Familientreffen
Ich kenne die Männer an der Bar. Die Frau auch. Das sind die angesehensten Köche der USA. Die meisten sind Franzosen, aber alle haben sie hier Karriere gemacht. Jeder von ihnen ist ein Vorbild für mich, und das gilt auch für aufstrebende Postenchefs, Möchtegernköche und Kochlehrlinge im ganzen Land. Sie wundern sich offensichtlich, dass sie einander hier begegnen, dass sie ihre Kollegen auf den nur begrenzt zur Verfügung stehenden Barhockern aufgereiht vor sich sehen. Wie ich wurden sie von einem vertrauenswürdigen Freund unter einem Vorwand zu dieser nächtlichen Zusammenkunft in das berühmte New Yorker Restaurant gelockt. Wie ich wurden auch sie gebeten, Stillschweigen zu bewahren. Selbstverständlich werden wir alle kein Wort darüber verlieren.
Na ja … zumindest die meisten von uns.
Meine Reise-, Schriftsteller- und Fernsehkarriere, besser gesagt: Nichtkarriere, ist noch ganz jung, und mir wird immer noch abwechselnd heiß und kalt, weil ich mit diesen Leuten in einem Raum bin. Ich bemühe mich zu verbergen, dass es mir angesichts der Stars hier die Sprache verschlägt, dass ich vor freudiger Erwartung bebe. Ich bestelle mir einen Drink und bemerke, dass die Worte »Wodka auf Eis« seltsam piepsig klingen, die Hände sind feucht. Ich weiß nur so viel, dass ein Freund mich Samstagabend anrief, fragte, was ich am Montag vorhabe, und mich mit seinem markanten französischen Akzent beschwor: »Töö-nie … Du musst kommen. Das wird etwas ganz Besonderes.«
Nachdem ich das Tagesgeschäft in meinem einstigen Restaurant Les Halles abgegeben habe und mich – nach mehreren Lesetouren und vielen Reisen – (wieder) mit der bürgerlichen Gesellschaft vertraut gemacht habe, besitze ich mittlerweile mehrere Anzüge. Jetzt trage ich einen solchen und bin, wie ich meine, für den Besuch eines so renommierten Restaurants angemessen gekleidet. Der Hemdkragen ist zu eng und schneidet mir in den Nacken. Die Krawatte ist, wie mir jetzt schmerzlich bewusst wird, alles andere als perfekt gebunden. Als ich wie verabredet um dreiundzwanzig Uhr hier eintraf, hatten viele Gäste das Restaurant bereits verlassen. Man führte mich diskret hierher, in eine kleine, schwach beleuchtete Bar, die auch als Wartebereich dient. Ich war erleichtert, dass der Oberkellner nicht verächtlich die Nase rümpfte.
Ich kann es kaum fassen, X zu sehen, von dem ich gewöhnlich in demselben gedämpften und ehrfürchtigen Ton spreche wie vom Dalai Lama – ein Mann, der auf einer niedrigeren Frequenz zu schwingen scheint als andere, bodenständigere Küchenchefs. Überrascht stelle ich fest, dass er genauso aufgeregt ist wie ich und auf seinem Gesicht unübersehbar eine erwartungsvolle Spannung liegt. Er ist umgeben von der zweiten und dritte Welle von Franzosen der alten Garde, außerdem einigen jungen Rebellen und ein paar amerikanischen Küchenchefs, die es in ihrem Restaurant zu etwas gebracht haben. Und da sitzt die Patin der französischen Küchenmafia … Das ist das verdammte Who’s who der Spitzenküche im heutigen Amerika. Wenn dieses Gebäude jetzt in die Luft flöge? Die gesamte Haute Cuisine läge in Schutt und Asche. Ming Tsai müsste künftig bei jeder Folge der Kochsendung Top Chef als Gastrichter auftreten, und Bobby Flay und Mario Batali würden Vegas unter sich aufteilen.
Die letzten Gäste verlassen nach einem opulenten Mahl das Restaurant. Einigen von ihnen fallen die an der Bar versammelten, verschwörerisch flüsternden Köche auf, deren Gesichter ihnen irgendwie bekannt vorkommen. Die große Flügeltür zum privaten Bankettsaal öffnet sich, und wir werden hineingebeten.
Da steht eine lange Tafel mit dreizehn Gedecken. An der Wand biegt sich eine Anrichte unter dem Gewicht von Fleisch- und Wurstspezialitäten. So etwas hat – auch in dieser Gruppe – schon lange keiner mehr gesehen: klassische Wildterrinen nach Carême, Galantinen aus verschiedenen Geflügelarten, Pasteten, Rillettes. In der Mitte thront eine Wildschweinpastete en croûte mit bernsteinfarbenem Aspik zwischen Farce und Teigmantel. Ober schenken Wein aus. Wir bedienen uns selbst.
Einer nach dem anderen nehmen wir Platz. Am anderen Ende des Raums öffnet sich eine Tür, und unser Gastgeber erscheint.
Es ist wie die Szene aus Der Pate, als Marlon Brando die Vertreter der fünf Familien begrüßt. Fast schon warte ich auf die Worte: »Ich möchte Don Passini dafür danken, dass er mir geholfen hat, diese Konferenz hier heute zu organisieren. Danken möchte ich auch den Häuptern der anderen Familien aus New York und New Jersey, Carmen Cronio aus der Bronx und Brooklyn, Philip Tattaglia, Staten Island.«
Ein veritables Mafiatreffen. Mittlerweile spricht sich am Tisch herum, was man uns servieren wird. Die Spannung wächst. Es folgen eine Begrüßung und ein Dankeschön an denjenigen, der die Spezialität, die uns dargeboten werden wird, beschafft und ins Land geschmuggelt hat.
Zunächst folgen Ravioli in Brühe (herrlich) und ein Hasenpfeffer. Doch die Gänge driften an uns vorüber wie im Traum.
Die Teller werden abgeräumt. Die Ober in Livree, bemüht, ein Lächeln zu unterdrücken, legen neue Gedecke auf. Unser Gastgeber erhebt sich, und ein Servierwagen mit dreizehn schmiedeeisernen Kokotten wird hereingefahren. In jeder liegt ein winziger, brutzelnder Vogel, mit Kopf, Schnabel und Füßen, die Innereien noch im winzigen runden Bäuchlein. Wir lehnen uns alle vor und drehen den Kopf in dieselbe Richtung, als unser Gastgeber die Vögelchen mit Armagnac übergießt – und anzündet. Das ist es. Der Grand Slam der raren und verbotenen Gerichte. Wenn diese Zusammenkunft namhafter Küchenchefs schon kein Anlass ist, mich zu kneifen! So ein Mahl bekommt man, verdammt noch mal, nur einmal im Leben – die meisten Sterblichen, auch in Frankreich, gar nicht! Was wir jetzt essen werden, ist dort wie hier verboten: Fettammer.
Der Ortolan, auch Gartenammer genannt, Emberiza hortulana, ist ein finkenähnliches Vögelchen, das in Europa und Teilen Asiens heimisch ist und auf dem Schwarzmarkt bis zu 250 Dollar kostet. Die Art steht unter Schutz, weil ihre Nistmöglichkeiten schwinden und der Lebensraum schrumpft. Fang und Verkauf sind deshalb überall verboten. Der Ortolan ist außerdem ein Klassiker der französischen Landküche, eine Delikatesse wahrscheinlich schon seit der Römerzeit. Der französische Präsident François Mitterrand soll, so eine berühmte Anekdote, auf seinem Sterbebett als letzte Mahlzeit eine Fettammer zu sich genommen haben; der schriftliche Bericht darüber zählt bis heute zu den opulentesten Werken der Küchenpornografie, die je zu Papier gebracht wurden. Die meisten Menschen empfänden es wohl als abstoßend: ein sterbenskranker alter Mann, der darum ringt, ein Häppchen brühheißer Vogelinnereien und Knöchelchen hinunterzuschlucken. Aber Küchenchefs macht das an, diese Beschreibung des Heiligen Grals, des einen Gerichts, das man einmal im Leben zu sich nehmen muss, wenn man guten Gewissens von sich behaupten will, ein wahrer Feinschmecker zu sein, ein Weltbürger, ein Spitzenkoch mit Gaumenerfahrung – einer, der weit herumgekommen ist.
Es heißt, die Vögel werden in Netzen gefangen und durch das Ausstechen der Augen geblendet, um die Nahrungsaufnahme zu stimulieren. Ich bezweifle nicht, dass in früheren Zeiten tatsächlich so verfahren wurde. Angesichts der europäischen Arbeitsgesetze rechnet sich die Beschäftigung eines Augenausstechers heute jedoch nicht mehr. Eine einfache Decke oder ein Handtuch über dem Käfig ersetzt daher diese grausame Methode und sorgt dafür, dass sich der Ortolan unablässig mit Feigen, Hirse und Hafer vollfrisst.
Wenn die Vögel lange genug gemästet wurden und sich die erwünschte Fettschicht angefressen haben, werden sie getötet, gerupft und gebraten. Oft hört man, die Vögel würden gar in Armagnac ertränkt, doch auch das ist ein Mythos. Ein kleiner Spritzer von dem Zeug, und der nunmehr krankhaft fettleibige Ortolan kippt um und ist mausetot.
Die Flammen in den Kokotten verlöschen, und die Fettammern werden serviert, jedem Gast eine. Wir warten einen Moment, bis das Brutzeln von Fleisch und Fett ein wenig nachlässt. Wir sehen uns schmunzelnd an, legen uns dann alle gleichzeitig die Serviette über den Kopf – verbergen das Gesicht vor Gott – und nehmen den Vogel behutsam am heißen Schädel, wobei wir uns die Fingerspitzen verbrennen. Dann schieben wir ihn uns mit den Füßen voran in den Mund – nur Kopf und Schnabel schauen noch heraus.
Es ist dunkel unter dem Tuch, und in dem Bemühen, das Geschmackserlebnis voll und ganz auszukosten, habe ich unwillkürlich die Augen geschlossen. Erst kommt die Haut und dann das Fett. Es ist heiß. So heiß, dass ich kurz und panisch ein- und ausatme wie ein Trompeter bei einem schnellen Musikstück, rund um den Ortolan puste, ihn schwungvoll mit der Zunge im Mund herumschiebe, damit ich mich nicht verbrenne. Ich horche, ob um mich herum das Knacken brechender Knochen ertönt, höre die anderen aber nur atmen, unter einem Dutzend Leinenservietten gedämpft die Luft durch die Zähne ziehen. Ich rieche einen Rest Armagnac, einen Dunst von Fettpartikeln, der in der Luft liegt, eine berauschende, köstliche Mixtur. Die Zeit verrinnt. Sekunden? Momente? Ich weiß es nicht. Irgendwo in der Nähe höre ich das erste Knacken winziger Knochen und beschließe, es auch zu wagen. Mit einem feuchten Knirschen schließe ich langsam die Backenzähne um den Brustkorb des Vogels und werde belohnt von einem brühheißen Schwall von Fett und Innereien, der sich in meine Kehle ergießt. Mir wird schwindelig, ich atme in kurzen, kontrollierten...