falschen Unschuld die Erinnerung und die Gestalt der Kämpfe bewahrt.[3]

Das Schicksal der Landschaft spiegelt dasjenige seiner indigenen Bewohner. Ihre Anzahl ist stark dezimiert, die pockennarbigen Gesichter der versprengten Überlebenden zeugen von dem durchlebten Leid. Man weiß heute, dass die Eroberung der Neuen Welt nicht einfach mit punktueller Gewalt, sondern einem echten Genozid einherging – sicherlich durch unwissentlich eingeschleppte Krankheiten, aber auch durch gezielte Infektion und Exzesse kriegerischer Gewalt. Etwa 60 Millionen Menschen lebten schätzungsweise auf den beiden amerikanischen Kontinenten zum Zeitpunkt des ersten Kontakts mit den Europäern. Bald darauf sollten es 90 % weniger sein. Das Nachwachsen der Wälder infolge des Zusammenbruchs der südamerikanischen Landwirtschaft ließ die globale atmosphärische CO2-Konzentration 1610 auf ein historisches Minimum sinken, das sich noch heute in Eisbohrkernen nachweisen lässt und bisweilen als geologischer Marker für den offiziellen Beginn des Anthropozäns vorgeschlagen wurde.[4] Auf der Antilleninsel Hispaniola – heute Haiti und Dominikanische Republik –, die zu den Entdeckungen von Kolumbus’ erster Reise von 1492 gehört, sollen von einer Bevölkerung von ursprünglich etwa einer Million Menschen nach fünfzig Jahren nur «ein paar hundert traumatisierte Individuen» übrig gewesen sein.[5] Diese Menschen haben die Apokalypse erlebt, die indes nur der Auftakt einer heute noch andauernden Leidensgeschichte sein sollte. Eine freundliche Nuance in der dunklen Geschichte sei am Rande erwähnt: Der schwarze Freiheitskämpfer Jean-Pierre Boyer bot 1818 als haitianischer Präsident keinem anderen als dem Abbé Grégoire den Posten des Bischofs von Port-au-Prince an, was dieser aber – hochbetagt – ablehnte. Aber echte Geschichten gehen nicht gut aus. Schon 1802 hatte Napoléon die Sklaverei wieder legalisiert, und Haiti versinkt heute in Chaos und Gewalt.

«Traurige Tropen» überschrieb Claude Lévi-Strauss seinen Reisebericht folgerichtig. Es ist damit klar: Die Reisen der vergangenen Jahrhunderte bieten uns kein Modell. Es hat keinen Sinn, sie zu wiederholen, da sie uns nicht in die Fremde führen, sondern nur zu den Spuren unserer eigenen Untaten, dem «Kulturerbe», wie wir es seit B. verstehen. Schlimmer noch, wir könnten diese Reisen heute nurmehr als Touristen antreten. Schon in der Reihe von Alexander von Humboldt zu dem keine zwanzig Jahre jüngeren Hermann von Pückler-Muskau ist der schleichende Übergang von der Reise zum Tourismus spürbar. Aber: «Der Tourist ist kein Reisender», wie der französische Philosoph des Urbanismus Thierry Paquot einst festhielt.[6] Bei der organisierten Reise wird peinlich darauf geachtet, dass die gesuchte Begegnung mit dem Anderen vermieden wird. Diese Kritik ist nicht neu. Das Reisen hatte sich kaum im Massentourismus demokratisiert, als die Literaten bereits eine Salve der Kritik abfeuerten. 1958 schon, frisch im Wirtschaftswunder, formulierte Hans Magnus Enzensberger in dem schönen Essay «Vergebliche Brandung der Ferne» seine Theorie des Tourismus:

[Die Wurzeln des modernen Tourismus] liegen in der englischen und...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2024
Reihe/Serie Beck Paperback
Illustrationen Swaantje Güntzel
Zusatzinfo mit 6 Abbildungen
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Staat / Verwaltung
Schlagworte Abfall • Abfallmanagement • Abwasserkanal • Allgegenwart • Anthropozän • gefährliche Abfälle • Gutes Leben • Müll • Müllentsorgung • Müllregime • Oliver Schlaudt • Philosophie • Sauberkeit • Untertagedeponie • Würde
ISBN-10 3-406-81465-4 / 3406814654
ISBN-13 978-3-406-81465-5 / 9783406814655
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