Erst das Land -  Bernhard Vogel

Erst das Land (eBook)

Mein Leben als Politiker in West und Ost
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2024 | 1. Auflage
560 Seiten
Verlag Herder GmbH
978-3-451-83284-0 (ISBN)
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Bernhard Vogel repräsentiert wie kein anderer die Bundesrepublik und seine Partei, die CDU. Er übte das Amt des Ministerpräsidenten als bislang Einziger in zwei Bundesländern, in Rheinland-Pfalz und in Thüringen, aus, mehr als 23 Jahre, so lange wie niemand sonst. Er verkörpert ein politisches Engagement, das sich als Dienst am Gemeinwohl versteht. In diesem Buch erinnert er sich an seine Kindheit und Jugend und die Zeit des Studiums. Vor allem aber beschreibt er seinen Werdegang in der Politik in West und Ost, die Begegnungen mit vielen Personen der Zeitgeschichte und die wichtigsten Wegmarken der bundesrepublikanischen Geschichte. Ein Zeitzeugenbericht von eminenter Bedeutung. 

Bernhard Vogel, Prof. Dr., war Kultusminister und Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Ministerpräsident von Thüringen und Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken sowie Mitglied des Bundesvorstands der CDU. Zudem war er lange Jahre Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Bernhard Vogel, Prof. Dr., war Kultusminister und Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Ministerpräsident von Thüringen und Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken sowie Mitglied des Bundesvorstands der CDU. Zudem war er lange Jahre Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Kapitel II:
Von Erhard zu Kiesinger (1965–1967)


Bundestagsabgeordneter


Auf die Idee, in der Pfalz, in Rheinland-Pfalz, für den Bundestag zu kandidieren, war ich nicht gekommen. 1964 kamen Betriebsräte aus der BASF und anderen Ludwigshafener und Mannheimer Großbetrieben, die mich von meiner Tätigkeit im Heinrich-Pesch-Haus her kannten, zu mir. Sie sagten sinngemäß: Wir brauchen Sie! In der Pfalz wird ein neuer, zusätzlicher Wahlkreis Neustadt-Speyer eingerichtet. Wir suchen einen Kandidaten. Ob ich bereit sei, in diesem neu gebildeten Wahlkreis zu kandidieren? Man müsse allerdings noch Helmut Kohl fragen, zu der Zeit Fraktionsvorsitzender im rheinland-pfälzischen Landtag und Bezirksvorsitzender der CDU der Pfalz. Kohl kannte mich ja aus unserer gemeinsamen Studienzeit in Heidelberg und stimmte zu.

Als ich mich zu dieser Kandidatur bereiterklärte, dachte ich – reichlich blauäugig, wie ich heute weiß –, vier Jahre politische Praxis könnten eigentlich nicht schaden und mit dann 36 Jahren könne man sich ja anschließend immer noch habilitieren. Aus den geplanten vier Jahren in Bonn sollten dann allerdings nur reichlich anderthalb Jahre werden, weil mich im Frühjahr 1967 Helmut Kohl aufforderte, Kultusminister in Rheinland-Pfalz zu werden und in das Kabinett Peter Altmeiers einzutreten. Wer schlägt schon mit 34 Jahren ein solches Angebot aus? Endgültig Abschied von der Wissenschaft habe ich eigentlich erst genommen, als ich 1976 Ministerpräsident in Mainz wurde.

Bis 1974 habe ich mich nie selbst um ein politisches Amt beworben, sondern bin stets aufgefordert worden, zu kandidieren und eine neue Aufgabe zu übernehmen. Zur ersten Schlacht, in der ich mit Leidenschaft um ein politisches Amt gekämpft habe, kam es, als 1974 die Nachfolge von Helmut Kohl als Landesvorsitzender der CDU von Rheinland-Pfalz anstand. Jedem war klar, dass damit zugleich die Vorentscheidung auch um seine mögliche Nachfolge im Amt des Ministerpräsidenten fiel. Dennoch schrieb mir ein Onkel, ein bodenständiger Miesbacher Amtsrichter, noch zu meinem 50. Geburtstag – 1982 –, als ich bereits seit sechs Jahren Ministerpräsident war, ob ich nicht doch lieber einen richtigen Beruf anstreben und an die Universität zurückkehren wolle.

Am 21. März 1965 nominierten mich die Delegierten der beiden Landkreise und der beiden kreisfreien Städte Neustadt und Speyer in einer stürmischen Versammlung mit 44 zu 33 Stimmen zum Bundestagskandidaten. Helmut Kohl leitete die Sitzung und unterband energisch den Versuch von Unterstützern meines aus Neustadt stammenden Gegenkandidaten, unter Hinweis auf meinen sozialdemokratischen Bruder – seit 1960 Oberbürgermeister von München – meine christlich-demokratische Loyalität infrage zu stellen.

Nach der Nominierung ging es für mich, den in der Pfalz niemand kannte und der die Pfalz nicht kannte, in einem langen und intensiven Wahlkampf vor allem darum, mit Land und Leuten vertraut zu werden, das Weintrinken zu lernen und mich gegen die populäre, überall bekannte und allgemein nur »Unser Luis« genannte sozialdemokratische Abgeordnete Luise Herklotz durchzusetzen, die schon seit 1956 dem Bundestag angehörte und zuvor Mitglied des Landtags von Rheinland-Pfalz gewesen war. Im Gegensatz zu mir war sie durch einen aussichtsreichen Platz auf der Landesliste ihrer Partei abgesichert.

Wahlbroschüre Bundestagswahlkampf 1965.

Dass ich erfolgreich war, verdanke ich vor allem Ludwig Erhard. Er war knapp zwei Jahre vor der Bundestagswahl zum Bundeskanzler gewählt worden und stand im Zenit seiner Popularität. Einen sonnendurchfluteten Herbsttag lang begleitete er mich entlang der Weinstraße von Rathausplatz zu Rathausplatz. Die örtlichen Weinprinzessinnen reichten ihm große Weinpokale, denen er kräftig zusprach. Sein freundlicher Schlusssatz – »Wenn zwei Männer sich so lange kennen, können sie füreinander zeugen!« – ging ihm von Mal zu Mal leichter von der Zunge. Auch viele andere prominente Unionspolitiker unterstützten mich, so die Ministerpräsidenten Kurt Georg Kiesinger (Baden-Württemberg) und Alfons Goppel (Bayern) sowie der Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag, Rainer Barzel.

Ludwig Erhard bestand die Bundestagswahlen 1965 mit Bravour. Sein Sieg über Willy Brandt, damals noch Regierender Bürgermeister von Berlin, war eindeutig. Mit 47,6 Prozent der Zweitstimmen erreichte die Union fast die absolute Mehrheit. Ich selbst wurde in meinem Wahlkreis mit gut 48 Prozent der Erststimmen gewählt und übersiedelte folglich in die Pfalz, nach Speyer. Das Telegramm des Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel »Herzlichen Glückwunsch, Herr Kollege« machte mich stolz. Jetzt wollte ich umsetzen, was ich monatelang meinen Wählern versprochen hatte.

Die erste Fraktionssitzung in Bonn am auf die Wahl folgenden Donnerstag wurde allerdings zur ersten Enttäuschung. Nach wenigen Minuten war sie mit der Bemerkung, alles Weitere hänge von den Koalitionsverhandlungen ab, man werde später wieder von sich hören lassen, beendet.

Dank des guten Wahlergebnisses wurden 47 junge Abgeordnete von CDU und CSU in den Bundestag gewählt. 25 Prozent seiner Mitglieder gehörten ihm zu ersten Mal an. Unter ihnen Manfred Abelein, Heiner Geißler, Alo Hauser, Heinrich Köppler, Walther Leisler Kiep, Carl Otto Lenz und Manfred Wörner. Egon Klepsch, seit 1963 Bundesvorsitzender der Jungen Union, versammelte uns zu regelmäßigen Strategiegesprächen, um gemeinsame Initiativen abzustimmen, zu koordinieren und in der Fraktion zur Geltung zu bringen. In Anspielung auf die von deutschen Literaten 1947 gegründete Gruppe nannten wir uns selbstbewusst »Gruppe 47«.

Alterspräsident war der inzwischen 89-jährige Konrad Adenauer. Der Bundesrat hatte ihm Büroräume zur Verfügung gestellt. Dorthin lud er regelmäßig junge Abgeordnete zum Tee. Bei einem dieser Teegespräche 1966 bat ich ihn unter Verweis auf mein jugendliches Alter um seinen Rat, wen ich zum Nachfolger Ludwig Erhards wählen solle. Ich bekam zur Antwort: »Herr Vogel, Sie glauben, Sie seien jung. Das will ich Ihnen sagen: Die Jungen von heute sind wesentlich jünger als Sie.« Adenauer sollte recht behalten. Zwei Jahre später schallte uns von den »68ern« entgegen: »Trau keinem über dreißig …«

Im Bundestag wurde ich – auf ausdrücklichen Wunsch von Helmut Kohl – Mitglied im Ausschuss für Sozialpolitik und auf eigenen Entschluss stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Wissenschaft, Kulturpolitik und Publizistik. Dort leitete der geistreiche, eigenwillige, nicht immer präsente Gießener Arzt Berthold Martin die Verhandlungen, und dort fand ich mein eigentliches Aufgabenfeld. Außerdem wurde ich als einer der jüngsten Abgeordneten dem Petitionsausschuss zugeteilt. Hunderte von Petitionen mussten bearbeitet werden – im Rückblick eine gute, lehrreiche Schule. Im Plenarsaal war mein Platz in der letzten Reihe, unter der Besuchertribüne.

Kanzlerkrise und Große Koalition


Sehr bald beherrschte die heraufziehende Kanzlerkrise die Diskussion. Ludwig Erhard hatte Schwierigkeiten, seinen Wahlsieg zu nutzen, ja er verspielte ihn schon in den ersten Monaten. Er war ein überaus erfolgreicher Wirtschaftsminister gewesen. Als Bundeskanzler wirkte er unentschlossen und unsicher, zögernd und entscheidungsschwach. Die Spannungen in der Koalition mit der FDP wuchsen, die Unruhe in der CDU/CSU-Fraktion nahm zu. Der in einer stürmischen Fraktionssitzung auf Vorschlag Rainer Barzels gefasste Beschluss »Ludwig Erhard ist und bleibt Bundeskanzler!« war nur Beleg für unsere Hilflosigkeit.

Aber wer sollte Erhard nachfolgen? Der Fraktionsvorsitzende Rainer Barzel, Bundesaußenminister Gerhard Schröder, Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier? In einer Bundesvorstandssitzung ließ Helmut Kohl zum ersten Mal den Namen Kurt Georg Kiesinger fallen. Ich meinerseits unterrichtete Kohl jeden Abend telefonisch vom Fortgang der Beratungen in Bonn.

Meine Zuneigung galt zunächst Eugen Gerstenmaier, dem Mann des Widerstandes gegen Adolf Hitler, dem Mitglied des Kreisauer Kreises, der mit knapper Not dem Todesurteil durch den Volksgerichtshof unter Roland Freisler entkommen war. Ein schwieriger, sehr selbstbewusster, oft zum Widerspruch neigender evangelischer Theologe. Als die Kandidatur Kiesingers immer mehr in den Mittelpunkt der Diskussion rückte, verzichtete Gerstenmaier, selbst Baden-Württemberger, zugunsten des baden-württembergischen Ministerpräsidenten.

In der entscheidenden Abstimmung votierte ich für Kurt Georg Kiesinger. Er war mir schon während meiner Schulzeit als glänzender Debattenredner in den großen deutschland- und außenpolitischen Redeschlachten aufgefallen. Ich kannte ihn auch aus meiner Zeit als CDU-Kreisvorsitzender in Heidelberg: omnipräsent, überzeugend argumentierend, sehr freundlich, gleichwohl auf Distanz bedacht, immer ein wenig unnahbar. Ich hielt ihn für einen sachkundigen, wortmächtigen Mann. »König Silberzunge« war sein Spitzname. Willy Brandt nannte ihn in seinen Memoiren den »europäischen Reichsschwaben«.

Immer wieder ist Kiesinger vorgeworfen worden, dass er – wie übrigens auch sein Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) – der NSDAP angehört hatte. Er war schon vor dem Reichstagsbrand Mitglied geworden und hatte sich 1940 durch seine Zuweisung zur »Kulturabteilung Rundfunk« im Außenministerium seiner Einberufung entzogen. Günter Grass sprach – in einem offenen Brief an Willy Brandt – vom »Obernazi« und meinte, mit der von ihm gebildeten...

Erscheint lt. Verlag 11.3.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Autobiografie • Bundesrepublik Deutschland • Deutsche Geschichte • Ministerpräsident • Politiker • Rheinland-Pfalz • Thüringen • Wiedervereinigung
ISBN-10 3-451-83284-4 / 3451832844
ISBN-13 978-3-451-83284-0 / 9783451832840
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