Café Marx -  Philipp Lenhard

Café Marx (eBook)

Das Institut für Sozialforschung von den Anfängen bis zur Frankfurter Schule
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
625 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-81357-3 (ISBN)
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Café Marx: So nannten Freunde wie Feinde das Institut für Sozialforschung flapsig. Und tatsächlich liegen die Anfänge der Kritischen Theorie und der Frankfurter Schule in einer Auseinandersetzung mit dem Marxismus. Philipp Lenhard erzählt auf einer breiten Quellengrundlage die Geschichte der Personen, Netzwerke, Ideen und Orte, die das Institut geprägt haben und ihrerseits von ihm geformt wurden. So wird anschaulich greifbar, warum die Frankfurter Schule wie keine zweite die großen intellektuellen Debatten des 20. Jahrhunderts bestimmt hat. Von Anfang an war das 1924 eröffnete Institut für Sozialforschung etwas Besonderes. Seine Wurzeln liegen in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs und auf den Barrikaden der Revolution. Der kommunistische Unternehmersohn Felix Weil ermöglichte die Gründung einer neuartigen Forschungsinstitution, die Arbeiter und Studenten, Politiker und Künstler, Wissenschaftler und Intellektuelle anzog. Besonders war auch, dass das Institut nach 1933 trotz Schließung, Verfolgung und Exil seine Arbeit fortsetzen konnte. In Kalifornien entstanden Schlüsselwerke wie die «Dialektik der Aufklärung». Philipp Lenhard geht der Entstehung der Kritischen Theorie in der amerikanischen Emigration nach und beleuchtet ihre Entwicklung zur Frankfurter Schule in der frühen Bundesrepublik. Das Buch schildert konzis, anschaulich und voller überraschender Erkenntnisse, in welchem historischen Kontext Horkheimer, Adorno, Marcuse, Benjamin und viele andere zu Schlüsseldenkern des 20. Jahrhunderts wurden.

Philipp Lenhard ist DAAD Professor of History and German an der University of California, Berkeley. Zuletzt erschien von ihm "Friedrich Pollock. Die graue Eminenz der Frankfurter Schule" (2019).

Frankfurt am Main, Deutsches Reich, Zeppelinallee 77, Herbst 1915. Geschäftiges Treiben in einer repräsentativen neoklassizistischen Villa in der vornehmen Zeppelinallee auf der Ginnheimer Höhe. In der großzügig geschnittenen und bis in den ersten Stock aufsteigenden offenen Eingangshalle, deren Decke mit goldverzierten Paneelen bedeckt ist und in deren Mitte ein automatisch betriebenes Welte-Mignon-Klavier steht, gehen Menschen auf und ab. Ein Aufzug und eine breite, hölzerne Treppe führen ins Obergeschoss, aber niemand beachtet sie. Die Hauptverkehrsader in diesem Palast beginnt an einer unweit des Eingangsportals liegenden unscheinbaren Tür, die in die Katakomben des Dienstpersonals führt, und verzweigt sich in der Halle hin zu einzelnen Räumen: der Bibliothek, dem Musikzimmer, dem Speisesaal und dem auf den umliegenden Park hinausgehenden Wintergarten. Während das Antlitz der Bibliothek wie stets durch deckenhohe Regale vollgestopft mit dickleibigen Bänden geprägt ist, hat im Musikzimmer jemand den großen Flügel, der sonst dort in der Mitte steht, in eine Ecke gerückt, um Platz zu schaffen. Der lang gezogene Esstisch, «der mit Einlegplatten auf bis zu 36 Gedecke gebracht werden konnte» und normalerweise das Speisezimmer ausfüllt, ist heute nicht zu sehen. Und im Wintergarten fehlen die sonst üblichen Töpfe mit seltenen Blumen; dekorativ ist nur das goldschimmernde, sich in die Wand wölbende Mosaik im hellenistischen Stil. Aus der sich ebenfalls im Erdgeschoss befindlichen Küche dringen Geräusche, aber weder die Köchin noch die beiden Hausmädchen, die allesamt mit im Haus wohnen, sind zu sehen, noch der Diener, der zu besonderen Anlässen als Helfer hinzugezogen wird.[1]

Einige Trennwände sind in den Räumen provisorisch aufgestellt, es ist offensichtlich, dass sie nicht ihrer Bestimmung gemäß genutzt werden. Krankenhausbetten stehen herum, in denen Patienten schlafen, dösen, leiden. Einige sitzen aufrecht, manchen fehlt ein Bein oder ein Arm. Ärzte und Pfleger in weißen Kitteln eilen schnellen Schrittes durch das Haus, in der Hand Klemmbretter, Verbandszeug und Medikamentenfläschchen. Geräusche kreuzen sich in der Luft, Gemurmel und Anweisungen, dann und wann auch Stöhnen und Schmerzgeschrei. Eilig wurde hier auf private Initiative hin ein Lazarett für verwundete Offiziere von der Westfront eingerichtet.[2]

Der am Stock gehende Besitzer des Hauses fährt gelegentlich mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss, um nach dem Rechten zu sehen, hält sich aber ansonsten eher in den oberen Geschossen auf, wo die Familie ihre privaten Gemächer hat. Hermann Weil, 1868 als zehntes von dreizehn Kindern des traditionell-religiösen jüdischen Viehhändlers Josef Weil und seiner Frau Fanny, geb. Götter, in Steinsfurt am Neckar geboren, wird einige Jahre später mit seinem Vermögen das Institut für Sozialforschung stiften. Doch jetzt tobt auf den Schlachtfeldern noch der Krieg. Das Kaiserreich wankt, aber Kaiser Wilhelm II. und seine Generäle glauben fest an den Sieg im imperialen Weltenbrand. Hermann Weil will seinen Teil zu diesem Sieg beitragen und gewährt den kriegsversehrten Helden des Vaterlands in seinem prunkvollen Heim Obdach.

Erst 1913 hatte Weil sich die monumentale Villa von dem renommierten Architekten Alfred Engelhard errichten lassen. Als ein Jahr später der Erste Weltkrieg ausbrach, durchströmten Weil patriotische Gefühle und er sah es als selbstverständlich an, dem Deutschen Reich sein Geld, seine Ressourcen und sein Wissen zur Verfügung zu stellen. Sein Patriotismus stand keineswegs allein da, im Gegenteil, die große Mehrheit der Deutschen war in den ersten Kriegsjahren vaterländisch gestimmt. Besonders war lediglich, dass Weil nicht nur die deutsche, sondern auch die argentinische Staatsbürgerschaft besaß und über zehn Jahre in Argentinien gelebt hatte. Nun war er zurück in seiner alten Heimat und fühlte sich ihr in der Stunde der Not zutiefst verbunden. Zu alt und zu schwach, um selbst seinen Dienst an der Waffe zu leisten, sah er es als seine Pflicht an, deutschen Offizieren aus dem Felde Einlass in sein großzügiges Domizil zu gewähren.

Er war wohlhabend, um nicht zu sagen: steinreich, und willens, sein Vermögen für das Wohl der Allgemeinheit einzusetzen. Sicher nicht ganz uneigennützig, schließlich ging es ihm auch darum, in den Augen seiner Landsleute Anerkennung zu finden, die einen wie ihn – den einfachen Sohn eines Landjuden – von klein auf mit Verachtung gestraft hatten. Den Spöttern von einst hatte er es gezeigt, da war er sich sicher, denn nun war er es, der sich als Gönner zeigen konnte. Die große Bühne jedoch suchte er nie, und auch Rache für erlittenes Unrecht lag ihm gänzlich fern. Seinem Naturell entsprach es eher, als selbstloser und gutmütiger, in der Tiefe seines Herzens bescheiden gebliebener Mitmensch im Hintergrund zu wirken. Er verlangte Anerkennung und Respekt für seine Lebensleistung, nicht für seine gesellschaftliche Stellung.

Zweifellos war diese Lebensleistung enorm. Nachdem Weil als junger Mann eine Kaufmannslehre bei dem Getreidegroßhändler Isidor Weisman in Mannheim absolviert hatte und dort binnen kürzester Zeit im Alter von nur achtzehn Jahren zum Prokuristen aufgestiegen war, ließ er sich 1895 in Buenos Aires nieder, um die dortige Zweigstelle des Unternehmens zu leiten. Ein Jahr später nahm er Rosalia Weisman, die Tochter seines Chefs, zur Frau. Isidor Weisman hatte auf einer orthodoxen Hochzeitszeremonie bestanden, und Hermann Weil, der nicht besonders religiös war, stimmte widerwillig zu. Die Heirat war ein tiefer Einschnitt in seinem Leben, der nicht nur die Gründung einer eigenen Familie nach sich zog, sondern auch die Trennung von seinem Förderer und Lehrmeister. Nun war der Zeitpunkt gekommen, aus dem Schatten seines Mentors zu treten und endlich auf eigenen Füßen zu stehen. Gemeinsam mit seinen Brüdern Samuel und Ferdinand gründete Hermann 1898 in der argentinischen Hauptstadt die Getreidehandelsfirma «Weil Hermanos & Cía».[3]

Im selben Jahr wurde sein Sohn Lucio Felix José Weil geboren, 1901 die Tochter Anita Alicia Weil. Der Aufstieg des Unternehmens vollzog sich unter den Bedingungen der Transportrevolution um die Jahrhundertwende in atemberaubendem Tempo.[4] Im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts waren die ersten transatlantischen Seekabel verlegt worden, die die Kommunikation zwischen Europa und Amerika um ein Vielfaches beschleunigten, die Seewege wurden dank der erfolgreichen Bekämpfung der Piraterie sicherer, und in der Schifffahrttechnik wurden nun deutlich schnellere und tragfähigere Großsegler wie der Windjammer entwickelt. Von alldem profitierte die Firma Weil: Um die Jahrhundertwende hatte Hermann Weil bereits 3000 Mitarbeiter, die nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in den Vereinigten Staaten und in den zahlreichen europäischen Filialen angestellt waren. Die Handelsflotte des Unternehmens zählte sechzig Schiffe. Hermann Weil wurde der weltweit bedeutendste Getreidehändler seiner Zeit.

Unglücklicherweise fiel der Höhepunkt seiner unternehmerischen Karriere mit einer hartnäckigen Syphiliserkrankung zusammen, die ihm zunehmend Kummer bereitete, zumal sie damals als unheilbar galt. Auch seine Frau Rosalia erkrankte schwer, sie hatte der Krebs befallen. So viel Glück hatten die Weils in ihrem Leben gehabt, doch nun schien sich das Blatt zu wenden. Sie beschlossen, nach Deutschland zurückzukehren, um sich dort von den besten Ärzten behandeln zu lassen. Von Frankfurt aus wollte Hermann Weil die europäischen Geschäfte weiterführen, während sein Bruder Samuel in Buenos Aires verblieb.

Dass die Familie ausgerechnet nach Frankfurt umsiedelte, lag aus verschiedenen Gründen nahe: Ein Teil der Verwandtschaft mütterlicherseits lebte bereits hier, eng verwoben mit dem ortsansässigen jüdischen Bürgertum, dessen Gemeinde relativ zur Gesamtbevölkerung gesehen die größte in Deutschland war. Wichtiger aus Sicht des Unternehmers Weil aber war die Tatsache, dass die Stadt in der Mitte Europas zu den wichtigsten Wirtschaftsstandorten im rasant sich modernisierenden Kaiserreich zählte. Frankfurt repräsentierte wie keine andere deutsche Stadt diese industriekapitalistische Moderne: Die Rhein-Main-Region war neben dem Ruhrgebiet, mit dem es über neue und alte Verkehrswege eng verbunden war, das größte industrielle Zentrum...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2024
Zusatzinfo mit 6 Abbildungen
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Technik
Schlagworte 20. Jahrhundert • Adorno • Benjamin • Dialektik der Aufklärung • Emigration • Exil • Forschungsinstitution • Frankfurt • Frankfurter Schule • Horkheimer • Ideengeschichte • Institut für Sozialforschung • Kommunismus • Marcuse • Marxismus • Neomarxismus • Politik • Wissenschaftsgeschichte
ISBN-10 3-406-81357-7 / 3406813577
ISBN-13 978-3-406-81357-3 / 9783406813573
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