Nichtideale Normativität (eBook)

Ein neuer Blick auf Kants politische Philosophie

(Autor)

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2014 | 1., Originalausgabe
356 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73067-6 (ISBN)

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Nichtideale Normativität - Christoph Horn
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Das politische Denken Kants wird zu oberflächlich gedeutet, wenn man es - wie in der vorherrschenden »moralischen Interpretation« - einfach als Fortsetzung seiner Ethik der 1780er Jahre auffasst. Die bisherige Interpretation kann nicht erklären, warum Kant darin zentrale Moralitätsmerkmale wie das der intrinsischen Motivation oder das eines strikten Universalisierungstests aufgibt. In seiner politischen Philosophie fehlen so viele Charakteristika von Moralität, dass man sie weit besser als Ausdruck einer eigenständigen Form von nichtidealer Normativität auf der Basis der Rechtsidee begreift. Christoph Horn diskutiert Kants ebenso faszinierenden wie problematischen Versuch, eine ausschließlich deontologische Form von politischer Normativität zu entwickeln, ohne dabei auf eine Gütertheorie zurückgreifen zu können.

Studium von Philosophie, Griechisch und Theologie in Freiburg, M&uuml;nchen und Paris; Promotion 1993 in M&uuml;nchen: Habilitation 1999 in T&uuml;bingen. 2000-2001 Professor f&uuml;r Philosophie an der Universit&auml;t Gie&szlig;en. Seit 2001 Professor f&uuml;r Antike und Praktische Philosophie in Bonn. 2003-2004: Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.<br /> Funktionen: Herausgeber Archiv f&uuml;r Geschichte der Philosophie (mit W. Bartuschat, Hamburg, und Christia Mercer, New York); Gesch&auml;ftsf&uuml;hrer der Gesellschaft f&uuml;r antike Philosophie e.V. (GANPH); Direktoriumsmitglied des Instituts f&uuml;r Wissenschaft und Ethik e.V., Bonn; Mitherausgeber der Augustinus-Werkausgabe

672. Menschenrechte und die Grundlagen politischer Normativität


Bisher ergab sich ein ambivalentes Bild von den Vorzügen und Nachteilen der Abhängigkeits- und der Trennungsthese. Einerseits scheint der Kategorische Imperativ für Kant irgendwie die Quelle rechtlicher Normativität zu bilden. Andererseits sahen wir, dass Kant seine Philosophie von Recht und Staat keineswegs auf die Idee der Moralität stützt, nämlich nicht auf die KI-Prozedur und ebenso wenig auf das Prinzip der Autonomie. Er adressiert seine politisch-rechtliche Normativität gleichsam nicht an den homo noumenon, das innere moralische Bewusstsein des Individuums, zumindest nicht direkt, wie noch deutlicher werden wird. Ein wichtiger Beleg hierfür ist, dass Kant im Grunde alle bestehenden Rechtsordnungen für legitim erklärt; jedenfalls räumt er kein Recht auf zivilen Ungehorsam, Widerstand oder Revolution ein. Aber auch unabhängig davon beschreibt er die Normativität des Rechts weitgehend anders als die der Moral. Was den Menschen als Staatsbürger zu Loyalität verpflichtet, ist nicht innere Einsicht, sondern äußerer Zwang. Als Staatsbürger untersteht man einem Typ von Pflichten, die weder der Autonomie entspringen noch durch ein Testverfahren auf ihre Legitimität hin überprüft werden können.[1] Kant misst dem Prinzip der Staatsräson einen bedenklich hohen Stellenwert bei; er vertritt eine Variante von politischem Loyalismus, die geradezu obrigkeitsstaatlich anmutet. Dass dies so ist, wird konstrastiv am Bild des ethischen Gemeinwesens deutlich, das als eine am Moralprinzip orientierte quasipolitische Institution konzipiert wird.

Meine These, dass sich Kants rechtlich-politisches Denken nicht auf ein rechtsmoralisches Fundament stützt, lässt so weit aber noch viele Fragen offen. Um überzeugend zu sein, muss sie durch weitere Analysen untermauert werden. Im vorliegenden Kapitel werde ich dies mit Blick auf drei Themen tun. Ich wende mich zuerst der Frage zu, ob man bei Kant eine Konzeption der Menschenrechte 68(in unserem modernen Wortsinn) finden kann (Kap. 2.1). Es wird sich zeigen, dass er davon weit entfernt ist, auch wenn viele Interpreten ihn anders einordnen. Sodann betrachte ich mehrere moralisch fragwürdige Positionen, die in Kants politischem Denken vorkommen oder sich aus ihm ergeben (Kap. 2.2). Sie spielen hier insoweit eine Rolle, als sie Einblicke in Kants Grundpositionen erlauben. Und schließlich beschäftige ich mich mit dem Begriff der Würde oder Menschenwürde bei Kant. Auch »Würde« wird von Kant überraschenderweise anders gebraucht, als viele es erwarten. Im Zusammenhang damit muss ich auch in Augenschein nehmen, wie seine Axiologie aussieht, das heißt, wie sich Kant das Auftreten bzw. die Entstehung von Werten und Gütern vorstellt (Kap. 2.3).

2.1 Menschenrechte bei Kant?


Kants praktische Philosophie gilt vielen Interpreten als Meilenstein in der Geschichte der Menschenrechtstheorie.[2] Man nimmt allzu leicht an, Kant habe aus seiner Moralitätskonzeption die Idee moralischer Grundrechte für jedes Individuum abgeleitet. Denn wer wie Kant moralischer Universalist ist, scheint auch im politischen Denken einen menschenrechtlichen Universalismus vertreten zu müssen. Um zu zeigen, warum dies falsch ist, muss ich zunächst meinen Gebrauch des Ausdrucks »Menschenrechte« erläutern: Unter Menschenrechten verstehe ich, dem heutigen Sprachgebrauch folgend, eine bestimmte Klasse subjektiver Individualrechte; mit ihnen werden unbedingte Ansprüche formuliert, die allen Menschen gleichermaßen und einfach als Menschen zustehen sollen, also unabhängig von Geschlecht, Religion, Nationalität, Beruf usw. Sie sind unantastbar und unveräußerlich (vgl. Pollmann u. a. 2012). Durch ihre Auflistung und ihre praktische Implementation will man sicherstellen, dass bestimmte Grundinteressen jedes Menschen möglichst überall und möglichst in vollem Umfang gewährleistet sind. Jede staatliche Institution (und ebenso jedes andere menschliche Individuum) muss jedem Menschen die betreffenden Rechte einräumen, vielleicht sogar eine aktive Leistung dazu er69bringen. Jeder Mensch kann sie gegenüber jeder Institution und gegenüber jedem Individuum geltend machen. Häufig beschränkt man den Begriff von Menschenrechten auf das Handeln staatlicher Akteure, weil die ältere Theoriedebatte sich am Fehlverhalten politisch-rechtlicher Institutionen und ihrer Repräsentanten gegenüber den Bürgern entzündete. Dagegen verwende ich den Ausdruck in breiterer Form, nämlich synonym mit dem Ausdruck »moralische Rechte«. In dieser Gebrauchsweise impliziert er, dass individuelle Akteure ebenso wie staatliche Institutionen Menschenrechte respektieren, einhalten und fördern oder aber missachten, verletzen und destruieren können.

Welche Rechte man zu den Menschenrechten zu zählen hat, ist allerdings politisch wie philosophisch umstritten. Besonders seit dem 18. Jahrhundert werden Menschenrechtskataloge formuliert; diese können unterschiedlich defensiv oder offensiv ausfallen. Eine aktuelle Maximalvariante würde vielleicht folgende sieben Typen von Menschenrechten einschließen: (1) Die gegen den Staat gerichteten Abwehrrechte der liberalen Tradition, (2) Schutzrechte, durch welche das Individuum gegen Übergriffe anderer Individuen geschützt wird, (3) politische Teilhaberechte, (4) die sozialen, ein Existenzminimum sichernden Rechte, (5) Verfahrensrechte, die sich auf die reale Durchsetzbarkeit der Punkte (1-4) beziehen, (6) Rechte auf Unterstützung der individuellen Persönlichkeitsentfaltung und (7) kulturelle Rechte.[3]

Kennt Kant Rechte dieses Typs – zumindest diejenigen der weitgehend unumstrittenen Kategorie (1)? Schon Isaiah Berlin hat daran gezweifelt, während die Mehrzahl der Kantinterpreten dies bis heute bejaht.[4] Zur Klärung dieser Frage genügt es auch hier, einige der begrifflichen Aspekte von Menschenrechten hervorzuheben und nach Äquivalenten bei Kant Ausschau zu halten. Ich betrachte im Folgenden die drei Momente (a) Universalismus, (b) kategorischer Vorrang und (c) Besitzpersistenz. Ohne diese drei Merkmale kann von einer Menschenrechtskonzeption keine Rede sein, und bei Kant findet sich streng genommen keines von ihnen.

70(a) Universalismus: Menschenrechte besitzen eine überkulturelle und omnitemporale normative Geltung, sämtliche Kulturen und Epochen sind an sie gebunden. Alle Menschen sind gleichermaßen ihre Träger, und alle Menschen (und alle institutionellen Akteure) müssen sie bei allen Menschen respektieren. Anders als im Fall von Bürgerrechten, deren Geltung sich auf staatliche Territorien beschränkt und nur die Personen betrifft, die sich in ihnen aufhalten, ist die Perspektive der Menschenrechte räumlich und zeitlich unbeschränkt. (b) Kategorischer Vorrang: Menschenrechte gelten ihrer normativen Bedeutung nach als nicht abwägbar und lassen sich nicht übertrumpfen; sie sind unverhandelbar und dürfen nicht gegen andere Güter verrechnet werden. Die Wahrung und Achtung der Menschenrechte darf nicht gegen ökonomische, politische, militärische, wissenschaftliche Interessen oder ähnliches abgewogen werden; diese Rechte können allenfalls aus Gründen der politischen Stabilität und der Rechtssicherung eingeschränkt werden. (c) Besitzpersistenz: Mit dem Begriff von Menschenrechten ist der Anspruch verbunden, sie seien für jeden Menschen permanent in Geltung. Ihre Träger besitzen sie unerwerbbar (»angeboren«) und unverlierbar (»unverwirkbar«). Üblicherweise spricht man auch von einer Unantastbarkeit oder Unveräußerlichkeit der Menschenrechte.

Formuliert Kant irgendwo, wenn auch vielleicht nur ansatzweise, ein Recht im Sinn von legitimen moralischen Ansprüchen? Kennt er subjektive Rechte von Individuen, die universell, kategorisch gültig und unveräußerlich sind? Folgende Passage könnte uns zunächst optimistisch stimmen (ZeF VIII.380,27-37):

Die wahre Politik kann also keinen Schritt thun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben […]. Das Recht der Menschen muß heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten. Man kann hier nicht halbieren und das Mittelding eines pragmatisch-bedingten Rechts (zwischen Recht und Nutzen) aussinnen, sondern alle Politik muß ihre Kniee vor dem erstern beugen, kann aber dafür hoffen, obzwar langsam, zu der Stufe zu gelangen, wo sie beharrlich glänzen wird.

Zweifellos wird hier die Moralorientierung gegenüber der Machtpolitik priorisiert; dahinter steckt eine Vorrangkonzeption, deren genaue Bedeutung – ein personaler Bezug auf den Gesetzgeber – wir erst später aufklären können (unten S. 270 f.). Die Politik 71wird unter die Maßgabe des »Rechts des Menschen« gestellt; eine pragmatische Relativierung dieses Rechts sei moralisch unzulässig. Das Missliche ist jedoch, dass Kants hier verwendeter Ausdruck »Recht der Menschen« mit unseren Menschenrechten wenig zu tun hat. Kant legt die Politik lediglich auf die Achtung des Rechts fest, meint aber mit dem Recht des Menschen einfach das Bestehen einer Rechtsordnung, in der die äußeren Beziehungen zwischen Menschen regelförmig und zwangsbewehrt geordnet sind. Was er hingegen nicht im Sinn hat, ist eine Liste moralischer Rechte, die jedem Individuum von staatlichen (und nichtstaatlichen) Akteuren unbedingt eingeräumt werden müssen.

Bei einer genaueren Durchsicht der einschlägigen Textstellen nach den Kriterien (a-c) ergibt sich rasch, dass die These, Kant sei einer der zentralen Wegbereiter der Menschenrechtstradition, unhaltbar...

Erscheint lt. Verlag 17.2.2014
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Immanuel • Kant • Kant, Immanuel • Normativität • Politische Philosophie • STW 2074 • STW2074 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2074
ISBN-10 3-518-73067-3 / 3518730673
ISBN-13 978-3-518-73067-6 / 9783518730676
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