Karl Marx im 21. Jahrhundert

Bilanz und Perspektiven
Buch | Hardcover
596 Seiten
2020
Campus (Verlag)
978-3-593-51179-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Karl Marx im 21. Jahrhundert -
39,00 inkl. MwSt
  • Renommierte Historiker und Sozialwissenschaftler ziehen Bilanz
  • Perspektiven für die Krisen des 21. Jahrhunderts

    • Angesichts der gegenwärtigen Krisen des Kapitalismus hat das Werk von Karl Marx wieder an Aktualität gewonnen. Dieses Buch wirft grundlegende Fragen einer undogmatischen und kritischen Beschäftigung mit Marx und seinem Denken auf und stellt sie zur Diskussion. Es präsentiert internationale Forschungsansätze nach dem Scheitern der sich auf Marx berufenden politischen Regime. Aufgrund einer konsequenten Historisierung wird deutlich: Marx war durch seine Herkunft, seine Lebensstationen, sein Denken und seine politischen Aktivitäten fest im westeuropäischen Radikalismus verwurzelt. Vor diesem Hintergrund untersuchen die Beiträge auch die Tragfähigkeit von Marx zur Analyse gesellschaftlicher Konstellationen im 21. Jahrhundert. Die Aufsätze behandeln exemplarisch Marx‘ ideengeschichtliche Kontexte, sein Engagement für die entstehende internationale Arbeiterbewegung, seine Kapitalismusanalyse, seine Kanonisierung und Nachwirkung.

      Mit Beiträgen von Heinz Bude, Axel Honneth, Jürgen Kocka, Gerd Koenen, Christina Morina, Wilfried Nippel, Jonathan Sperber, Gareth Stedman Jones u.a.

Martin Endreß ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Trier.

Christian Jansen ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier.

Inhalt
Einleitung 9
Martin Endreß und Christian Jansen
I. Ideengeschichtliche Kontexte
Einführung 23
Christian Jansen und Martin Endreß
When would Capitalism End?
Karl Marx’s Changing View of History 27
Gareth Stedman Jones
Karl Marx zwischen 19. und 20. Jahrhundert 49
Jonathan Sperber
Marx, Mensch und Tier. Über die Evolution
vom Junghegelianer zum Sozialisten und Kommunisten 69
Warren Breckman
Die Voraussetzung aller Kritik. Karl Marx über Religion 81
Thomas M. Schmidt
II. Marx und die Arbeiterbewegung
Einführung 103
Christian Jansen und Martin Endreß
Karl Marx und die Arbeiterbewegung seiner Zeit 107
Wolfgang Schieder
Karl Marx in den europäischen Revolutionen von 1848/49 119
Jürgen Herres
Dialektische Endlosspirale.
Karl Marx in der Internationalen Arbeiterassoziation (1864–1872) 155
Detlev Mares
Karl Marx und die »Diktatur des Proletariats«.
Eine historische Kontextualisierung 181
Gerd Koenen
Marx und die Industrialisierung.
Probleme und Perspektiven der Wirtschaftsgeschichte nach Marx 213
Morten Reitmayer
III. Recht und Rechtssystem
Einführung 231
Martin Endreß und Christian Jansen
Individuelle Freiheit und Recht bei Marx 233
Andreas Arndt
Das Staatsproblem des Kommunismus
bei Marx, Engels und im Marxismus 243
Hannes Giessler Furlan
Zur Aktualität von Marx’ Verständnis der Menschenrechte
und der Idee eines pluralen Universalismus 263
Andrea Maihofer
IV. Kapitalismusanalyse und Kapitalismuskritik
Einführung 285
Martin Endreß und Christian Jansen
Wirtschaft oder Gesellschaft?
Größe und Grenzen von Marx’ Theorie des Kapitalismus 289
Axel Honneth
Karl Marx und die Geschichte des Kapitalismus heute 323
Jürgen Kocka
Die Macht der Politik und der Gegensatz der Klassen.
Karl Marx’ Kritik der kapitalistischen Gesellschaft und ihre Aktualität 343
Thomas Petersen
Geld, Gewinn, Gewalt.
Die Aktualität von Karl Marx nach der Finanzkrise 367
Christoph Henning
Das Elend der Klassentheorie. Das erfundene Konzept der
»Klasse an sich« und der Entwurf einer Klassentheorie
in Marx’ »Elend der Philosophie« 387
Michael Vester
V. Nach Marx
Einführung 435
Christian Jansen und Martin Endreß
Marxismus und Sozialismus.
Von den Anfängen einer politischen Selbstermächtigungsbewegung 439
Christina Morina
Die Arbeit an einem Gesamtwerk von Marx.
Engels, Bernstein, Kautsky 457
Wilfried Nippel
»Erziehung der Erzieher«. Dogmatische und antiautoritäre
Marx-Lektüren nach der »Wendung aufs Subjekt« um 1968 511
Meike Sophia Baader
Globaler Kapitalismus und Klassenbildung.
Zur Debatte um die Entstehung einer transnationalen
Kapitalistenklasse – mit Marx und über ihn hinaus 545
Karin Fischer
Marx: Zur gebrochenen Aktualität eines Klassikers 569
Heinz Bude
Autorinnen und Autoren 589

»Zweifellos hält der Band ob seiner Vielfalt für nahezu jede Interessentin lehrreiche und bedenkenswerte Beiträge bereit und erlaubt zudem einen faszinierenden Blick auf den aktuellen Stand der Marxforschung und belohnt seine Leserinnen und Leser nicht zuletzt mit zahlreichen Blicken auf einen Marx jenseits der etablierten Klischees.« Tim Rojek, H-Soz-Kult, 11.03.2021»Was bedeuten die Ideen von Karl Marx [...] heutzutage für eine kritische Wissenschaft? Dieser Frage sind der Soziologe Martin Endreß und der Historiker Christian Jansen in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband nachgegangen. [...] Der Sammelband [...] bietet einen anregenden Einblick in die vielen Facetten der Diskussion über Karl Marx. Es bleibt zu hoffen, dass die eine oder andere Anregung in der geschichtswissenschaftlichen Debatte aufgegriffen wird und die Auseinandersetzung mit Marx sich zukünftig nicht auf die Jubiläen beschränkt.« Sebastian Voigt, Sehepunkte, 15.06.2023

»Zweifellos hält der Band ob seiner Vielfalt für nahezu jede Interessentin lehrreiche und bedenkenswerte Beiträge bereit und erlaubt zudem einen faszinierenden Blick auf den aktuellen Stand der Marxforschung und belohnt seine Leserinnen und Leser nicht zuletzt mit zahlreichen Blicken auf einen Marx jenseits der etablierten Klischees.« Tim Rojek, H-Soz-Kult, 11.03.2021

Einleitung Martin Endreß / Christian Jansen Karl Marx war von seiner Herkunft und den spezifischen Umständen in Trier im Vormärz tief geprägt, obwohl er dieser Heimat, sobald er konnte, den Rücken kehrte und selten gut über sie sprach. Dieser berühmteste Trierer erhitzt die Gemüter weiterhin – heute womöglich noch ausgeprägter als in den Jahrzehnten vor 1989. Denn die Folgen von Glasnost und Perestroika haben mit dem Scheitern vieler politischer Systeme, die sich auf Marx bezogen, nicht nur die Beschäftigung mit ihm auf eine neue Ebene gehoben und viele neue Fragen aufgeworfen. Sondern der Umbruch in der DDR und der Sowjetunion ermöglichte auch die Vollendung der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA ), der historisch-kritischen Edition der Werke, Manuskripte und Briefe der beiden Meisterdenker, in einer zuvor ungeahnten Offenheit, d.h. jenseits der zuvor bestimmenden Orthodoxie und ihres Dogmatismus. Die Materialbasis, die die MEGA – eines der größten Editionsvorhaben aller Zeiten – zur Verfügung stellt, bedeutet fast einen Zwang für Historiker*innen und Sozialwissenschaftler*innen, sich erneut, ›historisch-kritisch‹ mit Marx zu befassen. Denn nach den posthumen Veröffentlichungen von Engels und der Entdeckung der »Pariser Manuskripte« Anfang der 1930er Jahre erhalten Marx’ Werke und seine intellektuellen Anstrengungen, die Welt und vor allem den Kapitalismus zu verstehen, nunmehr eine dritte Chance. Und erstmals lassen sie sich uneingeschränkt durch Scheuklappen, Tabus und Denkverbote durchdringen und in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit würdigen. Die Jahre des Dogmatisierens und Verschüttens und der mit seinem Werk verbundenen quasi religiösen Heilserwartungen hatten erhebliche Aspekte seines Denkens verborgen. In diesem Sinne hat der ›wahre‹ Marx seine Zukunft womöglich sogar noch vor sich. Marx’ Augenmerk galt den ebenso fundamentalen wie augenfälligen Veränderungen des gesamten sozialen Lebens seiner Zeit, also (1) der bis dahin für unvorstellbar gehaltenen Umwälzung der Produktionsverhältnisse und der politischen Ökonomie durch den ›Kapitalismus‹, (2) den damit einhergehenden Veränderungen dessen, was ›Arbeit‹ für menschliche Lebensgestaltung bedeutete, zugespitzt im Begriff der ›Entfremdung‹, (3) der sich verschärfenden ›sozialen Frage‹, (4) der Entfaltung der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ und (5) der sich in diesen Prozessen artikulierenden, alle gesellschaftlichen Bereiche erfassenden Dynamik. Diese – hier nur grob umrissene – Gesamtkonstellation unterzog Marx einer systematischen Analyse und Kritik. Karl Marx gehört aufgrund seiner umfassenden Analyse der politischen, sozialen und ökonomischen Umwälzungen seiner Zeit neben Max Weber, Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Karl Mannheim zu jenen deutschsprachigen Klassikern, deren Werke sozialwissenschaftliche, politische und historische Forschungen und gesellschaftliche Diskussionen international nachhaltig geprägt haben und auch im 21. Jahrhundert weiter prägen. Marx’ Name steht zugleich für jene Generation von Gelehrten, für die eine Beschäftigung mit sozialen, politischen und historischen Fragestellungen ohne philosophische Fundierung undenkbar war. Marx begründet das Paradigma einer »kritischen« Analyse und Theorie, das – neben den insbesondere von Max Weber und der frühen Kritischen Theorie geführten Debatten – die theoretische Landschaft in den Sozial- und Geschichtswissenschaften seit Ende der 1960er in Europa, in den USA und auch darüber hinaus entscheidend prägt. Marx’ Geschichts- und Kapitaltheorie beeinflussten sowohl das methodische als auch das theoretische Verständnis sozialer Wirklichkeit in zahlreichen wissenschaftlichen Diskussionen nachhaltig. Dabei steht der Name »Marx« im wissenschaftlichen wie im politischen und alltäglichen Sprachgebrauch als Chiffre für das äußerst erfolg- und einflussreiche Freundes-, Autoren- und Politikerpaar Karl Marx und Friedrich Engels. In vielen ihrer inzwischen großenteils historisch-kritisch ediert vorliegenden Texte lässt sich nicht präzise unterscheiden, welcher Gedanke oder welcher Satz von wem stammt. Auch andere, vor allem Marx’ Frauen – seine Ehefrau Jenny und seine drei Töchter Laura, Jenny und Ellinor – haben an dem »Marx«, der heute gelesen, studiert und auf die Gegenwart angewendet werden kann, mitgewirkt: als Diskussionspartner *innen, als Kritiker*innen, als diejenigen, die Karl Marx’ notorisch unleserliche Handschrift durch Abschrift lesbar machten, und die als Editor*innen und Redakteur*innen nach seinem Tod sein Werk nachfolgenden Generationen überlieferten und erschlossen. Der vorliegende Band ist hervorgegangen aus der internationalen Konferenz »Karl Marx 1818–2018. Konstellationen, Transformationen und Perspektiven«, die vom 23. bis 25. Mai 2018 anlässlich seines 200. Geburts-tages in Marx’ Geburtsstadt stattfand, sowie aus einer ebenfalls in Trier veranstalteten zweisemestrigen Ringvorlesung vom April bis Dezember 2018. Ausgewählte Beiträge beider Veranstaltungen in zumeist stark überarbeiteten und erweiterten Fassungen sollen in diesem Band wichtige internationale, mit dem Werk von Karl Marx verbundene Forschungsstränge zusammenführen. Leitend ist das Anliegen, die theoretische und empirische Relevanz seines Paradigmas einer kritischen dialektischen Analyse der politischen Ökonomie, also des Zusammenhangs und der Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik zu diskutieren. Nahezu alle Beiträge lassen sich dabei vom Gedanken einer konsequenten Historisierung der Arbeiten von Marx mit dem Ziel einer Untersuchung ihrer systematischen Tragfähigkeit für aktuelle Analysen gesellschaftlicher Konstellationen leiten. Namhafte Vertreter*innen und kritische Kenner*innen von Marx’ Oeuvre und Denken wurden gebeten, die theoretischen und empirischen Möglichkeiten und Anschlussfelder zu skizzieren, die Marx’ Denken für ein Verständnis der gegenwärtigen sozialen Wirklichkeit bereithält, die durch Stichworte wie »Globalität«, »Multikulturalität«, »Migration« und »Individualisierung« geprägt ist. Die Beiträge zeigen, wie weit die Rezeption und Weiterentwicklung von Marx’ Denken »nach dem Marxismus«, nach dem Scheitern der politischen Regime, die sich in Europa auf Marx beriefen, und nach dem weltweiten Rückgang seiner Inanspruchnahme durch Staaten und Regierung gediehen sind. Die wesentlichen Instrumente einer postmarxistischen Beschäftigung mit Marx als Person, als bis heute äußerst einflussreicher Denker und aktiver Politiker sind: Historisierung, Kontextualisierung, Entmystifizierung und eine nicht dogmatische Rezeption des gesamten, vielfach in Bruchstücken vorliegenden und keineswegs widerspruchsfreien Oeuvre. Zugleich hat Marx’ Denken – vor allem in popularisierten Versatzstücken und Einzel-aspekten, aber durchaus auch in anspruchsvollen, wissenschaftlichen und systematischen Aneignungen (Lesezirkel, Arbeitskreise) – angesichts der gegenwärtigen ›Krise des Kapitalismus‹ wieder große Aktualität gewonnen und Hoffnungen geweckt, aus Marx’ und Engels’ Werk Handlungsanleitungen und Lösungen für aktuelle Probleme ableiten zu können. Zentrale Intention des Trierer Kongresses war es, einen wesentlichen Beitrag zur Historisierung von Marx zu leisten. Die Herangehensweise aller Beiträge ist in erster Linie geschichtswissenschaftlich und sozialwissenschaftlich. Historische, systematische und gesellschaftspolitische Fragestellungen stehen im Mittelpunkt. Philosophische und ökonomische Perspektiven, die für das Verständnis und die kritische Aneignung und Weiterentwicklung von Marx’ Werk ebenfalls zentral sind, spielen demgegenüber eine untergeordnete Rolle. Vor allem den historischen Beiträgen geht es um die Überwindung des Marx-Bildes des 20. Jahrhunderts und des Kalten Krieges. In Moskau und Ostberlin saßen im ›kurzen 20. Jahrhundert‹ (1917–1990) die Redaktionen, die Marx’ Werke edierten und einer international breiten Leserschaft zugänglich machten. Zu den wenigen Dingen, die politisch interessierte Besucher aus dem Westen für ihre zwangsumgetauschte »Ost-Mark« in der DDR regelmäßig kaufen konnten, gehörten die Blauen Bände der MEW (Marx-Engels-Werke), die seit »68« die Bücherregale vieler Akademiker zierten und weiterhin zieren, auch wenn sie mit den Jahren immer weiter nach oben rückten, aus dem Blick gerieten und verstaubten. Die Vereinnahmung des Philosophen, Ökonomen und Politikers Marx durch den »realsozialistischen« Ostblock und bis heute durch China hat im Westen zu Berührungsängsten und unreflektierter Ablehnung geführt. Die maßgeblich von »östlichen« Marxisten wie Lenin, Stalin, Mao und vielen anderen geprägte Lesart von Marx und seinem Denken im 20. Jahrhundert lösten Person und Oeuvre aus den biografischen und historischen Kontexten, dogmatisierten seine ›Politik‹ und sein Werk und adaptierten beides an die Revolutionen und den »realen Sozialismus« (sehr unterschiedlicher Spielart) in Russland, Osteuropa, China und Ostasien. Hingegen sieht die neuere historische wie sozialwissenschaftliche Forschung Marx (und ebenso Engels, dessen 200. Geburtstag 2020 in Wuppertal begangen wird) in der Tradition eines genuin »westlichen« – französischen, belgischen, rheinischen – Radikalismus und Republikanismus. Marx wurde in Trier, im äußersten Westen Preußens, nahe der französischen Grenze geboren und wuchs dort bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr auf. Die Stadt und ihr Umland waren im frühen 19. Jahrhundert geprägt durch ihre fast 25jährige Zugehörigkeit zum revolutionierten Frankreich (1792–1814) und durch ökonomische, gesellschaftliche und politische Reformen in dieser Epoche: von der Beseitigung der bischöflich-klerikalen Herrschaft und einer partiellen Säkularisierung über Gewerbefreiheit, Abschaffung des Adels und Judenemanzipation bis zur Einführung von Schwurgerichten und des Code Napoléon. Obwohl die neuen preußischen Herren nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft zusagten, diese Errungenschaften nicht anzutasten, fremdelten die Trierer mit Preußen, erachteten sich – wie die gesamte Rheinprovinz – als zivilisierter und fühlten sich zum Westen gehörig: Brüssel, Paris und England waren nah, Berlin fern und Ostelbien der Inbegriff von Rückständigkeit. Marx’ Leben spielte sich – bis auf seine Studentenjahre in Berlin (1836–1841) – im Westen Europas ab, der damals durch Aufklärung, industrielle Revolution, bürgerliche Gesellschaft, sich entwickelnden Kapitalismus und Revolution bestimmt war (mit den Stationen Trier–Köln–Paris–Brüssel und schließlich 34 Jahre lang in London). Hegels Geschichtsphilosophie, die Marx als Student begeisterte, bestätigte seine im äußersten Westen Preußens geprägte Weltsicht: Der Osten stand für Reaktion und Rückschritt, der Westen hingegen für Fortschritt und Zivilisation. Die erste Revolution, die Marx bewusst erlebte, ging 1830 wie 1789 von Frankreich aus und brachte Aufbruchsstimmung und einen Liberalisierungsschub in die deutschen Staaten. Die »Heilige Allianz« der östlichen Großmächte beendete diese Hoffnungen aber nach wenigen Jahren. 1840 schien der neue König Friedrich Wilhelm IV. die ersehnte Liberalisierung Preußens jedoch einzuleiten. In Köln gründeten liberale Bürger 1842 eine Zeitung, die diese Tendenzen stärken und dem Westen mehr Einfluss in Preußen bringen sollte. Marx wurde ihr Redakteur und analysierte als liberaler Republikaner die Probleme an der Mosel, in der Rheinprovinz und in Preußen. Als die »Rheinische Zeitung« 1843 an der Zensur scheiterte und sich auch andere Hoffnungen zerschlugen, radikalisierte sich Marx und ging nach Paris, das als Hort der Revolution zum Sammelbecken der deutschen radikalen Opposition geworden war. Hier lernte Marx die neuesten Ideen und Utopien des westlichen Radikalismus, die ihn bereits seit längerem faszinierten, aus der Nähe kennen: Sozialismus und Kommunismus. 1848 und noch 1871 hoffte Marx, dass Paris und die radikale französische Linke die proletarische Revolution initiieren würden. Marx und Engels wurden in eine gesellschaftliche Transformationsphase hineingeboren, und zwar sowohl in sozialer, ökonomischer und politischer als auch in sprachlicher Hinsicht: die Geburt der modernen politischen und sozialen Sprache wird seit dem epochalen, von Reinhart Koselleck zusammen mit Otto Brunner und Werner Conze initiierten begriffsgeschichtlichen Forschungsprojekt, das in das Lexikon »Geschichtliche Grundbegriffe« mündete, in der Zeit zwischen 1750 und 1850 verortet. In dieser Perspektive kommen Marx und Engels sowohl in ihrer Einbettung in diese Phase als auch als Akteure einer neuen kritischen Begriffsbildung in den Blick: eine Verflechtung, die sich in besonderem Maße in den zu Lebzeiten nicht veröffentlichten, später aber äußerst wirkmächtigen Manuskriptkonvoluten beobachten lässt, die als »Ökonomisch-philosophische (oder: Pariser) Manuskripte« (vom Sommer 1844) und »Die deutsche Ideologie« (von November 1845 bis Mitte 1846) posthum publiziert wurden. Von dem in der laufenden Marx-Engels-Gesamtausgabe auf 114 (Doppel-) Bände angelegten Gesamtwerk war bei Marx’ Tod 1883 nur ein Bruchteil unter seinem oder Engels’ Namen publiziert. Friedrich Engels edierte in den folgenden zwölf Jahren bis zu seinem Tod einige weitere Hauptwerke. Aber gerade die frühen Schriften, die für eine undogmatische Lesart und für die Genese des Denkens der beiden Schulhäupter des »Marxismus« und des »historischen Materialismus« besonders aufschlussreich sind, wurden erst im 20. Jahrhundert publiziert: Zunächst in Bruchstücken, dann im Rahmen der von David Rjasanow organisierten ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe erschienen die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte« im Jahr 1932 in einer zweibändigen Edition von Siegfried Landshut und die unter dem Titel »Die deutsche Ideologie« kompilierten Texte erstmals 1933. Beide Publikationen machten Furore, in den 1960er Jahren wurden sie in der DDR nachgedruckt (als Bd. 3 und 40 der MEW) und veränderten das Marx-Bild, auch im Zusammenhang der weltweiten 68er-Bewegungen nachhaltig. Auf dem Trierer Marx-Kongress zeigte der Bearbeiter der Neuedition der Deutschen Ideologie als Band I/5 der MEGA, Ulrich Pagel, dem faszinierten Auditorium, dass Vieles in der Erstedition falsch kompiliert war, und dass es sich bei diesem Textkonvolut nicht um ein Buchmanuskript, sondern um ein Zeitschriftenprojekt handelte. Die nun erstmals mögliche Gesamtschau auf seine publizierten wie unpubliziert gebliebenen Texte zeigt Marx als einen vom europäischen Westen und seinen Traditionen, der französischen Aufklärung, der angel-sächsischen politischen Ökonomie, der Philosophie Hegels und dem Links-Hegelianismus, aber auch von den antiken Philosophen und jüdischem Denken geprägten Analytiker. Zugleich war er vielfältig in die politischen Entwicklungen seiner Zeit in Frankreich, Belgien und Großbritannien involviert – als Journalist, als politischer Aktivist sowohl in der Revolution 1848/49 als auch in den 1860er Jahren in der (Ersten) Internationale, aber auch als ›Strippenzieher‹ und boshafter Kommentator im Hintergrund. Wie alle Frühsozialisten und Kommunisten seiner Zeit sah Marx nur in den entwickelten, bürgerlich-kapitalistischen Staaten des Westens – vor allem in Großbritannien und Frankreich (nur vor der Revolution 1848/49 auch in Deutschland) – eine Chance für die von ihm prophezeite und in der Internationale und seiner Publizistik aktiv vorbereitete proletarische Revolution.

Erscheinungsdatum
Co-Autor Andreas Arndt, Meike Sophia Baader, Warren G. Breckman, Heinz Bude, Martin Endreß, Karin Fischer, Hannes Giessler Furlan, Christoph Henning, Jürgen Herres, Axel Honneth, Christian Jansen, Jürgen Kocka, Gerd Koenen, Andrea Maihofer, Detlev Mares, Christina Morina, Wilfried Nippel, Thomas Petersen, Morten Reitmayer, Wolfgang Schieder, Thomas M. Schmidt, Jonathan Sperber, Gareth Stedman Jones, Michael Vester
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 152 x 219 mm
Gewicht 819 g
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Politische Theorie
Schlagworte 19. Jahrhundert • Denker • Entmystifizierung • Folgen • Geschichte • Geschichtswissenschaft • Historisierung • Ideengeschichte • Kapitalismus • Karl Marx • Kontextualisierung • Marxismus • Nationalökonomie • Nationalökonomie • Philosoph • Rezeption • Soziologie • Soziologische Theorie • Trier
ISBN-10 3-593-51179-7 / 3593511797
ISBN-13 978-3-593-51179-5 / 9783593511795
Zustand Neuware
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